Wird uns künftig KI untersuchen? Der Radiologie-Professor Felix Nensa aus Essen über die Chancen künstlicher Intelligenz und ungeahnte neue Probleme.
KI in der Medizin„Während sie uns Bullshit-Aufgaben abnimmt, konzentrieren wir uns auf das, was Spaß macht“
Herr Nensa, Sie sind Radiologe, wird die Kollegin KI Sie in der Diagnostik künftig überflügeln?
Felix Nensa: Das hört sich so an, als befänden wir uns im Science-Fiction-Film. Wir Ärztinnen und Ärzte sind in der Diagnostik auch ohne KI schon ziemlich gut. Unser Problem ist ein ganz anderes: Es gibt viel zu viele Patienten und viel zu wenig Ärzte. Durch die verbesserte Technik steigt zudem die Arbeitslast. Als ich vor gut zehn Jahren Assistenzarzt in der Radiologie war, machte der Computertomograf seine Thoraxbilder in 5-Millimeter-Schritten. Das heißt, Sie waren mit gut 50 Bildern durch den ganzen Brustkorb durch. Mittlerweile rekonstruiert das CT in Ein-Millimeter-Schritten. Wir müssen also statt 50 heute 250 Bilder angucken. Dazu kommt: Mindestens die Hälfte, wenn nicht 80 Prozent ärztlicher Tätigkeit besteht aus reinen Dokumentationsaufgaben. Wir telefonieren den Krankenkassen hinterher, suchen stundenlang ein freies Bett auf Station, organisieren eine Reha. Dafür haben wir nicht jahrelang studiert und uns zum Facharzt weiterbilden lassen. Auch die heute sehr motivierten Studierenden wollen Menschen helfen und keine Zahlenkolonnen in Eingabemasken am Computer tippen. Wenn sie merken, was da an Verwaltung auf sie zukommt, sind sie frustriert. Die Möglichkeiten von KI liegen deshalb in erster Linie darin, uns Ärzte, aber genauso auch die Pflege bei den lästigen Aufgaben zu entlasten.
Wir werden also künftig nicht von der KI untersucht werden?
Unterstützend vielleicht schon, aber am Ende gibt es doch entscheidende Dinge, die wir in der Medizin in den Händen der Menschen belassen. Patienten wollen mit Empathie behandelt werden. Außerdem brauchen wir die Fähigkeit von Zero-Shot-Learnern. Und da sieht die KI im Vergleich zum Menschen sehr schlecht aus. Sie kann vieles, aber nichts, was sie nicht vorher gelernt hat. Zum Beispiel kann Sie der Autopilot ganz ohne menschlichen Piloten von Köln nach New York fliegen. Aber eine Notlandung im Hudson River wie vor 15 Jahren dem Kapitän Sullenberger gelänge wohl nicht. Und den Passagieren wäre in so einer Ausnahmesituation sicher auch wohler, wenn ein Mensch am Steuer säße. Und in der Medizin, wo es um Leben und Tod geht, ist es genauso.
Kollegin KI soll also nur die nervigen Aufgaben abnehmen?
Ganz genau! KI ist nicht das Problem. KI ist ein Teil der Lösung, die wir dringend brauchen, um die Medizin besser zu machen. Denn während sie uns die Bullshit-Aufgaben abnimmt, können wir uns auf das konzentrieren, was Spaß macht, wozu Kreativität, Intelligenz und Einfühlungsvermögen nötig sind. Die Arbeit am Patienten zum Beispiel. Während die KI zumindest zur Kontrolle die 250 Bilder durchguckt, kann ich mich zehn statt fünf Minuten mit ihm unterhalten.
Könnte man die Bildanalyse ganz der KI überlassen?
Nein, das nicht. Denn die KI entdeckt zwar manchmal winzige Veränderungen, übersieht andererseits aber den Tumor, der so groß wie ein Kirschkern ist. Es ist ganz erstaunlich wovon sich KI manchmal irritieren lässt. Eine Zusammenarbeit von Mensch und Maschine ist ideal. Jeder hat da seine Stärken, das führt zu weniger Fehlern. Und dann ist die KI natürlich ein Backup. Stellen Sie sich vor, Sie müssen im Nachtdienst anhand eines Röntgenbildes überprüfen, ob das eben eingelieferte Kind einen Genickbruch haben könnte. Sie sind vielleicht gerade geweckt worden und etwas panisch, dass Sie in Ihrem Zustand irgendwas übersehen. Sie dürfen aber nichts übersehen! Sie gucken also nochmal und nochmal und nochmal drüber. Da gibt so eine Zweitmeinung der KI schon etwas Sicherheit.
Aber in der Organisation könnte die KI-unterstützte Digitalisierung ganz groß rauskommen, haben Sie gesagt. Können Sie mal ein Beispiel nennen, wo das heute schon gut klappt?
Wir haben zum Beispiel einen internen Messenger, der unsere Arbeitsabläufe unglaublich beschleunigt. Wenn unsere Kardiologen eine Lungenembolie mit dem Katheter rausfischen sollen, dann waren die Wege früher oft sehr lang. Wir haben mittags die Bilder bekommen und die Embolie erkannt. Dann musste der Patient vom Pfleger mit dem Rollstuhl in die Nephrologie gebracht werden. Dort übernahm die Pflegerin, die der Ärztin Bescheid geben sollte. Die war aber dauernd unterwegs und im Gespräch. Der Patient lag also unbehandelt auf Station bis abends um acht. Erst dann kam an, dass die Kardiologen gebraucht werden. Die waren aber schon im Feierabend und mussten wieder reinkommen. Obwohl das CT schon um zwölf Uhr vorlag. Heute detektiert eine KI automatisch, welche Ärzte gebraucht werden und versorgt alle gleichzeitig mit Laborwerten, Bildern, Videos, Telefonnummer. Niemand muss hin und herlaufen und Informationen weitertragen, die Kardiologen stehen schon parat, da ist der Patient noch nicht vom Scanner runter. Das sind Dinge, die die Versorgung erheblich verbessern. Alles andere sind wissenschaftliche Spielereien, die einem vielleicht Veröffentlichungen einbringen und die Karriere fördern, aber keinerlei Impakt auf die klinische Versorgung haben. Mich interessiert das nicht.
Ein bisschen Science-Fiction würde ich dennoch gern hören. Wie klappt das denn mit Apps und Devices, die ich zu Hause nutzen kann und die meinem Arzt sagen, ob sich mein Gesundheitszustand verschlechtert? Die würden das Gesundheitssystem ja auch entlasten.
Ja, da gibt es interessante Ansätze. Zum Beispiel kann eine Smartwatch Herzrhythmus-Störungen des Trägers erkennen. Es gibt auch Apps, die anhand der Stimme drohende Parkinson oder eine andere neurologische Erkrankung vorhersagen können. Auch interessant sind Überlegungen, beispielsweise die Badezimmerwaage eines Herzpatienten mit dem Kardiologen zu verbinden. Die KI findet dann nicht raus, dass da abends zu viele Chips gefuttert wurden, sondern erkennt beispielsweise eine zunehmende Wassereinlagerung, die auf ein Herzversagen hindeutet, das wiederum zur Lungenentzündung und im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Mit der rechtzeitigen Verschreibung ausschwemmender Medikamente kann das vermieden werden.
Felix Nensa (43) ist Professor für Radiologie am Universitätsklinikum Duisburg-Essen. Dort sieht man sich als Vorreiter in Sachen Smart Hospital. Nensa ist und Mediziner und IT-Spezialist, er hat beides gleichzeitig studiert und nebenbei noch eine IT-Firma mitbegründet. Heute leitet er die Arbeitsgruppe KI am Uniklinikum.
Wie interessant ist ChatGPT für Sie als Diagnostiker?
Da gibt es ganz unterschiedliche Einsatz-Möglichkeiten. Denken Sie zum Beispiel an die elektronischen Patientenakten. Ohne den Einsatz von KI müsste ich darin ewig suchen, um die Frage zu beantworten, wann und wo die Gallenblase des Patienten entfernt wurde. ChatGPT beziehungsweise ein ähnliches System, welches aus Datenschutzgründen nur lokal bei uns im Klinikum läuft, kann mir innerhalb weniger Sekunden sagen: im November 2012 in Gelsenkirchen. Und tatsächlich hilft ChatGPT auch als Inspiration bei seltenen Erkrankungen. Ich als Arzt stelle ChatGPT manchmal die Frage, welche Krankheit hinter diesen und jenen Symptomen stecken könnte. Als wäre es ein Lehrbuch, das mitdenkt. Laien kann ich vor der Nutzung allerdings nur warnen. Dazu ist die KI bei weitem nicht gut genug. Da sagt sie dann, Sie sollen einen Kamillentee trinken, dabei müssten Sie dringend ins Krankenhaus. Das könnte tödlich enden.
Es gibt den Satz: „Künstliche Intelligenz wird nicht den Radiologen ersetzen, aber Radiologen, die KI nutzen, werden die ersetzen, die darauf verzichten“?
Ganz genau. Das ist auch meine Meinung. Das hat mir sogar ein Journalist schon mal in den Mund gelegt. Aber zuerst gesagt hat das der Radiologe Curtis Langlotz von der Stanford University.
Viele müssen auf KI verzichten, denn wie ich gelesen habe, nutzen nur zehn Prozent der Kliniken in Deutschland überhaupt KI zur Auswertung. Woran liegt das? Interessieren sich die Start-ups zu wenig für die Medizin?
Das würde ich nicht sagen. Es gab da schon immer Leute, die an Sachen für uns Ärzte rumprogrammiert haben. Anfangs fehlte der Austausch allerdings und wir Mediziner saßen dann da mit Lösungen für Probleme, die wir gar nicht hatten. Das hat sich etwas verbessert. Jetzt stehen eher die Infrastruktur der Kliniken und die langen Zulassungszeiten solcher Programme einer schnellen Weiterentwicklung im Weg. Dadurch, dass das alles so streng reguliert ist, arbeiten wir zum Teil noch mit IT-Systemen aus den 1990er Jahren. Das muss sich dringend ändern. Es passiert derzeit aber auch viel.
Was ist denn das ganz große nächste Ding, die Revolution?
Wir forschen gerade an multimodalen KIs. Bislang haben wir die KI so trainiert, dass sie beispielsweise über die CT-Bilder laufen und Veränderungen erkennen kann. Viel bessere Ergebnisse bekämen wir aber, wenn die KI zusätzlich noch Laborwerte, Arztbriefe, genetische Daten auswerten würde. Allerdings verursachen multimodale KIs auch wieder neue Probleme.
Welche denn?
Am Ende wollen wir ja, dass die Entscheidung in der Hand des Menschen bleibt. Wenn ich als Radiologe allerdings die Hinweise meiner multimodalen KI-Kollegin bekomme, für welche die auch genetische oder kardiologische Daten ausgewertet hat, dann kann ich das ja gar nicht beurteilen. Denn von Genetik habe ich streng genommen keine Ahnung. Da fühle ich mich wie ein Pilot in einem Cockpit, ich kenne von zehn blinkenden Lampen aber nur drei. Wir haben derzeit niemanden, der diese interdisziplinäre Entscheidung treffen kann. Das ist ein riesiges Problem. Wir müssen also das Medizinstudium anpassen, damit wir künftige Ärztinnen und Ärzte auf diese Aufgaben vorbereiten.
Gibt es da schon erste Ansätze?
In Essen denken wir bereits in Richtung dieser sogenannten Superdiagnostik, da setzen wir große Hoffnungen drauf. Bislang besteht die Arbeit gerade bei selteneren Erkrankungen auf mühsamem Expertentum, viel Datenbankrecherche und Einzelfallbeschreibungen. Das bedeutet aber auch, dass nur wenige Patienten davon profitieren. Eine KI könnte diese ganzen Daten zusammenbringen und dann für jeden Patienten ortsunabhängig individuelle Therapiepläne schreiben. Also nicht wie heute, wo wir zum Beispiel bei der Medikamentengabe nur grob zwischen halber und ganzer Tablette am Tag unterscheiden, statt jedem die maßgeschneidert optimale Menge zu verschreiben. Je nachdem wie groß und schwer er ist, wie viel er sich heute bewegt hat, wie fett er gegessen hat, wie warm oder kalt es ist.