Psychiaterin über das Böse„Menschen, die andere quälen, wissen was sie tun“
Gequälte Kinder, gefolterte Zivilisten, getötete Ehefrauen: Manche Straftaten sind so furchtbar, dass man die Welt nicht mehr versteht. Wie wird man nur so böse? Die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh trifft seit 20 Jahren Straftäter, die schwere Verbrechen begangen haben. Ein Gespräch.
Bei schrecklichen Verbrechen fragt man sich immer wieder: Wie kann ein Mensch so grausam sein? Wie kommt es zu solchen Taten?
Nahlah Saimeh: Die Ursachen sind natürlich unterschiedlich. Bei Partnerschaftsgewalt entsteht Aggression zum Beispiel aus enttäuschten Erwartungen, Eifersucht und Trennungsangst heraus. Oft sind Alkohol und Drogen mit im Spiel. Die meisten schweren körperlichen Aggressionsdelikte werden unter Suchtmitteleinfluss begangen. Denn das Hemmungsvermögen sinkt und die wütenden, feindseligen Aspekte nehmen zu. Mitunter reichen dann schon relativ banale Auseinandersetzungen, damit es eskaliert. Es gibt aber auch Täter und Täterinnen, die fremde Personen oder sogar ihre eigenen Kinder aus Macht oder sexuellen Motiven heraus quälen. Sie haben sicher psychische Auffälligkeiten und sind mehrheitlich Menschen mit einer schweren Persönlichkeitsstörung.
Trotz der Unterschiede – gibt es etwas, das viele Täter gemein haben? Was sie antreibt?
Zur Person
Es kommt auf die Art und Weise des Deliktes an, aber ganz zentral sind bei solchen Tätern und Täterinnen innere emotionale Motive der Wut. Diese Wut kommt aus der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Mehrheitlich sind das Menschen, die in ihrer Kindheit Erfahrungen mit Misshandlung und Vernachlässigung gemacht haben und sehr früh erfahren haben, dass ihre eigenen Bedürfnisse für ihr Umfeld völlig irrelevant sind. Daraus entwickelt sich oft eine Wut auf sich selbst und die eigene Situation. Diese Wut wird im späteren Lebensalter zu einer Art Treibstoff für zerstörerisches, aggressives Handeln gegen Dritte.
Es hat also mit Kindheitserfahrungen zu tun?
Es ist Gemengelage aus ganz vielen verschiedenen Faktoren. In der Tat fängt das sogar schon vor der Geburt an, mit den Persönlichkeitseigenschaften der biologischen Eltern. Wenn Eltern gewaltbereit und impulsiv sind und Emotionen schlecht regulieren können, ist das Risiko höher, dass das Kind auch dissozial wird. Das ist eine biologische Komponente.
Auch die Zeit der Schwangerschaft ist geprägt vom sozialen Klima der Mutter. Wenn sie großen psychosozialen Stressoren ausgesetzt ist, etwa in einer gewalttätigen Beziehung lebt, dann schlägt sich das auch auf das ungeborene Kind durch. Es gibt biologische Veränderungen im Organismus. Gene werden aktiviert, die das Kind auf eine feindselige Kindheit vorbereiten. Das kann später wiederum antisoziales Verhalten bewirken. Wenn die Mutter in der Schwangerschaft trinkt oder Drogen nimmt, ist zudem die Gehirnreifung des Kindes gestört.
Welche Rolle spielt dann das Erziehungsumfeld?
Es kommt darauf an, in welches Milieu ein Kind hineingeboren wird. Das hat großen Einfluss darauf, wie ein Mensch sich selbst in der Welt bewegt. Es geht hier übrigens nicht nur um das sogenannte „asoziale“ Milieu – auch eine äußerlich sehr geordnete Familie kann innerlich völlig kommunikationsarm sein. Letztlich hängt es davon ab, wie der soziale Empfangsraum für das Kind aussieht und welchen Erziehungs- und Bindungsstil es in einer Familie gibt.
Kinder können sich nur gut entwickeln, wenn in den ersten Jahren ein Fundament gelegt wurde, in denen sie geliebt und sicher aufgefangen werden. Und manche Eltern sind nicht fähig, auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen. Wenn ein Kind dauerhaft Vernachlässigungserfahrungen macht, prägt das seine Art und Weise, wie es Kontakt zu seiner Umwelt aufnimmt. Es wird ein eher schwer erziehbares, reizbares oder aggressives Kind sein und mit allen möglichen Methoden versuchen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das wiederum bewirkt negatives Erziehungsverhalten.
Das Kind wird zudem in einem Umfeld aufwachsen, wo es nicht lernt, eigene Emotionen wahrzunehmen und zu benennen. In meinen Gesprächen mit Gewalttätern ist auffällig, dass viele kaum ihre Emotionen benennen können. Sie haben keine innere Sprache dafür und keinen Zugang zu sich selbst und ihrem Gefühlsspektrum.
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Können sie deshalb auch keine Empathie für ihre Opfer entwickeln?
Der Begriff Empathie ist ein schillernder Begriff. Die meisten Menschen, die andere quälen, wissen was sie tun. Sie wollen ja quälen und müssen deshalb auch verstehen, was der andere als Qual empfindet. Es ist für sie aber ein Ventil und Instrument, um die eigene Wut und Ohnmacht der Vergangenheit, die als Gefühl abgespalten ist, in komplette Macht der Tat umzudrehen. Dabei setzen sie sich bewusst über das Leiden des anderen hinweg.
Sehen Sie im Gespräch mit Straftätern auch immer den Menschen hinter dem Monster?
Ich sehe, dass der Mensch, der vor mir sitzt, viel mehr mit mir gemeinsam hat als uns trennt. Wir kommen alle auf die gleiche Art zur Welt, haben die gleiche Bedürftigkeit. Derjenige, der vor mir sitzt, hat auch Hunger und Durst und muss schlafen. Das ursprünglich Menschliche eint uns.
Kann man sagen, Täter sind vor allem Opfer ihrer Umstände?
Es geht hier gar nicht darum, die Einflüsse in der Kindheit als Rechtfertigung zu nehmen und dadurch Straftaten zu bagatellisieren oder zu minimieren. Es geht nicht um Nachsicht oder Betroffenheit. Ich möchte sachlich Zusammenhänge aufzeigen, woher grausames Verhalten kommt. Wir sollten dabei nicht mit dem Zeigefinger auf andere verweisen, sondern uns lieber fragen: Wer wäre ich denn geworden, wenn ich in einem gewalttätigen Elternhaus großgeworden wäre? Welches Bild von Interaktion hätte ich denn, wenn ich dauernd verprügelt worden oder die eigene Mutter an den Haaren über den Boden geschleift worden wäre? Würde ich dann lernen, wie man eigene Emotionen reguliert und mit schwierigen Situationen umgeht? Wahrscheinlich nicht.
Und doch wird nicht jeder, der schwierig aufgewachsen ist, zum Straftäter…
Ja, denn trotz aller Fremdfaktoren sucht man sich sehr wohl aus, wie man mit der Verantwortung im Leben umgeht. Es gibt eine Menge Gewaltdelikte, bei denen man aktiv entscheidet - zum Beispiel wenn man aus narzisstischen Motiven heraus handelt. Bringt jemand seine Frau um, nur weil sie ihn verlassen will, dann ist das eine klare Entscheidung.
Hat es eigentlich jeder in sich, grausam zu sein?
Mit dem Begriff „jeder“ wäre ich vorsichtig. Nicht alle Menschen haben die gleiche Befähigung zur Grausamkeit. Es gibt in der Tat Menschen, die haben so viele Resilienzfaktoren und einen tief in der Persönlichkeit angelegten Bezug zur lebendigen Welt, dass sie nie grausam handeln werden. Wenn Sie 100 Leute im Raum haben, werden niemals alle 100 Leute zu Gewalttätern, sondern – je nach Umständen und Motiven – immer nur ein gewisser Prozentsatz. Auch große historische Krisen zeigen: Es gibt Menschen, die auch unter extremen Bedingungen ihre Humanität nicht aufgeben.
Stichwort historische Krisen: In Kriegssituationen zeigt sich oft eine erstaunliche Grausamkeit – man denke an die Taten in Butscha. Ist es für Menschen im Krieg leichter, grausam zu sein?
Ja, das ist es. Krieg bedeutet ja ein kompletter Verlust der Zivilisation und befördert archaische Verhaltensmuster. Grausamkeit ist im Krieg in allererster Linie ein Instrument, das mit Methode hochrational eingesetzt wird, um den Feind einzuschüchtern und zu demütigen. Da werden andere ideologische Bewertungsmaßstäbe angelegt. Was vorher böse war, gilt nun als notwendig. Zudem wird das Gegenüber im Krieg entmenschlicht. Damit arbeiten alle extremistischen und faschistoiden Systeme. Es geht natürlich auch um Feindbilder, um Heldentaten und ein Ehrversprechen. Menschen sind anfällig dafür, etwas für Ehre zu tun. Und dann gibt es immer Leute, die anarchische Situationen wie Kriege für ihre eigenen sadistischen Spielchen ausnutzen und alles ungefiltert herauslassen.