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Radikale EhrlichkeitWie es sich anfühlt, immer die Wahrheit zu sagen

Lesezeit 9 Minuten
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Marvin Schulz praktiziert seit zehn Jahren Radikale Ehrlichkeit. 

Köln – Stellen Sie sich vor, Sie würden immer die Wahrheit sagen. Keine Ausreden mehr, keine kleinen Notlügen, nichts weglassen aus Höflichkeit oder weil man anderen gefallen will. Immer ehrlich sein und sich nicht verstellen, darum geht es beim Konzept Radikale Ehrlichkeit. Worum es nicht geht: anderen alles ungefragt und ungefiltert vor die Füße zu knallen, was einem gerade durch den Kopf geht.

Keine Rollen mehr spielen

Die Anhänger der Radikalen Ehrlichkeit, im Englischen Radical Honesty genannt, glauben, dass es sie frei und stark macht, die Wahrheit zu sagen und keine Rollen mehr zu spielen. Wer ehrlich über seine Ängste, Sorgen und Gefühle spricht, vertieft in ihren Augen die zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie sind davon überzeugt, dass es niemanden schützt, wenn man Informationen oder Gedanken für sich behält. Im Gegenteil: Gespräche, die auf den ersten Blick unbequem erscheinen mögen, führen ihrer Ansicht nach langfristig zu mehr Tiefe und Zufriedenheit.

„Die Wahrheit zu sagen, bedeutet alles Schlimme, was du dir vorstellen kannst“

Vorreiter der Bewegung ist der amerikanische Psychotherapeut Brad Blanton, der das Buch „Radikal ehrlich. Verwandle dein Leben – sag‘ die Wahrheit“ geschrieben hat und Workshops zum Thema anbietet. Mittlerweile ist die Bewegung weltweit aktiv. Blanton vertritt das Konzept tatsächlich recht radikal. Er schreibt in seinem Buch: „Die Wahrheit zu sagen, bedeutet alles Schlimme, was du dir vorstellen kannst. Es bedeutet, alles zu sagen, was du getan und versteckt hast. Es heißt, alles gerade den Leuten zu erzählen, von denen du glaubst, dass sie davon am meisten verletzt werden oder darüber wütend oder peinlich berührt sind. Seitensprünge sollen mit allen Details berichtet werden. Alle Fragen müssen beantwortet werden. Das heißt konkret, so lange dein Gatte kein klares Gefühl davon hat, wie toll es ist, seinen besten Freund zu vögeln, hast du noch nicht die ganze Wahrheit gesagt.“

„Manche bleiben lieber im Zustand eines ‚kontrollierten Unglücks‘ zurück“

Blanton glaubt, dass jeglicher Stress durch Lügen verursacht wird. Dabei seien wir uns meist gar nicht darüber im Klaren, wie viel wir alle jeden Tag ganz beiläufig lügen, weil wir meinen, das sei nötig, um den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Um das zu ändern, müssten wir damit aufhören, eingeübte Rollen zu spielen und uns statt dessen immer wieder fragen, wer wir wirklich sind und was wir wollen. Das ist natürlich nicht so einfach, denn die vorgegebenen Rollen geben den Menschen auch Halt. Nicht über jede Handlung neu nachdenken zu müssen, macht uns das Leben leichter. In Blantons Augen geben wir für diese Bequemlichkeit aber zu viel Verantwortung ab: „Manche bleiben lieber im Zustand eines ‚kontrollierten Unglücks‘, wie zum Beispiel einer schlechten Ehe, zurück, anstatt selbst für sich einzustehen und ehrlich zu sein.“ Er glaubt, dass das dauerhafte Verdrängen unserer wahren Bedürfnisse auf Dauer unglücklich und anfällig für Drogen und Alkohol macht. Nur durch Ehrlichkeit könnten wir unsere volle Energie nutzen: „Wahre Lebenslust können wir nur zurückgewinnen, wenn wir unsere Energie nicht mehr darauf verwenden, uns selbst und andere durch Zurückhaltung kontrollieren zu wollen, sondern wenn wir ehrlich sind.“

Die drei Stufen der Wahrheit

Brad Blanton zufolge gibt es drei Stufen der Wahrheit. Sie können gleichzeitig geschehen oder nacheinander folgen. In der ersten Phase muss alles erzählt werden, was bisher passiert ist. In der zweiten Phase geht es darum, ehrlich die eigenen Urteile offen zu legen und auszusprechen, was man in diesem Moment fühlt und über andere denkt. In der dritten Phase muss man zugeben, nicht die Person zu sein, die man vorgegeben hat. Blantons Erfahrung: „Die meisten Menschen geben auf, wenn sie den Durchbruch auf die nächste Ebene geschafft haben. Das Gefühl der Freiheit erschreckt sie zu sehr.“

Zum Weiterlesen:

www.radicalhonesty.comwww.radikalehrlich.dewww.marvinschulz.com

Brad Blanton: Radikal Ehrlich: Verwandle Dein Leben - Sag die Wahrheit, Sparrowhawk Publications, 18 Euro

Susan Campbell. Getting real. 10 Truth Skills You Need to Live an Authentic Life, Kramer Book, 14,99 Euro (nur auf Englisch)

Marvin Schulz, 35, praktiziert seit mehr als zehn Jahren Radical Honesty und gibt Seminare auf der ganzen Welt, einmal im Jahr auch in Köln. Er stammt aus dem Ruhrgebiet und lebt mittlerweile in Prag. Hier erzählt er, wie er zur Radikalen Ehrlichkeit gekommen ist und was sich seitdem für ihn verändert hat.

„Ich bin mit 24 Jahren aus persönlichem Schmerz zur Radikalen Ehrlichkeit gekommen. Da ist mir erst klar geworden, wie oft ich eigentlich lüge. Einige Lügen waren ganz klar, andere zeigten sich für mich eher dadurch, dass ich die ganze Zeit eine Rolle spiele. Früher war ich Wirtschaftsprüfungsassistent bei der KPMG in New York, da war es besonders auffällig. Ich habe die ganze Zeit so getan als wäre ich immer effizient. Das hat mich sehr viel Energie gekostet. Auch meinen Freunden habe ich Rollen vorgespielt. Alle meine Partnerinnen habe ich betrogen. Bei mir lagen noch viele Dinge von früher im Argen, die ich nie ausgeräumt hatte. Aus all diesen Gründen habe ich mir selbst nicht vertraut.

Weil mir dieses ganze Konstrukt aus Lügen, Performen und Rollen spielen zu schwer wurde, kündigte ich meinen Job in den USA. Kurz danach sah ich eine Werbung für den Radical Honesty Workshop mit Brad Blanton in Griechenland. Mir gefiel die Idee dahinter und ich meldete mich an. Ausgerechnet bei diesem ersten Workshop gab es einen anderen Teilnehmer, der Brad die ganze Zeit nur „Shut up!“ zubrüllte. Ich wollte eigentlich in der ersten Pause meine Sachen packen und wieder abhauen. Aber Brad hat das gut geregelt und ich bin geblieben.

Ist es wirklich nicht möglich zu sagen, dass man traurig ist?

In den Workshops können sich die Menschen zeigen und treten mit Teilen von sich selbst in Kontakt, die sie sonst verstecken. Wir probieren, den kommunikativen Autopiloten, den wir über Jahre aufgebaut haben, zu hinterfragen: Ist es wirklich nicht möglich zu sagen, dass man traurig ist, dass man etwas nicht mag oder dass man jemanden hübsch findet? Es geht darum, mitzuteilen, was gerade ist. Nicht denjenigen spielen, der man sein möchte und als der man im Idealfall wahrgenommen werden möchte.

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Nach meinem ersten Workshop bin ich zurück zu meinen Eltern in mein altes Kinderzimmer gezogen, sozusagen an die Quelle. Da habe ich dann so richtig verstanden, wie oft ich eigentlich Sachen unterdrücke oder nicht anspreche. Ich habe in dieser Zeit ziemlich viele Gespräche geführt, die ich nie führen wollte, zum Beispiel habe ich meinen Ex-Freundinnen erzählt, dass ich sie betrogen habe. Die waren zuerst natürlich wütend, aber später dann froh, die Gewissheit zu haben, weil sie es sich eh schon gedacht hatten. Durch die Transparenz war es für sie einfacher, die ganze Geschichte abzuhaken. Für mich selbst hatten die Gespräche auch nur Vorteile: Ich hatte nicht mehr so viel zu verstecken wie vorher und musste nicht mehr so hart arbeiten, um meine Idealbilder und meine Geschichte aufrecht zu erhalten. Dadurch habe ich mehr Präsenz gewonnen und mich freier gefühlt.

Es geht nicht darum, jedem ungefragt seine Gedanken aufzudrängen

Für mich ist es ganz wichtig, dass die Menschen verstehen, dass Radikale Ehrlichkeit nicht bedeutet, jedem ungefragt seine Gedanken und Gefühle aufzudrängen. Wir wollen auf keinen Fall, dass Ehrlichkeit zu einer Pflicht wird. Man muss nicht immer alles sagen, was man denkt. Wenn ich nur oberflächlich all meine Gedanken ausspreche, ist das oft auch nur eine Kontrollstrategie, um darunter liegende, unangenehme Sachen zu vermeiden. Ich persönlich würde Radical Honesty niemals überall in der gleichen Intensität praktizieren. Bei unseren Workshops haben alle das gleiche Ziel, da sind die Bedingungen perfekt. Aber dieses Setting hast du nicht auf der Arbeit. Auch in eine Beziehung kannst du so nicht gehen, wenn der Partner noch gar nichts von diesem Konzept weiß. Es gibt aber trotzdem immer irgendeine Art und Weise, wie ich die Wahrheit sagen kann und dabei meine Integrität bewahre. Mit wem man wie offen ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich finde es wichtig, den Menschen die Wahrheit zu sagen, mit denen ich kontinuierlich in Kontakt stehe.

Viele haben Angst vor der Wahrheit

Für die meisten Menschen ist es sehr ungewohnt, wenn ihnen jemand die Wahrheit sagt. Viele haben sogar Angst davor. Das finde ich schwierig. Ich möchte mich deshalb nicht herunter regulieren. Wenn man sich für Radikale Ehrlichkeit entscheidet, kann es passieren, dass man seinen Freundes- und Bekanntenkreis aussieben muss. Ich habe zwei oder drei Freunde dadurch verloren, aber zugleich 20 neue gefunden, mit denen ich über alles reden kann. Dadurch habe ich mehr Tiefgang im Kontakt. Ich persönlich freue mich immer, wenn jemand ehrlich zu mir ist, sogar dann, wenn er mich blöd findet. Ich kann dann sicher sein, dass nichts hinter meinem Rücken ausgetragen wird. Wenn man die Wut einfach zurückhält, wird man passiv aggressiv. Man ruft dann zu spät zurück oder kommt zu spät zu Treffen.

Natürlich ist es am Anfang nicht einfach, die eingeübten Rollen zu verlassen. Mein Rat wäre, einfach zu sagen: „Ich glaube, ich habe lange eine Rolle gespielt. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, wer ich eigentlich bin und was ich will.“ Ich finde es gut, in kleinen Schritten zu denken. Mal in sich zu horchen, was ein Thema sein könnte, mit dem man sich ein kleines bisschen unwohl fühlt, wo man sich nicht sicher ist, ob man das sagen kann. Zu schauen, wie der Körper darauf reagiert. Und dann wieder zur Sicherheit zurückkehren. Es kann zum Beispiel reichen zu sagen: „Ich habe dir vorgespielt, dass ich immer kompetent bin. Bin ich aber oft gar nicht.“ Es geht nicht darum, mit der Brechstange das ganze Haus einzureißen.

Noch nie ist etwas schlechter dadurch geworden, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Einige Male habe ich allerdings daran gezweifelt, ob der Zeitpunkt der richtige war, vor allem beim Gespräch mit meinen Eltern. Ich hatte noch ziemlich viele Sachen aus der Jugend und Kindheit nicht verarbeitet und noch viel Trauer, Verletzung und Wut in mir. Als ich angefangen habe, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, ist unsere Beziehung zuerst schlechter geworden. Jetzt ist sie aber so gut wie niemals zuvor.

Die Ehrlichkeit macht einen freier

Natürlich ist es nicht immer angenehm, die Wahrheit zu sagen. Aber wenn die Karten einmal auf dem Tisch liegen und alles draußen ist, kann man bewusst entscheiden, wie und ob die Beziehung weitergeht. Das ist am Ende einfacher, als ständig krampfhaft zu versuchen, die Sachen beisammen zu halten. Die Ehrlichkeit macht einen freier. Wenn man nicht mehr seine Geschichten und sein Ideal-Selbstbild verteidigen und Sachen verstecken muss, hat man mehr Raum für wahrhaftige Beziehungen. Die meisten Menschen, die Radical Honesty praktizieren, fühlen sich wieder lebendiger.“