Schnell noch mal alle treffen!Die zurückgewonnene Freiheit ist ganz schön anstrengend
Köln – Dieser Sommer ist besonders. Viele Menschen sind inzwischen geimpft und gehen wieder befreiter in Restaurants, Bars oder ins Open-Air-Kino. Weil all das in der Pandemie lange nicht möglich war, versuchen wir jetzt, unsere Freizeit ganz besonders zu genießen. Wir wirken zwar fröhlich, schielen aber mit einem Auge sorgenvoll auf den Herbst und fragen uns, wann der Spaß wieder vorbei sein wird. Dieser Schwebezustand führt zu noch mehr Druck, doch jetzt gefälligst den Sommer zu genießen. Bei manchen löst das so viel Stress aus, dass sie sich sogar den Lockdown zurück wünschen.
Vor etwa fünf Jahren bemerkte ich zum ersten Mal, dass der Sommer mich stresst. Zuerst war da nur ein ganz kleiner Stich, kaum spürbar, aber doch da. Der Sommer mit seinen hellen, warmen Tagen und kurzen Nächten setzte mich auf einmal unter Druck. Es gab ja so viel zu erleben und zu tun, ständig hatte man das Gefühl, die besondere Jahreszeit nicht angemessen auszukosten. Nach der Schule konnte man mit den Kindern nicht einfach nach Hause gehen, sondern fühlte sich verpflichtet, mindestens noch in den Park, am besten aber bis spät abends an den See zu fahren. Arbeit, Haushalt, Hobbies, Ruhe? Brauchen wir gerade nicht. Das innere Antreiben hörte auch abends nicht auf. Es ist doch bis 23 Uhr hell und warm! Da kannst du doch nicht im Haus vor der Glotze sitzen oder schlafen, sondern musst gefälligst was Tolles erleben! Kühlen Rosé unter Bäumen trinken, irgendwo auf der Dachterrasse grillen oder tanzen gehen.
Was für einen Stress ich mir da selbst machte, merkte ich erst, als der Herbst langsam anbrach. Als ich plötzlich froh darüber war, dass es nun wieder früher dunkel wurde. Als es nachmittags manchmal regnete und ich einfach mit den Kindern nach der Schule nach Hause ging. Als sie selbst irgendwann sagten, wie schön sie es fänden, einfach gemütlich in ihrem Zimmer zu sein und nichts mehr unternehmen zu müssen. Mit dieser für mich neuen Erkenntnis ging ich schließlich entspannt in den September und Oktober.
Zwischen „Endlich geht es wieder!“ und „Wer weiß, wie lange noch.“
Dieses Jahr ist alles anders. Ich kann nicht gelassen auf den Herbst blicken, weil ich Angst habe, dass da wieder gar nichts mehr geht. Dass die Schulen wieder schließen, dass wir nicht mehr schwimmen oder ins Kino gehen können, mein Sport wieder ausfällt. Ich habe Angst, dass wir alle im Herbst wieder zuhause eingeschlossen sind, weil Corona unser Leben erneut fest im Griff hat. Und mein Eindruck ist: Das geht nicht nur mir so.
Wir befinden uns gerade in einem seltsamen Schwebezustand zwischen „Endlich geht es wieder!“ und „Wer weiß, wie lange noch?“ Die Restaurants und Bars sind voll, und die Gäste wirken auf mich zugleich gelöst und getrieben. Ich sehe, wie sie versuchen, den kostbaren Moment der Freiheit ganz besonders zu genießen und wie dennoch über allen Köpfen die unsichtbare Frage steht: „Kommt bald der nächste Lockdown?“
Viele fühlen sich unter Druck gesetzt, jetzt besonders viel zu unternehmen
Wir versuchen, uns jetzt mit möglichst vielen Menschen zu treffen und sagen Verabredungen mit Freunden und Kollegen nicht mehr einfach ab, denn sie sind ja die ersten normalen Treffen seit langem und könnten zugleich die letzten sein. Kindergeburtstage werden noch ausgelassener gefeiert als sonst und Eltern freuen sich über jeden einzelnen Tag, an denen ihre Kinder in die Schule oder den Kindergarten gehen dürfen. Wenn uns die Corona-Zeit eines gelehrt hat, dann, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Das erhöht unsere Wertschätzung für die alltäglichen Dinge, setzt uns aber auch gehörig unter Druck.
Dieses Phänomen hat auch der Generationenforscher Rüdiger Maas beobachtet. Seit Beginn der Pandemie erforscht sein Team am von ihm gegründeten privaten „Institut für Generationenforschung“ in Augsburg die Haltung der Bevölkerung in Deutschland zur Corona-Pandemie. In der neuesten repräsentativen Umfrage wurden 2210 Menschen befragt. Aus der Altersgruppe unter 26 Jahren fühlen sich laut Umfrage 46 Prozent unter Druck gesetzt, wegen der gelockerten Maßnahmen viele Dinge zu unternehmen. Einige wünschten sich sogar den Lockdown zurück. So geben ein Zehntel der Menschen ab 40 Jahren an, bestimmte Dinge aus den Lockdown-Zeiten zu vermissen. Knapp sieben Prozent der sogenannten Baby Boomer (ab 56 Jahre) und etwa acht Prozent der „Generation Y“ (26 bis 39 Jahre) wollen ihren Pandemie-Alltag sogar am liebsten gleich ganz beibehalten. Nicht nur, weil sie sich von den wiedererlangten Freizeitmöglichkeiten unter Druck gesetzt fühlen, sondern vor allem auch, weil sie Angst haben, sich im Getümmel anzustecken.
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„Wegen der Pandemie werden die Menschen seit mehr als anderthalb Jahren unaufhörlich mit bedrohlichen Informationen konfrontiert. Jede Berührung kann potenziell gefährlich sein. Diese Information bleibt im Kopf – und bei jedem Treffen geht der erhobene Finger hoch“, sagt die Traumapsychologin Karin Clemens. Homeoffice, Entschleunigung, weniger soziale Kontakte: In Zeiten, in denen zumindest vorübergehend vieles wieder möglich ist, bekämen es manche Menschen regelrecht mit der Angst zu tun. All das aufgeben, worauf man sich schon eingestellt hat? Offenbar eine schwierige Vorstellung für solche Menschen, die sich mit der Pandemie abgefunden haben und in ihrem eigenen Lockdown bleiben möchten.
Der Herbst ist plötzlich die Zeit der Bedrohung
Die zurückgewonnene Freiheit überfordert also die einen, während andere sie aber so gut es geht auskosten wollen. Ich auch. Das Gefühl, diesen Sommer ganz besonders einzigartig zu machen, hat allerdings zur Folge, dass ich nicht mehr entspannt auf den Herbst blicken kann. Denn seit Corona ist der Herbst nicht mehr die Zeit, in der alles ruhiger und gemütlicher wird, sondern die Rückkehr der Bedrohung. Wir hoffen zwar, dass wir wegen der Impfungen besser weg kommen als im vergangenen Jahr, sicher wissen können wir es aber nicht. Und weil schon bald alles wieder vorbei sein könnte, müssen wir jetzt eben noch mehr erleben als sonst. Wenn wir uns diesen Sommer nicht mit möglichst vielen Leuten getroffen haben, nicht möglichst oft auf Dachterrassen gesessen haben und ans Meer gefahren sind, fühlen wir uns womöglich bald wie in Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“ von 1902: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“
Eins muss ich aber zugeben: Etwas Praktisches hat die Aussicht auf den Herbst, in dem wieder alles vorbei sein könnte, dann doch: Ich frage mich, ob sich die Mühe überhaupt lohnt, die Corona-Kilos wieder loszuwerden und beim Sport wieder auf das alte Vor-Corona-Level zu kommen, wenn doch ohnehin bald alles wieder zumacht! (mit dpa)