„Oben Barbie, unten Monchichi“Wie sich das Leben mit der Krankheit Lipödem anfühlt
- Oben dünn, unten dick: Das Lipödem, eine Fettverteilungs-Störung, betrifft immer mehr Frauen.
- Die Krankheit ist äußerst rätselhaft und erschwert den Alltag der Betroffenen enorm.
- Die Autorin Isabel García spricht im Interview darüber, warum sie ihre Krankheit so lange öffentlich versteckt hat und wie sie es inzwischen geschafft hat, voll zu sich und ihrem Körper zu stehen.
Köln – „Du hast aber fette Beine.“ Solche Sprüche musste sich Isabel García ihr ganzes Leben lang anhören. Inzwischen hat sie Frieden geschlossen mit ihrer Krankheit, die häufig ist und gleichzeitig rätselhaft: dem Lipödem.
Frau García, Sie sind eine Frau mit schmalem Oberkörper auf kräftigem Unterkörper und beschreiben sich selbst als „oben Barbie, unten Monchichi.“ Fühlt sich so das Leben mit Lipödem an?
Isabel García: Ja, denn wenn man nur meinen Oberkörper sieht, denkt man ich sei eine normalgewichtige Frau. Wer meine Beine sieht, denkt das aber nicht mehr. Inzwischen ziehe ich auch im Sommer wieder kürzere Kleider an, aber es war ein langer Weg bis dahin.
Was hilft Betroffenen am besten?
Bei vielen ist es Kraftsport und die richtige Ernährung. Ich ernähre mich so entzündungsarm wie möglich, also meistens basisch und vegan. Damit geht es mir deutlich besser. Manche nehmen auch mit der ketogenen Ernährung ab. Ich persönlich fahre am besten mit viel Obst und Gemüse und sehr wenigen Tierprodukten.
Das Lipödem stellt Ärzte seit Jahrzehnten vor immer neue Fragen. Sport, Operation, Ernährung: Bei jeder Patientin kann etwas anderes helfen, die Symptome zu lindern. Warum ist diese Krankheit so rätselhaft?
Weil das ganze Thema Körperfett noch nicht ausreichend erforscht ist. Zumindest das gesunde Fett. Forscher können noch nicht genau sagen, was der Unterschied ist zum Lipödem-Fett. Noch nicht einmal bei der Fett-Absaugung lässt sich das sehen. Früher wurden die Frauen in den OPs förmlich leer gesaugt, heute wissen wir, dass gesundes Fett auch eine entzündungshemmende Wirkung im Körper hat. Die Wissenschaft hat erst vor rund zehn Jahren angefangen, das zu erforschen und sich mit dem gesunden Fett zu beschäftigen.
Buchtipp
Buch: Isabel García: Lipödem. Ich bin mehr als meine Beine. Trias-Verlag, 19,99 Euro
Warum ist immer noch unklar, wie viele Betroffene es insgesamt gibt?
Da viele auch gleichzeitig Adipositas haben, ist nicht immer klar zu sehen, ob ein Lipödem besteht. Und wer nur dicke Beine aber keine Schmerzen hat, entspricht nicht dem Krankheitsbild. Aber die, die leiden, brauchen Hilfe, denn wer die Krankheit hat, wird sie nicht mehr los.
Verständlich, dass jemand leidet, der sich zur Hälfte wie ein dicker Monchichi fühlt. Was ist auf psychischer Ebene wichtig im Umgang mit der Krankheit?
Den Stress loszulassen. Wir Lipödem-Frauen haben Stress mit unserer Figur, mit den Schmerzen in unseren Beinen, wir haben Stress mit der Kompression. Auch wenn wir denken, wir hätten jetzt endlich eine Lösung gefunden, artet es oft in Stress aus, weil es bei dieser Krankheit keine einfachen Lösungen gibt. Aber Stress sorgt für eine Cortisol-Ausschüttung im Körper, und das verhindert wiederum das Abnehmen. Der Stress mit der Krankheit macht sie um das Fünffache schlimmer. Wenn wir anfangen uns zu nehmen wie wir sind, wird es einfacher.
Deswegen raten Sie auch dazu, psychische Hilfe anzunehmen, zum Beispiel von einem Coach oder Therapeuten.
Damit will ich nicht sagen, dass wir Lipödem-Patientinnen alle einen Dachschaden haben, sondern dass der Blick von außen sehr hilfreich sein kann. Viele Betroffene denken, ihre Krankheit sei die schlimmste der ganzen Welt. Dabei ist Krebs zum Beispiel noch viel tragischer. Das Interessante daran: Krebspatienten sehen die Endlichkeit vor sich, die Option, dass sie bald sterben könnten. Diese Endlichkeit sorgt bei vielen für ein Umdenken im Kopf. Wer das Lipödem hat, lebt ein Leben lang damit. Und die Gedanken kreisen unentwegt in unserem Kopf, zum Beispiel so: „Wie soll ich damit einen Freund kriegen, wenn mir schon leichte Berührungen so weh tun?“ Bei der Frage wie gehe ich am besten mit der Krankheit um, kann ein Coach ansetzen.
Women’s Health Day
Isabel García spricht am beim Women‘s Health Day im Lindner Hotel City Plaza in Köln, der aufgrund des Coronavirus von April auf den 8. und 9. August 2020 verschoben wurde. Gekaufte Tickets behalten ihre Gültigkeit. Das Thema der Autorin: „Ich bin mehr als meine Beine. Leben mit dem Lipödem.“ Viele weitere Referentinnen sprechen an diesen Tagen über diverse Gesundheitsthemen. Tickets und Infos unter womenshealthday.de
Wie klappt das denn im Alltag? Wie lebt man gut mit dicken Beinen?
Zum Beispiel mit Achtsamkeitstraining, mit Hypnose. Das genießen, was geht. Positiv nach vorne schauen. Ich weiß heute: Wenn ich mich normal ernähre, nehme ich zu. Wenn ich zu wenig Sport mache, tun mir die Beine weh. Bei dieser Krankheit hat alles eine stärkere Konsequenz. Deswegen: trotzdem glücklich sein und möglichst stressfrei leben.
Kann eine OP die Rettung sein?
Ich persönlich habe nicht die klassische Lipödem-OP machen lassen. Manche Frauen sind danach an den Beinen beuliger als vorher. Jeder muss klar sein: Auch wenn ich mich operieren lasse, gilt es ein Leben lang auf Sport, mein Mindset und auf gesunde Ernährung zu achten. Das wird den meisten vor der OP leider nicht gesagt. Das Lipödem bleibt auch nach der OP eine chronische Krankheit. Ich habe mir damals Fett absaugen und die Haut straffen lassen, aber im Endeffekt hat es nicht viel gebracht. Ich habe seitdem trotzdem noch Schmerzen.
In Ihrer Kindheit und Jugend haben Sie krampfhaft versucht an den Beinen abzunehmen – und nie hat es geklappt. Sie dachten, es sei etwas falsch mit Ihnen bis Sie dann mit 27 Jahren endlich die Diagnose bekommen haben. Was denken Sie rückblickend über diese Zeit?
Das war grausam und ein langer Weg. Ich habe insgesamt keine schöne Vergangenheit, kenne Depressionen und habe als junger Mensch sexuelle Übergriffe erlebt. Bis heute kämpfe ich mit dem Thema mangelnder Selbstwert, aber ich weiß jetzt, dass es meine Verantwortung ist, wie es mir geht. Das Lipödem hat mich daher auch zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich weiß, dass nichts selbstverständlich ist und freue mich über jede blühende Blume. Ich genieße die Spaziergänge mit meinem Hund und egal wie meine Vergangenheit auch war: Es liegt an mir, wie meine Zukunft aussieht.
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Ehemalige Berater haben Ihnen lange Zeit abgeraten, ein Buch über das Lipödem zu schreiben. „Dann wirst du nur noch als die Rednerin mit den dicken Beinen wahrgenommen“, so deren Befürchtung. Hatten diese Menschen Recht?
Nein, dieses Buch hat mich vollständiger gemacht. Ich nehme nicht wahr, dass ich jetzt abgestempelt bin. Lange Zeit habe ich in der Öffentlichkeit versucht, meine Krankheit zu verstecken, habe es nie offen angesprochen. Jetzt wo ich mich selbst fast nackelig auf dieses Buchcover gepackt habe, konnte ich mich endlich öffnen. Heute sage ich ehrlich zu meinem Umfeld: „Ich würde jetzt gerne meine Beine hochlegen.“ Früher hätte ich mich durchgequält auf Stilettos bis zum bitteren Ende des Abends. Heute zeige ich mich auf der Bühne komplett. Nicht nur als Isabel, die lustig und fröhlich ist, sondern auch als Isabel mit Lipödem.
Sie sind Speakerin und Expertin für Kommunikation und sagen, das Lipödem hat sie zu diesem Thema gebracht. Wie kam das?
Was ist das Lipödem?
Die offiziell anerkannte Erkrankung ist gekennzeichnet durch eine atypische, symmetrische Häufung von Fettgewebe an den Beinen und Armen. Diese sind berührungsempfindlich und es können spontan blaue Flecken auftreten. Das Lipödem wird fast ausschließlich bei Frauen festgestellt, nach der Pubertät, einer Schwangerschaft oder in den Wechseljahren. Hormonelle Veränderungen und Gewichtszunahme werden als Ursache vermutet, ebenso eine genetische Disposition. Manche Forscher gehen von 500.000 Betroffenen in Deutschland aus, andere sprechen von etwa 4 Millionen.
Nun, eigentlich bin ich introvertiert und schüchtern. Aber mit meinem Aussehen habe ich mir antrainiert, schlagfertig und humorvoll zu sein. Auch wenn mein Gesicht hübsch ist, meine Beine haben noch nie dem Schönheitsideal entsprochen. Also habe ich mich einfach auf andere Dinge konzentriert.
Die Krankheit kann also auch eine Chance sein.
Natürlich ist es nicht toll, ein Lipödem zu haben. Doch es hilft mir, achtsam mit mir selbst umzugehen, zu wachsen, mich noch besser zu behandeln, mehr auf meine Ernährung zu achten. Deswegen kann ich der Krankheit nicht wirklich böse sein. Ich bin daran sehr gewachsen, vor allem seitdem ich mich gezeigt habe.
„Boah, hat die fette Beine! Und jetzt isst sie auch noch ein Stück Kuchen!“ Respektlose Bemerkungen wie diese haben Sie Ihr ganzes Leben lang von anderen gehört. Wie lernt man, da drüber zu stehen?
Ich habe gelernt: je selbstbewusster ich mit dem Lipödem umgehe, desto weniger Beleidigungen bekomme ich. Heute kommt nur noch selten ein Spruch und wenn mir der Mensch wichtig ist, erkläre ich ihm unter vier Augen, was los ist. Gut funktioniert auch, den Angriff einfach zu bestätigen: Ja, es stimmt, ich habe dicke Beine. Das nimmt den anderen viel besser den Wind aus den Segeln als wenn ich anfange mich mit meiner Krankheit zu rechtfertigen. Ich kann andere Menschen nicht ändern, aber ich kann aufhören mich über sie aufzuregen. Ich muss diese Energie nicht in mein Leben lassen. Klar konnte ich als junge Frau nicht damit umgehen, jetzt mit 50 kann ich es. Ich wünsche mir, dass betroffene junge Frauen früh lernen, mit solchen Sprüchen umzugehen, denn das hilft ihnen nicht nur beim Lipödem, sondern fürs ganze Leben.
Wenn Sie anderen Lipödem-Patientinnen drei Tipps geben dürfen, welche sind das?
Nehmt den Stress raus. Emotional aber auch im Beruf. Wenn wir Stress haben, hält unser Körper fest, auch die Kilos. Je glücklicher wir sind, desto eher kann er loslassen. Und vor allem: Macht keine Diät mehr. Denn durch die vielen Diäten bin ich genau wie viele andere erst in die Falle Lipödem gerutscht. Jede Zunahme verschlimmert die Krankheit. Das Ziel ist ein Klarkommen mit dem Ist-Zustand. Mir tun zum Beispiel Faszien-Massagen und Intervall-Fasten gut. Findet den Sport, der euch Spaß macht. Mein Mantra: Ich bin eine normale Frau, ich habe einfach nur eine andere Figur.