Immer mehr Covid-19-Patienten klagen über die Spätfolgen ihrer Infektion mit dem Virus. Darunter auch Patienten mit milderen Verläufen.
Betroffene schildern ihr persönliches Corona-Desaster – noch Monate später leiden sie zum Teil unter Atemproblemen, Sprachfindungs- und Konzentrationsstörungen.
Zwei Mediziner erklären, was sie bisher über Krankheitsverläufe und Spätfolgen wissen und was Betroffene tun können.
Köln – Christel W. hat schon Mitte März auf der Rückreise aus dem Skiurlaub mit ihrer Familie das Gefühl, krank zu werden. Sie hat gehofft, dass es nur eine Erkältung ist. Ihren Urlaubsort, Kirchdorf in Tirol, hatte das Robert Koch-Institut allerdings kurz vor der Rückreise zum Corona-Risikogebiet erklärt. Und auch Christel W. hatte sich infiziert. Zunächst liegt sie mit Gliederschmerzen, Husten und Fieber im Bett. Heute, rund vier Monate nach ihrer Ansteckung ist Christel W. nicht mehr in Quarantäne. Sie gilt offiziell als genesen. Doch scheint genesen bei dem neuartigen Coronavirus nicht gleichbedeutend mit gesund zu sein.
Wie die 59-Jährige klagen weltweit immer mehr Menschen, die zunächst nur milde oder mittelschwere Krankheitsverläufe hatten, auch Wochen oder Monate nach der Infektion über Beschwerden. Nach der Definition des Robert Koch-Instituts gelten Menschen 14 Tage nach Beginn der Symptome als genesen, wenn sie 48 Stunden frei von Beschwerden wie Husten oder Fieber sind.
Nach vier Monaten noch Hautausschlag und Haarausfall
Nach etwa zehn Tagen treten bei Christel W. Atemprobleme auf: „Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Zentner Kartoffeln auf meine Brust gelegt, gegen die ich anatmen müsste und es brannte in den Lungen, als hätte ich Glassplitter eingeatmet.“ Drei Wochen liegt sie im Bett, insgesamt 29 Tage verbringt sie in Quarantäne. Besonders belastet hat sie in dieser Zeit, dass sie trotz dieser Symptome kein Arzt untersucht hat. Sie konnte lediglich mit einem Arzt des Gesundheitsamtes telefonieren. In ein Krankenhaus musste sie nicht.
Trotzdem kann die Parkettverkäuferin auch nach vier Monaten noch nicht wieder arbeiten. Sie leidet bis heute unter Kurzatmigkeit, Hautausschlag, Haarausfall, Husten und Kreislaufproblemen. Auf Bildern ihrer Lunge sind Covid-19-typische Veränderungen sichtbar. Doch nicht nur die Krankheit macht ihr zu schaffen, dass komplette Sozialleben finde nur noch digital statt, zu groß sei die Angst von Freunden und Bekannten, dass sie sich noch bei Christel W. anstecken könnten. Vor dem Coronavirus war sie fit. Eine Lungenembolie liegt 16 Jahre zurück. Doch an einen normalen Alltag kann sie noch nicht wieder denken. Die Ärzte raten ihr, sich zu schonen und geduldig zu sein.
Mediziner vermutet ein immunologisches Phänomen
Welche Folgeschäden jemand nach einer Covid-19-Infektion habe, sei abhängig vom Verlauf der Krankheit, sagt Professor Oliver Witzke, Direktor der Klinik für Infektiologie der Universitätsmedizin Essen. „Werden Patienten im Krankenhaus oder gar auf der Intensivstation behandelt, ist es normal, dass sie nicht gleich wieder gesund und fit sind.“ Auch Witzke sind dem Uniklinikum Essen Patienten bekannt, die zunächst einen leichteren Verlauf der Covid-19-Infektion hatten und dann von Langzeitfolgen berichten. Darunter seien vor allem Betroffene gewesen, die einen Geschmacks- beziehungsweise Geruchsverlust erlebt haben.
„Wir kennen es von anderen Virusinfektionen, dass es einzelne Patienten gibt, die wochen- oder sogar monatelang Probleme haben.“ Das seien oft schwer fassbare Phänomene wie Müdigkeit oder Schlappheit – es sei unklar, woran das letztlich genau liege. „Ich vermute, dass es sich um immunologische Phänomene handeln könnte, dass im Körper unterschwellig doch noch eine Entzündung vorhanden ist. Und der Körper damit beschäftigt ist, noch Reste oder Ablagerung des Virus zu beseitigen und dem Körper dadurch die Kraft für andere Belastungen fehlt“, erklärt der Mediziner.
Durch Covid-19 erlebt Ulrike S. immer wieder schlechte Tage
Für Ulrike S.* gibt es seit ihrer Corona-Infektion gute, mittlere, schlechte und desaströse Tage. Als sie Ende Februar aus dem Ägypten-Urlaub zurückkommt, beginnt für sie ihr ganz persönliches Corona-Desaster – so beschreibt es S. selbst. In den ersten Tagen leidet sie unter hohem Fieber und Atemnot und ist immer kurz davor, ins Krankenhaus zu gehen. Nach drei bis vier Wochen geht es ihr besser, sie geht wieder arbeiten. „Ich war extrem vergesslich, desorientiert und bei Abläufen, die ich sonst im Schlaf kann, war ich verwirrt“, erzählt die Bankkauffrau. Dann kommt ein Rückfall: Fieberschübe, wenn sie sich angestrengt, Brustenge, Stechen in der Brust und Hautausschlag.
Vor der Infektion gehörte Sport zum Alltag der 56-Jährigen. Sie ging drei- bis viermal die Woche joggen oder zum Krafttraining ins Fitnessstudio. Daran ist jetzt, vier Monate nach den ersten Symptomen, selbst an guten Tagen nicht zu denken. Mit viel Ruhe hat Ulrike S. an einem solchen Tagen kaum Beschwerden. „An einem schlechten Tag wie neulich, als mich mein Mann zu meinen Eltern bringen wollte, kann schon Frühstücken, Duschen und Anziehen zu viel sein. Die Folge: Druck auf der Brust und ein Schwächeanfall.“ Ihre desaströsen Tage würde sie am liebsten vergessen, wie einen Freitag Ende Juni. Brustenge, das Herz klopft bis zu Hals – schon morgens vor dem Aufstehen. Symptome, die in Intervallen trotz Ruhe immer wieder kommen. S. sucht Hilfe in der Notaufnahme und geht nach Stunden ohne Ergebnis wieder nach Hause. Auch Termine bei Lungenfachärzten und Kardiologen brachten ihr bisher keine Erkenntnisse.
Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn weist auf neurologische Schäden hin
„Covid-19 ist völlig unvorhersehbar“, sagt Timothy Spector vom King’s College in London gegenüber dem Spiegel. Der Mediziner hat in seiner Untersuchung, bei der er 200.000 Covid-19-Patienten mithilfe einer App über einen längeren Zeitraum verfolgte, herausgefunden, dass jeder zehnte Corona-Kranke länger als einen Monat Symptome hat, viele sogar zwei. Dazu zählen Hautausschlag, Erschöpfung, Atembeschwerden, Durchfall und Geruchsverlust.
Der Verlust des Geruchs- beziehungsweise des Geschmackssinns, von dem viele Covid-19-Betroffene berichten, weist auf neurologische Schäden hin, erklärt Professor Philipp Albrecht, einer der Leiter des MS-Zentrums an der Uniklinik Düsseldorf. „Auf MRT-Bildern konnte man bereits sehen, dass bei einer Infektion durch das Coronavirus der Geruchsnerv anschwillt.“ Albrecht untersucht in einer Studie die neurologischen Langzeitschäden einer Covid-19-Infektion bei Patienten, die in der Uniklinik behandelt wurden – vor allem bei Betroffenen mit schweren Verläufen und intensivmedizinischer Behandlung.
„Ein nicht unerheblicher Anteil an Patienten, die wir wegen einer Covid-19-Infektion intensivmedizinisch behandeln, hat neurologische Probleme, muss zunächst in einer Reha behandelt werden und kann nicht nach Hause entlassen werden“, schildert Albrecht.
Covid-19-Sprechstunde an der Uniklinik Essen soll Patienten helfen
„Sehr viele Patienten haben in der akuten Phase ein Delir, also einen Verwirrtheitszustand. Später klagen viele Betroffene über Konzentrations- und Merkstörungen sowie Verarbeitungsprobleme im Gedächtnis – bisher haben wir dies nur bei Einzelfällen untersucht“, schildert der Experte. Weil durch eine intensivmedizinische Behandlung immer Folgeschäden entstehen, will Albrecht herausfinden, welche genau durch die Sars-CoV-2-Infektion entstehen.
Die Uniklinik Essen bietet in Kooperation mit niedergelassenen Ärzten eine spezielle Post-Covid-Sprechstunde an, die Betroffene unterstützen soll. „Ein Setting, wo viele Patienten mit ähnlichen Symptomen untersucht werden und nötige Untersuchungen der Lungen oder des Herzens durchgeführt werden können, um zu sehen, ob ein organischer Schaden vorliegt“, schildert der Infektologe Oliver Witzke.
Was hat das Virus im Körper verändert?
Kathleen S. ist eine weitere Betroffene. Die junge Frau hat sich Anfang April bei ihrer Arbeit als Krankenpflegerin auf der Intensivstation mit Covid-19 infiziert. Zu Hause steckt sie ihren Mann Michael an. „Es macht uns Angst, nicht zu wissen, was alles im Körper passiert ist, was genau das Virus verändert hat – diese Unsicherheit belastet“, schildert das Ehepaar.
Die beiden kritisieren, dass es weder vom Gesundheitsamt noch vom Hausarzt eine aktive Nachsorge gegeben hätte. „Während der Akutphase war die Betreuung perfekt, ein großes Lob an alle Beteiligten, aber danach sind wir wie in ein Loch gefallen“, beschreibt es Michael S. Seine Frau ergänzt: „Ich hätte mir gewünscht, dass ein Check des ganzen Körpers durchgeführt wird, um zu sehen, welche Organe und Bereiche das Virus angegriffen hat.“ Die Infektion trifft die 34-Jährige und ihren 16 Jahre älteren Partner unterschiedlich stark. Während Kathleen S. unter sehr hohem Fieber, brennenden Augen, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, einer starken Lungenentzündung und dem Verlust von Geruchs- und Geschmacksinn leidet und immer wieder kurz davor ist, selbst als Patientin ins Krankenhaus zu müssen, hat Michael S. einen milderen Verlauf. „Ich hatte das Gefühl, dass das Virus alle Flüssigkeit aus dem Körper saugt. Ich habe vier Liter am Tag getrunken und hatte immer noch Durst“, sagt Michael S.
Aus Angst und Unwissensheit in der Akutphase wird letztendlich Galgenhumor: „Corona schädigt nicht nur die Lunge oder löst Husten aus – es macht auch irgendwie doof“, sagt er lachend. Sie litten beide lange und auch heute noch ab und zu unter Wortfindungsstörungen oder Konzentrationsproblemen, auch wenn es ihnen mittlerweile besser geht und sie seit Anfang Juni wieder arbeiten: der Diplom-Ingenieur weiterhin im Homeoffice, Kathleen als Intensiv-Pflegerin wieder im Krankenhaus mit Covid-19-Patienten.
Angst, nie wieder ganz gesund zu werden
Vor der Corona-Infektion geht es den beiden gut – Michael hatte vor acht Jahren eine spezielle Lungenkrankheit, eine Vogelhalterlunge, war aber vollkommen genesen. Kathleen S. hatte bis auf ein allergisches Asthma keine gesundheitlichen Probleme. Sie leidet heute noch unter extremem Haarausfall, Hautausschlägen und Problemen mit den Stimmbändern. „Alle drei bis vier Tage ist von einem auf den anderen Moment plötzlich meine Stimme weg. Mir brennen meine Stimmbänder wahnsinnig – und ich habe starke Schmerzen beim Sprechen.“ Doch die Symptome kommen wellenartig: „Es kann sein, dass ich morgen ohne Probleme zwölf Kilometer spazieren gehen kann und übermorgen schaffe ich es noch nicht mal eine Treppe hoch.“ So belastbar wie vor der Covid-19-Infektion fühlt sich das Paar noch lange nicht wieder. Ärzte aus ihrem Arbeitsteam der Intensivstation haben Kathleen S. gesagt, wenn sie Pech habe, könnten die jetzigen Beschwerden bleiben.