Autorin berichtetWie ich meine Magersucht überwunden habe
Berlin – Einser-Abi, Studium in Rekordzeit, Bestnoten, Praktikum beim ZDF in Afrika und Asien: Den Weg zum Erfolg läuft Jenifer Girke rasant. Doch dann wird der bildhübschen 26-Jährigen plötzlich alles zu viel. Sie beginnt zu hungern – und ihr perfektes Leben nach außen bricht zusammen.
Die Tage der Fußball-WM haben für Jenifer Girke eine besondere Bedeutung. Nicht weil sie so fußballbegeistert ist, sondern weil sie Erinnerungen wecken. An eine Zeit, zu der es ihr schlecht ging.
„Ich liebte es, ununterbrochen gute Geschichten zu liefern“
„Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich das Endspiel Brasilien gegen Deutschland in der Klinik gesehen“, sagt sie. Im Sommer 2014 landete die Journalistin wegen Magersucht, Burnout und schwerer Depression in einem psychosomatischen Krankenhaus. „Mein Körper und meine Seele waren ein Wrack. Ich wollte so nicht mehr weiterleben“, erzählt die junge Frau, deren Alltag rund um die Uhr von Erfolg und Perfektionismus gekrönt war.
An diesem Nachmittag sitzt sie in einem Kreuzberger Café vor ihrem Cappuccino und erzählt ihre Geschichte. Es ist die Geschichte eines komplett durchstrukturierten Lebens. Girke arbeitete als Journalistin, ist nahezu gierig nach Erfolg und Anerkennung. „Ich liebte es, ununterbrochen gute Geschichten zu liefern. Die ersten eigenen Artikel veröffentlicht zu sehen war der Hammer“, sagt sie. Die Journalistin definierte sich fast ausschließlich über ihren Job und ihr Aussehen. „Meine erste Mahlzeit kochte ich mir immer erst abends um 22 Uhr, schön klein portioniert, damit ich sie aufaß.“ Tagsüber knabberte sie stundenlang an Apfelspalten und Gemüsesticks.
Straffes Sportprogramm morgens und abends
Jeden Morgen stellte sie pflichtbewusst den Wecker auf sechs Uhr, um vor der Redaktionskonferenz noch laufen oder – mit den Worten von Girke – „sprinten“ gehen zu können. Nach Feierabend ging das exzessive Sportprogramm im Fitness-Studio weiter.
Wenn sie spätabends die Treppen in den vierten Stock zu ihrer Wohnung hoch stieg, brach sie vor der Tür fast zusammen. „Wenn mir der Schlüssel runterfiel, weil ich so zitterte, war ich kaum noch in der Lage, ihn aufzuheben.“ Den Fahrstuhl im Haus hatte sie nicht einmal benutzt, weil er nichts ins Konzept ihrer Selbstzerstörung passte.
Mit 17 Jahren beginnt der Kalorienwahn
Der Kalorienwahn begann, als sie 17 Jahre alt war. Girke achtete penibel darauf, wie ihre Mutter zu Hause die Schulbrote für die Kinder zubereitete. „Meine Scheiben mussten immer hauchdünn sein, weil ich sie sonst nicht aß“, erinnert sie sich.
Die unbeschwerten Zeiten, als sie mit einer Schulfreundin gemeinsam Nutella-Toasts im Sandwichmaker zubereitete und von dem süßen Geschmack der geschmolzenen warmen Schokolade nicht genug bekommen konnte, sind lange vorbei.
Strenge Regeln schon während der Kindheit
Schon die Kindheit war strengen Regeln unterworfen. „Wenn ich eine Zwei in der Mathearbeit mit nach Hause brachte, bekam ich erst Mittagessen, wenn ich die Fehler alle berichtigt hatte“, schildert sie in ihrem Buch „Parallelwelten“ (adeo-Verlag, 18 Euro).
Auch bei Tisch herrschten strenge Regeln. „Als ich einmal vor Müdigkeit meinen Kopf auf meiner Hand abstützte, schlug mir mein Vater meinen Arm weg.“ Nach außen hin herrschte aber stets die heile Welt. Freunde der Eltern lobten sogar die äußerst guten Manieren der Kinder.
„Traf dort Überforderte, Tinnitus-Patienten, Ritzer, und Kotzer“
Erst als Jenifer Girke in der Klinik war, fand sie allmählich zu sich selbst und zu ihrer Authentizität zurück. Sie traf dort auf schwer kranke Menschen, die ganz und gar nicht dem Bild entsprachen, das sie einst vermittelt bekommen hatte. Sie begegnete „Überforderten, Tinnitus-Patienten, Ritzern, Kotzern“ – Menschen, die mit der heutigen schnelllebigen digitalisierten Zeit einfach nicht mehr zurecht kamen.
Im Therapiealltag gab es keine Deadlines und keinen täglichen Produktionsdruck. Hier lernte Girke ihre Magersucht zu akzeptieren und vor allem: Hilfe zuzulassen. Sie musste Portionen in der Kantine essen, von denen sie Magenschmerzen bekam, weil sie solche Mengen nicht gewohnt war, musste ihren ausgemergelten Körper zeichnen und ihr Gewicht ständig überwachen lassen. Girke: „Ich lernte dort nach und nach und mit viel Geduld, wie ich in schwierigen Situationen klar komme.“
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Abschied vom selbst auferlegten Druck
Doch die Probleme waren nach der Entlassung nicht wie von Geisterhand verschwunden. Selbst vier Jahre später kommen ab und zu noch die verhexten negativen Gedanken, „bin ich gut genug, kann ich alle Erwartungen erfüllen?“. Doch der Unterschied zu früher ist: „Ich erkenne meine Gedankengänge jetzt, nehme sie an und folge ihnen nicht mehr.“ Ihre leidenschaftliche Berufung als Journalistin gibt Jenifer Girke Energie, den Alltag mit all seinen Hürden zu meistern.
Im Gegensatz zu früher jetzt ganz ohne Zwang. Sie sagt: „Ich stecke meine ganze Leidenschaft in Geschichten und spannende Protagonisten und bin damit erfolgreich. Weil es das ist, was ich gern möchte und nicht mehr, weil ich es muss.“ Von ihrem selbst auferlegten Druck hat sich Jenifer Girke verabschiedet. Mit dem Rest hat sie umzugehen gelernt.