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Spiegel des eigenen StatusWas kleine Alltagsgegenstände über unsere Person aussagen

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Die eigene Außenwirkung zu reflektieren kann sehr erkenntnisreich sein. 

  1. Wer zum Klassentreffen kommt – und ob in T-Shirt oder in High Heels – sagt viel über die jeweilige Person aus.
  2. Sozialpsychologe Tilman Allert erklärt, auf welche kleinen Merkmale man achten kann und wie sie zu interpretieren sind.
  3. Mehr zum Thema Selbst- und Fremderkennung gibt es bei einem Veranstaltungsabend von „Forum Blau“ am Montag, 28. September.

Köln – Warum hat der sich bloß diese Brille mit dem schwarzen, kantigen Gestell gekauft? Weil die Dunkel-Kantigen angesagt sind? Damit ist das Thema für die meisten abgehakt. Nicht so für den Soziologen und Sozialpsychologen Tilman Allert, der Forscher an der Goethe-Universität Frankfurt, Buchautor und leidenschaftlicher Beobachter der kleinen und großen Dinge des Alltags ist, die er analysiert und kommentiert.

Allert bringt seine Erkenntnisse unseres Sozialverhaltens stets amüsant unters Volk. Er sagt: „Ich gehe dem Sinn von Alltagshandlungen nach. Das ist der Fokus meiner Forschungen.“ Der Wissenschaftler deckt die Bedeutung vermeintlicher Nebensächlichkeiten auf und entschlüsselt, welche „Bedeutung sie für die Lebensführung eines jeden einzelnen Menschen in der Moderne haben“. Das ist aufschlussreich, weil man sich und sein Tun in einem anderen Licht sieht. Und weil Tilman Allert weder die Normalitäten noch die Absonderlichkeiten an den Pranger stellt. Er erklärt und ordnet ein. Werten kann man selbst – oder auch nicht.

Was alleine das Brillengestell über uns aussagt

Warum also so ein kantiges, dunkles Brillengestell? Weil, so sagt der Sozialpsychologe, „diese Brillengestelle symbolisieren, was wir zum Beispiel immer gern von der Politik einfordern: klare Kante“. Die klare Rahmung im Gesicht „vermittelt Entschlossenheit, Entscheidungsfreude und Intellektualität“. Selbst solchen Gesichtern, die keins der drei Versprechen halten können. Den anderen, die sich für filigrane, randlose Brillen-Versionen entscheiden, attestiert Allert, „dass die Träger solcher Brillen alles tun, um das Altwerden nicht sichtbar werden zu lassen“. Sehschwäche geht nun mal einher mit dem Alter. „Aber mit einer Brille, die man kaum wahrnimmt, signalisiert man seinem Umfeld, dass man eigentlich keine Brille trägt“. Eine optische Täuschung, für die sich Randlos-Brillenträger meist unbewusst entscheiden.

Mehr zum Thema

„Die Lust, sich selbst zu erkennen“Ein Veranstaltungsabend am Montag, 28. September, 19 Uhr, imstudio dumont, Breite Straße 72, KölnExperte: Prof. Dr. Tilman Allert,Soziologe und SozialpsychologeModeration: Marie-Anne SchlolautKarten im Vorverkauf: 16 Euro, 13 Euro mit Abocard, jeweils inkl. VVK-Gebühren, ab sofort erhältlich, an der Abendkasse 18 Euro, 15 Euro mit Abocard –Tel. 0221/ 28 03 44 oderkölnticket – Tel. 0221/ 28 01www.abocard.de/ticketswww.forumblau-akademie.de

Die politische „klare Kante“ ist von anderer Dimension. Sie wurde während des Corona-Lockdowns etwa dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) attestiert, zerfranste jedoch zusehends nach dem Desaster mit den freiwilligen Corona-Tests von 44 000 Urlaubsrückkehrern, die nicht über das Ergebnis informiert wurden, vor allem jene 900 nicht, die positiv getestet wurden. Allert weiß: „Politiker wissen, dass es im politischen Alltag keine klare Kante geben kann, sondern nur Grautöne. In den Büttenreden im Karneval und in Comedy-Shows wird gern die klare Kante gefordert – reiner Kokolores. Wir dürfen dankbar sein für langsame Entscheidungswege und langwierige Prozesse. Alles andere ist Putin, Assad oder Erdogan.“

Kein leichter Job, den Politiker machen, relativiert der Soziologe, denn „im politischen Alltag ist der Fortschritt eine Schnecke, weil nach Hunderten Sitzungen maximal ein Kompromiss erzielt wird, der am nächsten Tag schon wieder gekippt werden kann.“

Klassische Lebenssituation

Genau wie sonst im täglichen Leben. Oder im Fußballstadion, denn „das ist die klassische Lebenssituation. Es geht um Sieg und Niederlage“, so Allert. In einem 90-minütigem Spiel drehe sich alles darum, den Zufall zu überwinden, ihn virtuos zu umgehen. „Wenn der FC Bayern München gegen Paderborn spielt, glaubt man zu wissen, dass die Bayern gewinnen. Aber dann machen die Paderborner das Spiel. Das ist ein Spiegel des realen Lebens, in dem man brav seine Arbeit macht, sich gut vorbereitet hat, und dann spielt der Zufall Schicksal – und alles war für die Katz.“

Gewaltbereite Fans nach einem verlorenen Fußballspiel haben das Prinzip nicht verstanden. „Wer randaliert, den Gegner angreift, der will dieses Spiel des Lebens nicht akzeptieren und zerstört den Spiel-Charakter.“ Weil derjenige nun mal nicht kapiert hat, „dass das Schöne am Spiel ist, dass wir uns daran berauschen können, dass alles anders kommt als erwartet“.

Sich der eigenen Geschichte vergewissern

Was sich oft genug belegen lässt, wenn man die Schul- und spätere berufliche Laufbahn von Menschen miteinander vergleicht. Wie ein Trostpflaster wirken jene Lebensläufe, die belegen, dass Schulversager durchaus Karriere machen können, sich in Wirtschaft und Wissenschaft ganz oben behaupten, während sie im Schulalltag ganz unten dümpelten. Am besten lassen sich solche Erfolgsgeschichten auf Klassentreffen feiern. „Eine Gemeinschaft, die sich in ihrem eigenen Wachstum großartig findet“, meint Tilman Allert.

Dieselben Klassentreffen seien nichts für diejenigen, „die glauben, dass sie gescheitert sind. Die kommen meist nicht zu Klassentreffen. Sondern vorrangig die, die sich im Nachhinein ihrer eigenen Geschichte vergewissern wollen“. Wer die „Sieger“ im Blick hat, die gern zeigen, dass sie „es“ geschafft haben, sollte gelegentlich sein Augenmerk auch auf Nebensächlichkeiten richten.

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Beispielsweise auf so schlichte Dinge wie High Heels. „Eine demonstrative Geste der Aufgestiegenen, um zu zeigen, dass sie über den anderen stehen – wörtlich genommen.“ Allert ordnet das nicht als bewusste Agitation ein, sondern eher als einen unbewussten Akt. Damit aber die, die sich zu den oberen Schichten zählen und sich im Kreis der Reichen wähnen, sich nicht gleichgesetzt fühlen müssen mit jenen, die nur denken, sie seien oben angekommen, weil sie dank der Stöckel zehn Zentimeter größer sind, haben die Arrivierten subtilere Statusmerkmale. Allert: „Sie können in manchen Punkten ohne Verlust Zurückhaltung üben, tragen Kaschmirpullover für 3000 Euro, deren Wert nur der erkennt, der zur gleichen Schicht gehört. Seinesgleichen eben.“

Statussymbolik nach Mustern

Unterm Strich funktioniere Statussymbolik jedoch nach vergleichbaren Mustern, egal ob ganz unten oder ganz oben. „Wir haben ein extremes Selbstdarstellungsbedürfnis. Das kennzeichnet die Moderne. Dem Menschen wird eine permanente Rollen-Performance abverlangt.“ Was zur Folge hat, dass Hinz – die da unten – und Kunz – die da oben – der Auffassung ist, Einzigartigkeit demonstrieren zu müssen. Das spielt auch eine nicht unwesentliche Rolle bei denen, die sich aus Prinzip nicht schminken oder aufbrezeln.

Hinterfragen lässt sich zudem, was Zeitgenossen demonstrieren wollen, die im Restaurant ihr Essen kalt werden lassen, weil sie erst mit dem Handy eine Serie an Aufnahmen machen, kommentieren und sofort verschicken müssen, bevor sie zu Messer und Gabel greifen. Oder es zu ihrem Hobby gemacht haben, sich ausgiebig bei Koch und Kellner über das Essen und den fehlenden Nachgang des Weines zu beschweren.

Wer sich jedenfalls schon immer gefragt hat, was an einem permanent nach Luft ringenden Mops als Haustier verlockend sein mag oder alternativ an einem Pudel, sollte dem Soziologen und Sozialpsychologen Tilman Allert zuhören. Der hat sich im Übrigen auch darüber Gedanken gemacht, warum Gaffer mit ihrem Handy Unfälle und Verletzte filmen. Warum Schlabberhose und ausgelaugtes T-Shirt Alltagsmontur, Tischflucht und To-go-Mahlzeiten „in“ sind. Und warum Kindergeburtstage, Einschulungen und Hochzeiten auf jeden Fall ein Top-Event sein müssen.

Zum Weiterlesen: Tilman Allert: „Latte Macchiato – Soziologie der kleinen Dinge“,S. Fischer, 240 Seiten, 8,90 Euro