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Alkoholabhängige Ärztin„Mein Selbstbewusstsein musste ich mir herbei trinken“

Lesezeit 8 Minuten
Eine gestresste Ärztin stützt sich im Krankenhausflur an einem Handlauf ab.

Ärzte stehen unter sehr hohem Druck und haben viel Verantwortung. Manche ertragen diese Ansprüche nur mit Alkohol und werden süchtig. (Symbolfoto)

Hoher Druck und hohe Ansprüche an sich selbst treiben manche Ärzte in die Alkoholsucht. Eine Betroffene aus der Region erzählt.

Ärzte sollen helfen und heilen und immer das Richtige tun. Es passt nicht zu ihrem Image, dass sie selbst ein Problem haben könnten und mit dieser Verantwortung überfordert sind. Gleichzeitig sind die Arbeitsanforderungen für Mediziner hoch und sie sehen oft schlimme Dinge. Um diesen Druck loszuwerden und abschalten zu können, greifen manche zum Alkohol – und kommen unter Umständen nicht mehr davon los.

Die Bundesärztekammer schätzt, dass sieben bis acht Prozent der deutschen Ärzte mindestens einmal im Leben an einer Suchterkrankung leiden. Behandlungsfehler unter Substanzeinwirkung seien jedoch selten. Weil das Problem immer größer wird, bieten die Landesärztekammern mittlerweile spezielle Behandlungsprogramme für suchtkranke Ärzte an.

Für Jutta Berger (Name geändert) aus der Region Köln ist es kein Wunder, dass gerade Mediziner alkoholabhängig werden. Druck und Verantwortung seien zu hoch, dazu komme das Selbstbild, alles perfekt machen zu wollen. Die 55-jährige Fachärztin für Allgemeinmedizin war selbst alkoholabhängig, lebt seit zwei Jahren trocken und hat jahrzehntelang ein Doppelleben zwischen Job und Sucht geführt. Hier erzählt sie anonym ihre Geschichte.

Doppelleben zwischen Job und Sucht

„Ich bin Fachärztin für Allgemeinmedizin und habe zuletzt in einer Gemeinschaftspraxis gearbeitet. Aktuell arbeite ich nicht. Ärztin bin ich geworden, weil ich mich schon als Kind wahnsinnig für Medizin interessiert habe. Über die Hierarchie und den Druck, den dieser Beruf mit sich bringt, habe ich gar nicht nachgedacht. Hätte ich mal besser. Für den Arztberuf braucht man ein Rückgrat aus Stahl. Das habe ich nicht. Ich bin sehr zart besaitet und nehme mir alles sehr zu Herzen.

Die Verantwortung ist für Ärzte sehr hoch, weil es um Menschenleben geht. Für mich waren zudem die Hierarchie und das patriarchische System ein großes Problem. Um abends abzuschalten, habe ich immer schon getrunken. Ich habe schon als Jugendliche begriffen, dass Alkohol ein euphorisierendes, Angst lösendes und Selbstwert gebendes Mittel ist. Und an Selbstwert hat es mir immer gefehlt.

„Die Neuen wurden ins kalte Wasser geworfen und verheizt“

In meinem Umfeld war Alkohol immer präsent und total normal. Im Studium war ich ganz oben mit dabei beim Trinken. Mir war zwar bewusst, dass es zu viel ist, aber ich tat das immer mit blöden Sprüchen ab. Abgedriftet bin ich erst später. Besonders schlimm wurde es, als ich in einem Krankenhaus den Arzt im Praktikum (AiP) machte. Wir Neuen wurden ins kalte Wasser geworfen und verheizt. Ohne Berufspraxis wurde man in die Notaufnahme gesetzt, ich war total überfordert.

Einmal kam ein sehr dicker Patient mit Bauchschmerzen zu mir. Eine Ultraschall-Untersuchung ist dann Pflicht, aber das hatte ich im Studium nur ein einziges Mal an mir selbst geübt. Ich bat um Unterstützung, aber keiner der erfahrenen Ärzte hatte Zeit. Also musste ich den Ultraschall selbst machen, konnte aber nichts erkennen. Der Mann ist kurz danach wegen einer Gallenblasen-Perforation gestorben. Das war eine schreckliche Erfahrung.

„In der Medizin ist es wie beim Militär. Ein Befehl muss ohne Widerworte ausgeführt werden“

Ein anderes Mal war ich wieder in der Notaufnahme eingesetzt, ein Kollege auf der Intensivstation. Es kam ein Patient mit einer Hirnblutung, der in ein größeres Klinikum gebracht werden sollte. So ein Transport muss von einem Arzt begleitet werden, weil es zu einem Atemstillstand kommen kann und dann sofort intubiert werden muss. Weil ich das noch nicht konnte, sollte der Kollege von der Intensivstation mitfahren und der Oberarzt in Bereitschaft die Intensivstation übernehmen. Der wollte aber nicht kommen, weil er auf seiner Geburtstagsparty war. Er ordnete an, dass ich gefälligst den Transport begleiten sollte, aber ich wollte den Mann nicht auf dem Gewissen haben. Am Ende fuhr der Kollege mit und die Intensivstation blieb in dieser Zeit ohne Arzt. Am nächsten Tag bekam ich eine Abmahnung vom Oberarzt mit den Worten: „In der Medizin ist es wie beim Militär. Wenn Sie einen Befehl erhalten, wird der ausgeführt. Ohne Widerworte.“ Nach einer weiteren Abmahnung kündigte ich schließlich.

Es folgten eine längere Pause, die Ausbildung zum Facharzt und ein Job in einer Hausarztpraxis auf dem Land. Trinken tat ich immer. Mein Kollege sagte mir eines Tages, dass ich morgens immer total fertig aussehe. Betrunken war ich auf der Arbeit zwar nie, aber fast immer verkatert und mit Restalkohol. Und immer mit vielen Fisherman‘s Friend im Mund gegen die Fahne. Später wechselte ich in eine andere Gemeinschaftspraxis. Kollegen und Patienten waren sehr nett, aber die Arbeit sehr anspruchsvoll. Man nimmt viel mit nach Hause und kommt nicht richtig runter. Dann macht man sich einen Wein auf und alles ist weg. Bei mir war das aber nicht nur ein Glas, sondern jeden Abend mindestens eine Flasche.

Kein Genuss, sondern Betäuben

So eine Flasche Wein ging bei mir nach einem schlimmen Tag in 20 Minuten weg. Das hatte überhaupt nichts mit Genuss zu tun, das war Betäuben. Trotzdem achtete ich immer darauf, spätestens um halb 8 den letzten Schluck zu nehmen, um morgens in der Praxis keine Fahne zu haben. Mir ist dort nie ein Fehler wegen des Alkohols passiert – glaube ich jedenfalls.

Zum täglichen Druck kamen die Wechseljahre, Angstattacken und eine Depression. Alkohol war für mich anfangs ein super Angstlöser, doch langfristig wurde alles nur schlimmer. Also trank ich noch mehr und schoss mich an den freien Tagen komplett ab. Irgendwann war die Panik schon direkt nach dem Aufwachen so groß, dass ich zum ersten Mal morgens Wein trank, um wieder ruhiger zu werden. Da lief die Sache endgültig aus dem Ruder. Meine Arbeit schaffte ich nur noch mit Ach und Krach und meldete mich immer häufiger krank.

Mein Mann hatte das natürlich längst mitgekriegt, obwohl ich lange versuchte, heimlich zu trinken. Doch immer wieder hatte ich blaue Flecken, Stürze und Ausfälle. Irgendwann gestand ich ihm und meiner Schwester, dass ich schon morgens trinke. Dank ihnen suchte ich mir therapeutische Hilfe, ging mehrmals in eine Klinik und begann, Antidepressiva zu nehmen. Dass ich süchtig bin, hatte ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht verstanden. Ich dachte, der Alkohol sei eine Begleiterscheinung der Angstattacken, einfach eine Phase, die wieder vorbeigeht. Ich wollte mir das Trinken nicht nehmen lassen. Deshalb fing ich nach den Klinikaufenthalten auch immer direkt wieder an.

„Ich wollte nicht sterben“

Irgendwann kündigte ich auch den letzten Job. Mein Alkoholkonsum lief immer mehr aus dem Ruder. Zudem kam ich mit einem neuen Kollegen nicht klar, weil er in seiner sehr bestimmenden Art meine alten Selbstwertprobleme förderte. Von da an trank ich von morgens bis abends, mir war einfach alles egal. Als ich erneut in eine Klinik kam und die Therapeutin mich wieder heimschicken wollte, weil sie das Gefühl hatte, ich sei gar nicht bereit dazu, aufzuhören, verstand ich endlich, wie krank ich bin. Trotzdem bin ich anschließend noch einmal rückfällig geworden. Erst mein letzter Klinikaufenthalt vor zwei Jahren machte mir klar, dass ich mich entscheiden muss: Entweder ich mache so weiter und sterbe oder ich höre auf. Und ich wollte nicht sterben.

Seit dem 23. September 2021 habe ich nichts mehr getrunken. Leicht ist mir das nicht gefallen. Manchmal habe ich immer noch Sehnsucht nach dem Selbstwertgefühl, das man vom Alkohol anfangs bekommt. Aber mein Verstand weiß, dass es alternativlos ist. Ich will nicht mehr dahin zurück, wo ich war. Momentan geht es mir gut. Ich denke sogar darüber nach, wieder zu arbeiten, allerdings nicht mehr als Ärztin. Ich habe Angst, dass ich dann rückfällig werde. Man muss sehr gefestigt sein, um in diesem Beruf zu arbeiten, ohne sich permanent zu fragen, ob man alles gut und richtig macht. Und das bin ich einfach nicht.

Ich glaube, dass Mediziner besonders anfällig sind für Alkoholsucht, weil sie so unter Druck stehen und die Verantwortung so hoch ist. Die gehört aber nun mal zu diesem Beruf dazu, darauf müsste man die Studenten besser vorbereiten. Außerdem müssen Hierarchien abgebaut und die Arbeitsbedingungen verbessert werden, damit Ärzte nicht mehr tagelang durcharbeiten. Heute ist das offiziell nicht mehr erlaubt, aber ich glaube inoffiziell passiert das nach wie vor. Und dann ist da noch das Prestige, das mit diesem Job einhergeht. Die Patienten erwarten viel und Sie wollen allen gerecht werden. Wenn Sie da nicht von sich aus genug Selbstbewusstsein mitbringen, müssen Sie sich das herbei trinken.“

Hier finden Sie Hilfe und weitere Informationen:

Bernd Thränhardt arbeitete lange als Journalist und Filmproduzent und ist der Bruder des Leichtathleten Carlo Thränhardt. Viele Jahre lang war er alkoholabhängig. Seit 22 Jahren ist er nun trocken und unterstützt heute andere Menschen auf dem Weg aus dem Alkoholismus. In Köln leitet er zwei Selbsthilfegruppen. Wenn Sie die Gruppen besuchen möchten, nehmen Sie bitte vorher per Mail Kontakt auf unter thraenhardt@gmx.net. Weitere Informationen finden Sie hier: www.thraenhardt-suchtberatung.de

Cover des Buches "Ausgesoffen"

Cover des Buches 'Ausgesoffen'

Über seine Zeit im Rausch und den Weg aus der Sucht hat er ein Buch geschrieben: „Ausgesoffen: Mein Weg aus der Sucht“, Rhein-Mosel-Verlag, 244 Seiten, 14,90 Euro.

Interventionsprogramm für abhängigkeitskranke Ärzte der Ärztekammer Nordrhein, Kontakt: Dr. med. Stefan Spittler, 0172/2425122, dr.stefanspittler@t-online.de. www.aekno.de

Blaues Kreuz Köln Piusstraße 101, 50823 Köln, 0221/527979 bkz-koeln@blaues-kreuz.de, www.blaues-kreuz.de

Anonyme Alkoholiker Zentrale Beratung: 08731/32573-0 (täglich von 8 Uhr bis 21 Uhr). Auf der Seite www.anonyme-alkoholiker.de finden Sie eine Karte, auf der die Treffpunkte der Gruppen aufgeführt sind.

Selbsthilfegruppen der Kölner Suchthilfe e.V. , Geschäftsstelle Köln-Pulheim, Am Dörnchesweg 30, 50259 Pulheim, 02234/6806291, info@koelnersuchthilfe.de, www.koelnersuchthilfe.de

Alexianer Köln Kölner Straße 64, 51149 Köln, 02203/3691 10 000, rehasucht@alexianer.de, www.alexianer-koeln.de

Kreuzbund DV Köln e. V. 0221/2722-785, www.kreuzbund-dv-koeln.deSelbsthilfegruppen der Stadt Köln