„Größter Fehler in der Medizin“Warum Kalorienzählen bei Diäten nichts bringt
- Wer die richtigen Produkte zu sich nimmt, braucht beim Abnehmen keine Energie-Einheiten mehr zu zählen.
- Studien zeigen, dass es beim Abnehmen am meisten auf die Verarbeitung der Produkte ankommt – und auf unsere Darmflora.
Es klingt so einfach: Verzehre weniger Kalorien, als du verbrennst! Doch am Ende zeigt sich die Waage dann doch wieder unversöhnlich. Der Grund: Die Kalorie ist out. Studien zeigen, dass es beim Abnehmen vielmehr auf den Verarbeitungsgrad der Nahrung ankommt – und auf unsere Darmflora.
Die App auf dem Smartphone öffnen, dessen Kameralinse auf das Züricher Geschnetzelte richten, abdrücken – und schon wenig später leuchtet auf dem Display, dass man gerade dabei ist, 600 Kcal zu vertilgen. Was bei einem täglichen Energieverbrauch von 2200 Kcal bedeutet, dass für die übrigen Mahlzeiten noch 1600 offen sind. Man könnte sich am Abend also noch ein 180-Kcal-Bierchen gönnen, ohne das laufende Diätprogramm auszuhebeln. Klingt verheißungsvoll. Doch funktionieren wird es vermutlich nicht.
Denn Kalorie und Kalorienverzicht haben als Königsweg zum Abspecken ausgedient. „Die dahinter steckende Theorie zählt vielleicht sogar zu den größten Fehlern in der Geschichte der Medizin“, behauptet der kanadische Nephrologe und Diät-Experte Jason Fung. Denn nicht nur, dass es in den Industrieländern immer mehr Übergewichtige gibt, obwohl dort ständig neue Ideen zur Kalorienreduktion auf den Markt kommen. „Auch die wissenschaftliche Datenlage zeigt, dass diese Methode gescheitert ist“, betont Fung.
Einen aktuellen Beitrag dazu leistet eine Studie der Stanford University in Kalifornien, für die 609 übergewichtige Probanden ausdrücklich angewiesen wurden, nicht auf die Kalorienwerte und Portionsgrößen ihres Speiseplans zu achten. Stattdessen sollten sie Zuckerzusätze, raffinierte Mehle, Fertiggerichte und andere industriell verarbeitete Produkte meiden.
Am Ende des einjährigen Beobachtungszeitraums hatten die Studienteilnehmer durchschnittlich sechs Kilogramm abgenommen. Ohne Kalorienzählen. „Sie fragten zwar, wann wir ihnen endlich sagen würden, wie sie ihre Kalorienzufuhr drosseln müssen“, berichtet Studienleiter Christopher Gardner. „Doch das taten wir nicht“.
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Stattdessen erteilte man konkrete Ratschläge, wie sie hochverarbeitete Nahrungsmittel meiden könnten. So sollten sie keine Brownies und Chips kaufen, nur weil sie als „Low Fat“ (Wenig Fett) oder „Low Carb“ (Wenige Kohlenhydrate) ausgewiesen sind. „Vielmehr sollten sie generell auf Brownies und Chips verzichten, weil sie damit ja die Spiegelregel brechen, auf verarbeitete Nahrungsmittel zu verzichten“, so Gardner. Eine Regel, deren Einhaltung den Probanden offenbar nicht schwer viel. Vielmehr überwog die Erleichterung, dass man kein einziges Mal an Kalorien denken musste.
Was bereits eine wesentliche Ursache für das oftmalige Scheitern der Kalorienreduktion anspricht: Sie erfordert viel Aufmerksamkeit und Disziplin, was viele Menschen überfordert oder sogar unter Druck setzt. Ganz zu schweigen davon, dass Nahrungsmittel dann als potenzielle Kalorienbomben, nicht aber als Quelle von Lust und Genuss betrachtet werden, dadurch fehlen wesentliche Motivationsfaktoren für das auf positive Reize ausgerichtete Gehirn. Nicht umsonst ergab eine Umfrage im Auftrag der Weight-Watchers, dass vier von fünf abnehmwilligen Frauen schon mal eine Diät abgebrochen haben.
Neben psychologischen gibt es aber auch physiologische Erklärungen für das häufige Scheitern des Kalorienverzichts. Denn der wird vom Körper als Stress wahrgenommen, den es zu beantworten gilt. „Je härter der Kalorienentzug“, warnt David Ludwig von der Harvard School of Public Health in Boston, „umso energischer wird der Organismus dagegen steuern“. Dazu gehört, dass der Stoffwechsel heruntergefahren wird, um Energien zu sparen, und umgekehrt der Hunger gesteigert wird, um wieder Energien zuzuführen. Mit der Folge, dass man schon wenige Wochen nach dem Beginn des Kalorienverzichts – und lange bevor der Gewichtsverlust sichtbar wird –müde und bewegungsunwillig wird. Und am Ende, so Ernährungsmediziner Ludwig, „kollabieren wir mit einem Topf Eiscreme auf der Couch.“Hinzu kommt, dass ein Lebensmittel seine Kalorien nicht Eins-zu-eins an uns abgibt. So braucht der Körper viel Energie, um etwa eine rohe Möhre zu verdauen. Das geht beim Kauen los, geht weiter über die Sekretion der Magensäfte bis zu den heftigen Kontraktionen der Darmmuskulatur. Die dabei aufgewendete Energie muss man in der Endabrechnung von den Kalorien der Möhre abziehen.
Wird das Gemüse hingegen gekocht, sind seine Fasern und komplexen Kohlehydrate so zerlegt, dass sie dem Verdauungsapparat nicht mehr viel abverlangen. In der Endabrechnung liefern dadurch gekochte Möhren, aber auch andere gegarte Speisen wesentlich mehr Kalorien als Rohkost. Und dies gilt erst Recht für die verarbeiteten Produkte der Lebensmittelindustrie: Auch ein Smoothie liefert letzten Endes mehr Energie als eine entsprechende Menge Obst oder Gemüse.
Für Gardner steht daher fest: „Wer weniger Probleme mit seinem Körpergewicht haben will, sollte auf dem Bauernmarkt naturbelassene Lebensmittel kaufen, und nicht das hochverarbeitete Convenience Food vom Supermarkt.“ Die Gewichtung der Nährstoffe spiele hingegen keine Rolle. In Gardners Studie nahmen die Low-Fett-Esser genauso viel ab wie die Low-Carb-Esser, und zwar allein dadurch, dass sie mehr unverarbeitete Lebensmittel auf dem Teller hatten. Die Gene der Probanden ließen hingegen keine Rückschlüsse auf ihre Diäterfolge zu. Man kann also dem Erbgut nicht die Schuld geben, wenn es mit dem Abnehmen nicht klappt.
Energiebegriffe
Physikalisch betrachtet ist eine Kalorie die Wärmemenge, die erforderlich ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erwärmen. Weswegen sie früher auch dazu verwendet wurde, um die Leistung von Heizungsanlagen anzugeben.
Für Lebensmittel wurde die Kalorie eingeführt, um deren physiologischen Brennwert, also die Energie zu beziffern, die unser Körper beim Verstoffwechseln daraus gewinnen kann.
Oft wird allerdings von Kalorien gesprochen, obwohl eigentlich Kilokalorien (Kcal) gemeint sind. Wenn uns also ein Fruchtjoghurt laut Becheraufdruck 150 Kcal liefert, versorgt er uns streng genommen nicht mit 150, sondern mit 150 000 Kalorien.
Wissenschaftler bevorzugen ohnehin das Joule anstelle der Kalorie. Doch auf Lebensmittelverpackungen findet man in der Regel immer noch beide Bezeichnungen, denn der Kunde hat sich zumindest bisher mit dem Joule noch nicht anfreunden können. Es entspricht knapp 4,2 Kalorien.
Wem man sie allerdings zuschieben kann: der Darmflora, also den bakteriellen Dauergästen im unteren Verdauungstrakt. Denn deren Zusammensetzung entscheidet darüber, wie viele Kalorien letzten Endes in den Körper überführt werden. Am Miriam Hospital in Providence, Rhode Island, transplantierte man einer schwer darmkranken Frau etwas Darmflora von ihrer übergewichtigen, aber ansonsten gesunden Tochter. In der Folge wurde die Mutter zwar von ihrer ursprünglichen Erkrankung geheilt, doch auch immer dicker. Selbst harte Bewegungsprogramme und Diäten konnten das nicht verhindern.
Durchaus möglich also, dass man abspeckt, indem man sich die Darmflora eines schlanken Verwandten implantieren lässt. Was allerdings letzten Endes heißt, dass man von dem Spender ein Stück Kot eingesetzt bekommt. Vielleicht sollte man dann doch erst mal versuchen, kein Convenience-Food mehr zu essen.