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„Da kannst du was für die Menschheit tun“Kölner erzählt, wie es ist, an einer klinischen Studie teilzunehmen

Lesezeit 5 Minuten
Patient Manfred Heinen steht in der Uniklinik Köln, wo er in den vergangenen zweieinhalb Jahren behandelt wurde.

Multiples Myelom, Knochenbefall, lautete die Diagnose, die Manfred Heinen im Oktober 2020 bekam. Er entschied sich gegen eine standardisierte Chemotherapie und für die Teilnahme an einer klinischen Studie.

Wer an einer klinischen Studie teilnimmt, erhofft sich, gesund zu werden, hilft aber auch der Wissenschaft. Manfred Heinen aus Köln erzählt.

Als Manfred Heinens Leiden begann, führte sein Weg sehr steil hinauf zu Maria Elend. Die kleine Kirche nahe des Wörthersees in Österreich war Urlaubsziel von Heinen und seiner Frau im Oktober 2020. Heinen hatte gerade seinen Ruhestand angetreten, geplant war eine Kette kleinerer und größerer Reisen. „Wir haben uns einen Scherz erlaubt und in der Kapelle an der Glocke gezogen. Vielleicht hat der Maria das nicht gefallen“, sagt Heinen heute.

Einen Tag später begann der Muskelkater, der nicht mehr vergehen wollte. Eine Blutuntersuchung nach Reiserückkehr lieferte die Antwort: Multiples Myelom, Knochenbefall. Vereinfacht ausgedrückt: Krebs. Der Vorschlag der Ärzte: Drei Monate Klinik und Chemotherapie. Der 77-Jährige ist noch heute ganz aufgebracht, wenn er davon erzählt: „Mein Mantra ist und war: Ich werde hundert Jahre und das kerngesund. Chemotherapie könnt ihr machen, mit wem ihr wollt, mit mir jedenfalls nicht.“ Lieber, so sagt Heinen, wäre er gestorben.

Dass es soweit nicht kommen musste, das ist einer Hamburger Studie zu verdanken, der sich Heinen über das Centrum für Integrierte Onkologie anschließen konnte. Therapiestudie, Phase II. Anfangs jede Woche, später alle zwei bekam Heinen dort ambulant einen Medikamentencocktail gespritzt, der im Rahmen der Studie an Erkrankten erprobt wird. Zugelassen und von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird die Therapie noch nicht. In Heinens Fall zahlte aber neben dem Finanzierer der Studie auch die private Krankenversicherung. Es ist ein Versuch, aber er ist es wert, sagt Heinen.

Heute sagt Heinen: „Ich bin geheilt. Ich bin gesund“

Der Bequemlichkeit wegen bekam er irgendwann sogar einen Port an der Brust gelegt, dort können die Ärzte reinspritzen oder Blut abnehmen. Je nachdem. „So kann ich mir die Kanülen im Arm sparen“, sagt Heinen gut gelaunt. Regelmäßig wird sein Blut kontrolliert. Wie reagieren die Krebszellen auf die Medikamentencocktails? Im Idealfall werden die kranken Zellen so weit zurückgedrängt, dass sie quasi nicht mehr nachweisbar sind, sagt Thomas Zander, Leiter der onkologischen Ambulanz und des klinischen Studienzentrums an der Uniklinik Köln. 99,8 Prozent hält Zander für möglich. In Heinens Fall entdeckten die Mediziner bei der Kontrolle nach der Therapie keine neuen Krebsmarker mehr. Für Heinen heißt das: Heute „bin ich geheilt. Ich bin gesund“.

Klinische Studien, freut sich Zander, hätten die Medizin erfolgreicher gemacht im Kampf gegen früher tödlichen Krankheiten. Ein gutes Beispiel für die Wirkung von Studien, die nach und nach den medizinischen Standard verbessern konnten, sei die Bekämpfung des Hodgkin-Lymphoms. „In den 80er Jahren konnten wir mit dem Standardverfahren etwa 60 Prozent aller Betroffenen heilen. Heute sind wir bei 90 Prozent angelangt“, sagt Zander. Heranrobben an die hundert.

Für viele ist eine Studie der letzte Versuch

Dabei stehe bei Studien die Vermeidung eines Risikos für den Patienten immer an oberster Stelle, sagt Zander. Für frühe, also unerprobte Studien einer Therapie kämen deshalb nur Menschen infrage, bei welchen alle Standardtherapien schon erfolglos ausgeschöpft wurden. Sozusagen als letzter Versuch. Aber auch dann gilt: „Treten Nebenwirkungen auf, wird die Dosis verringert oder die Medikationsgabe pausiert“, sagt Zander.

Wie ist es an einer klinischen Studie teilzunehmen? Patient Manfred Heinen berichtet.

Patient Manfred Heinen wollte auf jeden Fall eine herkömmliche Chemotherapie vermeiden.

Blutwerte und Krankheitsverlauf jedes einzelnen Studienteilnehmers werden akribisch notiert – aber bis zum Studienende, bis zu dem Jahre vergehen können – nicht eingesehen, sagt Zander. Es soll zu keinen voreiligen Schlüssen kommen, die die Ergebnisse beeinflussen könnten. Bei Doppelt-Blind-Studien wissen weder Arzt noch Patient, ob überhaupt ein wirksames Medikament durch die Nadel fließt oder lediglich ein Placebo. „Und das wird auch nie aufgedeckt“, sagt Zander. Es sei denn, es kommt zu einem medizinischen Notfall. „Kommt ein Patient ins Krankenhaus und es wird eine Medikamentenunverträglichkeit vermutet, dann wird die Studie entblindet. Es geht dann schließlich um ein Menschenleben.“


So laufen klinische Studien ab

Man unterscheidet zwischen klinischen und nicht-interventionellen Studien. In klinischen Studien wird eine neue Behandlungsmethode erprobt. Bei nicht-interventionellen (Arzneimittel-)Studien wird lediglich beobachtet und dokumentiert.

Die klinischen Studien teilt man auf in vier Phasen.

Phase I: Neue Behandlungen werden an gesunden Freiwilligen auf Verträglichkeit getestet.

Phase II: Das Medikament wird an 100 bis 300 Erkrankten getestet. Herausgefunden werden soll die optimale Dosierung.

Phase III: Es handelt sich meist um große Vergleichsstudien. Dabei werden Patienten, die die zu untersuchende Behandlung erhalten, mit einer Kontrollgruppe verglichen, die eine andere Behandlung erhält. Welcher Gruppe man angehörtm ist für Arzt und Patient nicht ersichtlich.

Phase IV: Findet erst statt, wenn das Medikament bereits auf dem Markt ist. Sie sind dazu da, seltene Nebenwirkungen besser zu erkennen.


Die Motivation für die Teilnahme hänge von der Studienart ab. Bei einer nicht-interventionellen Studie, bei der keine neuen Therapien oder Medikamente zum Einsatz kämen, sondern lediglich Werte kontrolliert würden, oder bei einer Phase-I-Studie, die sich an gesunde Freiwillige richte, sei oft der Wunsch, den Fortschritt zu unterstützen, zentral, sagt Zander. „Für die eigene Gesundheit nützen diese Studien ja unmittelbar nicht.“ Bei Therapie-Studien ab Phase 2 lägen die Dinge ganz anders. „Viele Patienten machen mit, weil sie schlicht hoffen, durch den neuen Ansatz gesund zu werden.“ Manfred Heinen hat auch mitgemacht, um gesund zu werden. Und weil er der standardisierten Chemotherapie auf jeden Fall entkommen wollte. Aber etwas Altruismus war auch dabei. „Ich dachte: Da kannst du was für die Menschheit tun.“

Seit Manfred Heinens Tage nicht mehr so sehr ausgefüllt sind von Medikamentengabe und Krankenhausbesuchen, hat er sich ein neues Hobby gesucht. Eine Arbeit, könnte man auch sagen. Er macht in Hamburg eine Ausbildung zum Aktien-Trader. Er ist überzeugt, dass die Krankheit ihm beibringen wollte, dass er nicht loslassen dürfe. „Man muss immer aktiv sein, damit der Körper weiß: Jung, ich muss was tun für den Manfred, der braucht mich.“ Rasten und rosten, das alte Lied. Dazu Pläne: Reisen nach Bad Füssen, an die Ostsee, Rotterdam stehen dieses Jahr auf dem Programm. Jeden Tag Waldlauf, samstags Familientag mit Frau und Sohn, montags „Jungsday“ mit Freunden im Café in Königsdorf.

Zweieinhalb Jahre lang konnte er nun bei derlei Gelegenheiten über das sprechen, über das ältere Menschen häufig sprechen, er aber nie sprechen wollte: seine Krankheiten. Jetzt, so sagt Heinen bestimmt, müssten wieder andere Themen in den Mittelpunkt rücken. „Immer jammern, dass alles schlimm ist – das bin ich nicht. Das geht mir nur auf die Nerven. Ich war immer ein Anti-Kranker. Und das werde ich jetzt auch wieder sein.“