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OrthopädiemechanikEine Prothese für die Badeschlappe am Strand

Lesezeit 5 Minuten
Markus Rehm ist Prothesen-Weitspringer und Orthopädiemechaniker.  Er zeigt seine neue Badeschlappen-Prothese.

Markus Rehm ist Prothesen-Weitspringer und Orthopädiemechaniker. Er sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben cooler sein könnte, wenn das nicht passiert wäre.“

Markus Rehm ist Weltrekordhalter im Weitsprung und hat nur einen Unterschenkel. Beruflich denkt er sich Prothesen aus, die nicht nur hochmodern sind, sondern auch in Alltagssituationen bestehen.

Auf den neuen Fuß ist Markus Rehm sehr stolz, denn er ist badeschlappentauglich. Und das ist keine Selbstverständlichkeit. Seit er mit 14 Jahren bei einem Wakeboard-Unfall seinen rechten Unterschenkel verlor, konnte Rehm nicht mehr mit einfachen Plastiksandalen an den Füßen am Strand entlang schlendern. Selbst mit hochmodernen, tausende Euro teuren Prothesen funktioniert das nicht. Es ist, als böte ein Tesla der neuesten Generation keine Möglichkeit, seinen Kaffeebecher abzustellen.

Ein gesunder Fuß krallt sich bei jedem Schritt leicht an so einem Schlappen fest, doch der gefühllosen Prothesenfuß kann das nicht, der Schlappen fällt ab. Fester Schuh hier und Badeschlappen dort ist auch keine Lösung. Zwei ungleiche Schuhe verursachen einen unrunden Gang. Also hieß es für Rehm seit gut 20 Jahren: Beide Füße stecken in geschlossenen Schuhen.

Doch der 35 Jahre alte Mann ist Tüftler und Perfektionist. Er arbeitet als Orthopädietechnik-Meister beim Troisdorfer Gesundheitsdienstleister Rahm (die Ähnlichkeit der Namen ist purer Zufall) und ist zudem Athlet auf der paralympischen Bühne. Seit Jahren gewinnt er als Weitspringer alles, was es zu gewinnen gibt, und schraubt seinen Weltrekord stetig in die Höhe, aktuell steht der bei 8,72 Metern.

Daumen hoch bei Markus Rehm Leverkusen beim Weitsprung beim integrativen Sportfest.

Markus Rehm springt weit. Sein aktueller Rekord liegt bei 8,72 Metern.

Unterschenkelersatz teils aus dem 3D-Drucker, teils Handarbeit

Im Alltag ist Rehm nicht als Prothesenträger auszumachen: geschmeidiger Gang, durchtrainierter Körper, weiße Sneaker. Er muss seine Jeans schon ein wenig lupfen, um den Blick freizugeben auf einen Unterschenkelersatz, dessen Konstruktion die Bezeichnung „Holzbein“ längst überholt hat: hoch individuell angepasst, aus verschiedenartigem Kunststoff und Metall gefertigt, teils im 3D-Drucker, teils in handwerklicher Detailarbeit.

Bei Rahm haben sie eine Werkstatt, in der analog geklebt, gefeilt und geschraubt wird. Und es gibt eine zweite, einen modern eingerichteten Computerraum, in dem das Handwerk digital am Bildschirm passiert. Am Ende setzten die Mechaniker Bauteile aus beiden Welten je nach Bedarf und Nutzen für die Amputierten ganz individuell zusammen.

Der Badeschlappen kann einfach eingeklickt werden - ohne Bücken

Der Badeschlappen-Trick an Rehms neuester Entwicklung mutet denkbar einfach an: Im Fuß aus Kunststoff befindet sich an der Unterseite ein Loch, in das ein auf den Schuh geklebter Stift geklickt wird. Schon hält der Schlappen. Und – das macht die Neuerung auch für weniger sportliche Prothesenträger interessant – er lässt sich ganz einfach anziehen. Ohne Bücken. Ohne Schuhlöffel. Einfach im Stehen einklicken.

Es gibt heute Prothesen mit Knie- und Fußgelenken, die elektronisch gesteuert werden, um ein maximal harmonisches Gangbild zu erreichen. Aber auch, um mit einer verbesserten Balance gerade für ältere Menschen die Sicherheit zu erhöhen. Im Wettkampf trägt Rehm hocheffiziente Carbon-Blades, mit ihnen nicht umzufallen, ist schon eine Kunst. Und doch sind es manchmal vermeintliche Banalitäten, die Prothesenträgern das Leben schwer machen: die Sache mit den Schlappen. Mangelnde Rutschfestigkeit in der Dusche. Oder Sand im Fuß. Das quietscht. Dinge, die Rehm bei seiner Neuentwicklung bedacht hat.

Markus Rehm ist Prothesen-Weitspringer und Orthopädiemechaniker.

Trägt Rehm lange Hosen, fällt niemandem auf, dass er eine Prothese trägt.

Prothesen gibt es auch für Highheels oder Wanderschuhe

Auch andere Wünsche könnten beim Prothesenbau erfüllt werden, sagt Rehm. Ob Hobbysportler oder High-Heels-Liebhaberin, ob alltagsmüder Senior, begeisterte Schwimmerin oder leidenschaftlicher Bergsteiger: „Wenn die Leute mir aus ihrem Leben erzählen, läuft bei mir immer schon ein Film ab, was für eine Prothese wir am besten zusammenstellen.“

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Entwicklung hochfunktionaler Prothesen in Deutschland immer bedeutender, da tausende amputierte Veteranen heimkehrten und wieder arbeitsfähig gemacht werden sollten. Heute wird immer weniger amputiert. Krieg als Ursache fällt weitgehend weg. Zudem sind die Fahrgastzellen der Autos sicherer geworden, Unfälle, bei denen die Beine schwer eingequetscht werden, passieren immer seltener. Und die Behandlung von Patienten mit Durchblutungsstörungen, vor allem bei Diabetes, wird immer besser. „Wir können es heute sehr lang hinauszögern, bis ein Bein fällt“, sagt Axel Jubel, Chefarzt der Unfallchirurgie am Eduardus-Krankenhaus in Deutz.

Der klassische Unfall, der eine Amputation nach sich zieht, sei ein Sturz mit dem Motorrad in die Leitplanken, erklärt Jubel: „Dabei kann es passieren, dass Extremitäten inkomplett abgetrennt werden.“ Neben den Durchblutungsstörungen und Unfällen sind Krebserkrankungen die gängigsten Ursachen für Amputationen, die obere Extremität ist dabei weit weniger betroffen als die untere.

Die Expertise unter Chirurgen geht wegen sinkender Fallzahlen verloren

Sinkende Fallzahlen klingen erst einmal gut – bergen aber ein Problem: Unter den Chirurgen geht die Expertise verloren. „Es gehört ein gewisses Knowhow dazu, einen vernünftigen Stumpf zu bilden“, sagt Jubel: „Deshalb ist es wichtig, dass Chirurg und Prothesenbauer in enger Absprache zusammenarbeiten.“ Auch wenn die Holzbeine von heute Hightech-Konstruktionen sind, bleibt eine altbekannte Schwierigkeit: Die Verbindung zum Körper. Druckstellen und Entzündungen müssen so gut es geht vermieden werden.

Am Stumpf – aber auch an der Seele: Markus Rehm erinnert sich gut an das furchtbare Gefühl, als er nach der Amputation aufwachte und auf die flach auf der Matratze liegende Bettdecke sah, wo einst sein Unterschenkel sie ausbeulte. Oder an den ersten Blick in den Spiegel. An die Reaktionen der Menschen, von übertriebenem Mitleid bis hin zu Ekel sei alles dabei gewesen, erzählt er: „Man hat in so einer Situation genug eigene Themen und muss dann auch noch lernen, mit dem Feedback von außen umzugehen.“

Heute würde Rehm seinen Unfall nicht ungeschehen machen, selbst wenn er könnte. Bei einer Kinder-Pressekonferenz sei er mal gefragt worden, ob er seine Medaillen gegen ein gesundes Bein eintauschen würde, erzählt der Weitspringer. Er habe kurz darüber nachgedacht und dann ganz klar mit „Nein“ geantwortet: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben cooler sein könnte, wenn das nicht passiert wäre.“