Köln – Die EU-Arzneimittelbehörde EMA hat grünes Licht gegeben für die Zulassung des Corona-Impfstoffs der Hersteller Biontech und Pfizer für Kinder ab zwölf Jahren. Das teilte die EMA am Freitag in Amsterdam mit. Es ist der erste Impfstoff in der EU, der auch für Menschen unter 16 zugelassen ist. Bisher war er in der EU erst ab 16 Jahren freigegeben. Am Donnerstag hatten Bund und Länder festgelegt, dass sich Kinder ab 12 Jahren in Deutschland vom 7. Juni an gegen Corona impfen lassen dürfen, sofern die EU-Behörde grünes Licht gibt. Am 7. Juni soll die Priorisierung hierzulande generell aufgehoben werden, damit sollen sich dann auch Kinder von zwölf bis 16 Jahren um einen Termin bemühen können, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mitteilte. Doch: Sollten Kinder überhaupt geimpft werden? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Und wie ist die Situation bei den unter 12-Jährigen? Ein Überblick über die wichtigsten Fragen.
Wann soll es mit den Kinder-Impfungen losgehen?
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach sich dafür aus, Jugendlichen möglichst bald ein Impfangebot zu machen. „In dem Moment, wo der Impfstoff zugelassen ist für über Zwölfjährige, kann er ab dem nächsten Tag in Arztpraxen verimpft werden.“ Doch ganz so schnell wird es wohl nicht gehen: „Wenn die EMA Impfstoffe für Kinder zulässt, heißt das ja noch nicht, dass es dann auch direkt losgeht“, betont Axel Gerschlauer, Kinderarzt und Sprecher des Bunderverbandes der Kinder und Jugendärzte (BKVJ). Der BKVJ fordert, dass die Kinder-Impfungen erst starten, wenn auch die Ständige Impfkommission (Stiko) eine Empfehlung für den Impfstoff abgegeben hat. Wie am Dienstag durchsickerte, will die Kommission allerdings zunächst keine Empfehlung für alle 12-15-Jährigen aussprechen. Möglicherweise wird sich die Empfehlung auf chronisch kranke Kinder beschränken. Fakt ist: die Stiko ist noch mitten in der Untersuchungsphase. „Wir müssen noch auf Daten aus den USA warten, wo der Impfstoff (von Biontech) ja schon angewendet wird. Die werden aber sicherlich erst in einigen Monaten vorliegen“, sagt Stiko-Mitglied Martin Terhardt.
Gerschlauer hält deshalb einen Impfstart im Sommer „überambitioniert“. Er sagt: „Es gibt noch viele Hürden, die genommen werden müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es in den Sommerferien bereits Kinder-Impfungen geben wird, aber es wird definitiv nicht jedem Kind ein Angebot gemacht werden können.“
Auch andere Impfstoffhersteller wie Moderna sind laut des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) bereits in klinische Studien mit Kindern und Jugendlichen eingestiegen. Wie der Hersteller am Dienstag mitteilte, sei der Wirkstoff bei Kindern zwischen 12 und 17 Jahren höchst wirksam. Die Studie habe eine Wirksamkeit von 100 Prozent gezeigt. Zudem werde der Impfstoff von Kindern und Jugendlichen gut vertragen, erklärte der Hersteller. Aufgrund der neuen Erkenntnisse will Moderna Anfang Juni bei der US-Arzneimittelbehörde FDA und bei Behörden weltweit Anträge für eine Zulassung des Vakzins für diese Altersgruppe stellen.
VFA-Sprecher Rolf Hömke sagt: „Noch im Laufe dieses Jahres kommen wir in die Situation, wo es, wenn alles gut geht, sowohl für die Jugendlichen als auch für die jüngeren Kinder zugelassene Impfstoffe geben wird – und zwar gleich mehrere.“
Wie gefährlich ist Corona für Kinder?
Nach allem, was man aktuell weiß, erkranken Kinder viel seltener schwerwiegend an Covid-19. Dennoch sind auch schwere Verläufe nicht ausgeschlossen. Der Berliner Virologe Christian Drosten sagte kürzlich im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“, dass eine Corona-Infektion möglicherweise bei Kindern nicht so harmlos sei wie teils in der Öffentlichkeit dargestellt. Noch wisse man nicht, wie es sei, wenn sich große Gruppen von Kindern ansteckten.
Vermehrt diskutiert wurde zuletzt auch das „Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome“, kurz: PIMS. Es ist eine Reaktion nach einer in den meisten Fällen symptomlosen Infektion. Jedes 1000. Kind wird vier bis sechs Wochen nach der Infektion plötzlich krank und entwickelt Symptome wie hohes Fieber, Probleme am Herz, im Darm und Hautausschlag. Insgesamt hat die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie 323 Kinder mit PIMS registriert, in weniger als zehn Prozent sind Folgeschäden beobachtet worden.
Was spricht für eine Impfung?
Aus Sicht von Gerschlauer sprechen drei Gründe dafür, Kinder zu impfen. Da ist zunächst der Individualschutz. Zwar erleiden Kinder wesentlich seltener schwere Verläufe, dennoch sind auch sie durch Corona gefährdet. Eine Impfung würde sie vor schweren Verläufen schützen.
Zweitens könnten Kinder-Impfungen einen Beitrag zur Herdenimmunität leisten. „Wir werden als Gesellschaft die Pandemie nur in den Griff bekommen, wenn sich 80 Prozent aller Deutschen impfen lassen“, sagt Gerschlauer. „Die Gruppe der 12- bis 16-Jährigen besteht aus rund drei Millionen Kindern. Eigentlich müssten wir diese Kinder nicht impfen, wenn sich alle Erwachsenen impfen lassen würden. Da das nicht passiert, wird es nicht ohne die Kinder gehen.“
Was sind die psychosozialen Folgen der Pandemie?
Der dritte Grund für Kinder-Impfungen hängt eng mit den psychosozialen Folgen der Pandemie zusammen. Eine aktuelle Langzeituntersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt die dramatischen Auswirkungen von Lockdown, Fernunterricht und wenig sozialen Kontakten auf alle Kinder in Deutschland. Die Ergebnisse sind alarmierend.
Demnach gaben 83 Prozent der 7- bis 17-Jährigen an, durch die Pandemie belastet zu sein. Ein Jahr zuvor lag der Anteil noch bei 66 Prozent. Besonders auffällig ist die enorme Zunahme von seelischen Beschwerden im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Und auch die gesundheitliche Lebensqualität nahm bei vielen Kindern ab. Emotionale Schwierigkeiten, Verhaltensprobleme, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen sowie Angststörungen haben zugenommen. Mit 15 Prozent ist der Anstieg bei Angststörungen und Problemen mit Gleichaltrigen etwas stärker ausgeprägt als bei den anderen seelischen Schwierigkeiten. Diese Erkenntnisse lassen für Gerschlauer nur einen Schluss zu: „Kinder müssen wieder mehr dürfen – egal ob sie geimpft oder nicht geimpft sind.“
Was spricht gegen eine Impfung?
Vor einer generellen Impfempfehlung für Kinder steht laut Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), eine sehr genaue Prüfung der Daten zu Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit der Impfung. Für sie brauche es unbedingt eine eigene Zulassung, betont Mertens, denn „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Über allem steht die Frage: „Stehen die Risiken im Einklang mit den vergleichsweise geringen Gefahren, die eine Infektion bergen?“, sagt Gerschlauer.
Dass Kinder wegen ihres sehr aktiven Immunsystems besonders heftig auf eine Impfung reagieren könnten, könne nicht ausgeschlossen werden, sagt Stiko-Chef Mertens. „Insgesamt ist auch ein etwas anderes Nebenwirkungsspektrum möglich.“ Impfreaktionen seien bei jüngeren Erwachsenen bei Corona-Impfstoffen häufiger als bei älteren Menschen, so Mertens. Die immunologische Erfahrung mit anderen humanen Coronaviren sei bei Kindern wesentlich geringer.
Wann werden Babys und jüngere Kinder geimpft?
Das kann zum jetzigen Zeitpunkt noch keiner seriös prognostizieren. „Dass es einen Impfstoff für unter 12-Jährige gibt, damit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Denn bei unter 12-Jährigen ist die Abwägung noch schwieriger: Die Anforderungen an einen Impfstoff sind nochmal höher, während die Risiken einer Infektion nochmal kleiner sind“, sagt Gerschlauer.
VFA-Sprecher Rolf Hömke ist etwas optimistischer. Durch die Impfzulassung für Kinder ab 12 Jahren, wird es beim Impfen altersmäßig schnell weiter rückwärts gehen, sagt er. Biontech/Pfizer haben demnach schon im März mit einer Studie mit Kindern ab sechs Monaten und bis unter zwölf Jahren begonnen, in der verschiedene Altersgruppen unterschieden werden. Erste Ergebnisse für Kinder ab fünf Jahren könnten dem Hersteller zufolge im Sommer vorliegen. (mit dpa)