Wagner ist 40 Jahre alt, als ihr Körper plötzlich wegsackt. Sie kann nicht mehr sprechen, ihre rechte Gesichtshälfte hängt. Schlaganfall, so die Diagnose.
Schlaganfall mit 40Wie die Bonnerin Katharine Wagner sich ihre Sprache zurückeroberte
Als Katharine Wagner im Oktober 2017 in einem Bett der Uniklinik Bonn aufwacht, nimmt sie einen Ton wahr. „Tütütüt“ surrt es in ihrem Ohr, sie schaut sich um, fragt sich, wo die Geräusche wohl herkommen. Bis sie merkt: „Das bin ich ja selber.“ Und dann still ist.
„Mir dämmerte, dass das gar nicht sinnvoll ist, was ich da von mir gebe“, sagt die heute 45-Jährige. Fragen blitzen auf: Warum bin ich im Krankenhaus? An einen Unfall kann sie sich nicht erinnern. Warum stehen Ärzte mit begeisterten Minen an ihrem Bett? Sich mit ihren Fragen an ihre Umwelt wenden, kann Katharine Wagner nicht. Aphasie. Ihre Sprache ist verschwunden.
Katharine Wagner ist 40 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, Grundschullehrerin, Skifahrerin, begeisterte Tennisspielerin, sie ist virtuos an der Geige und drischt mit Leidenschaft den Badmintonball im Wettstreit gegen ihren Mann. Sie fühlt sich gesund. Und dann muss sie sich an diesem Morgen im Oktober kurz nach dem Aufstehen plötzlich auf den Toilettendeckel im Badezimmer setzen. Es ist sieben Uhr. Ihre rechte Gesichtshälfte hängt schlaff.
Als ihr Mann sie findet, sinkt sie ihm entgegen. Sie ist nicht ansprechbar. Er ruft sofort den Rettungswagen, die Uniklinik ist gleich um die Ecke. Innerhalb von zehn Minuten ist sie im Krankenhaus. Die Schnelligkeit, mit der ein Reaktionsrädchen in das nächste greift, ist ihr Glück. Denn Katharine Wagner hatte einen Schlaganfall. Und in diesem Fall gilt das Mantra: Time ist brain.
Hallo. Nein. Ja – Jedes Wort muss nach dem Schlaganfall neu gelernt werden
Wenn Katharine Wagner heute, sechs Jahre später, über die Tage im Oktober 2017 erzählt, dann legt sie nach jeder Frage eine Pause ein, die minimal zu lang ist. Als würde sie in ihrem Kopf wenige Sekunden in unterschiedlichen Schubladen nach den richtigen Worten kramen. Um die Satzpakete dann aber komplett korrekt und sprachgewandt an ihren Adressaten zu liefern. Der Weg, den Wagner bis hierhin hinter sich gebracht hat, zog sich durch unwegsames Gelände. Hallo. Nein. Ja. Hat ihr eine Logopädin noch in der Uniklinik beigebracht. Geige. Einfache Wörter auf Bilderkarten.
Sie übt mit ihren Kindern, 4, 9, 11 Jahre sind sie damals alt. In einer Aachener Spezialklinik für Aphasie paukt sie ab Dezember täglich vier bis fünf Stunden. „Das war so anstrengend. Ich musste zwischendurch immer wieder schlafen. Ich habe dem Therapeuten gesagt: Ich kann nicht mehr. Aber ich habe weitergemacht.“ Ende Januar, gut drei Monate nachdem ein Blutgerinnsel ihr Gehirn verstopfte, kann sie den Akkusativ wieder vom Dativ unterscheiden. Der Mann fuhr mit dem Bus und erkannte eine Frau.
Fünf bis acht Prozent der Schlaganfall-Patienten sind jünger als 55 Jahre
In Deutschland erleiden etwa 270.000 Menschen im Jahr einen Schlaganfall. 60.000 sterben daran, allein in NRW waren es nach Zahlen des Statistischen Landesamtes 10.059 im Jahr 2021. Damit ist der Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Das Alter ist ein Risikofaktor, dennoch kann die Krankheit auch junge Menschen und Kinder treffen. Fünf bis acht Prozent aller Schlaganfallpatienten sind jünger als 55 Jahre. 90 Prozent aller Fälle sind auf behandelbare Ursachen wie Übergewicht, Diabetes, hoher Blutdruck, Herzprobleme wie Vorhofflimmern, hohe Cholesterinwerte, Alkohol, Stress, Bewegungsmangel, Rauchen und schlechte Ernährung zurückzuführen.
Katharine Wagner litt unter keiner dieser Ursachen. Schuld am Notfall war in ihrem Fall eine bis dahin unentdeckte Autoimmunerkrankung. Antiphospholipid-Syndrom. Symptome sind Fehlgeburten, aber auch Thrombosen. Ein Blutgerinnsel habe sich im Bein gelöst. Da Wagners Herz zudem wie bei gar nicht wenigen Menschen ein kleines Loch aufweist, konnte das Gerinnsel vom venösen in das arterielle System hinüberschwappen und von dort ins Gehirn wandern, so die Diagnose der Ärzte.
Bei einem Schlaganfall wird das Gehirn nicht mehr richtig durchblutet, zum Beispiel eben weil ein Blutgerinnsel ein Gefäß verstopft. In selteneren Fällen sind zudem Blutungen im Gehirn Auslöser. Bemerkbar macht sich ein Schlaganfall durch Sprachstörungen, Lähmungen, Schwindel oder starke Kopfschmerzen. Wer nicht sicher ist, ob die Rettung zu informieren ist, kann die FAST-Regel anwenden: Betroffene sollen mit beiden Mundwinkeln lächeln, beide Arme heben und einen Satz nachsprechen können. Wenn nicht mehr alles davon geht: Sofort Notruf 112 wählen.
„Der fatalste Fehler ist abzuwarten, ob es von allein wieder besser wird. Oder erstmal schlafen gehen“, sagt Professor Christian Dohmen, Chefarzt der Abteilung Neurologie und neurologische Intensivmedizin an der LVR-Klinik Bonn und Beauftragter der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe. Denn auch wenn ein Schlaganfall anders als ein Herzinfarkt laut Dohmen in der Regel keine Schmerzen verursacht: Je länger das Gehirn ohne Sauerstoff bleibt, desto mehr Zellen sterben und desto größer ist der Schaden. „In den vergangenen Jahren konnten wir in der Akuttherapie das Zeitfenster, in dem wir Hirnareale retten können, zwar enorm ausdehnen. Dennoch: In den ersten Stunden sind die Erfolge am vielversprechendsten.“
Viele Betroffene verlieren nach einem Schlaganfall anhaltend die Kontrolle über einige Körperteile und bleiben etwa gehbehindert, manche sind auf einen Rollstuhl angewiesen oder beim Sprechen eingeschränkt. Jüngere Menschen erholen sich schneller und mit größerer Wahrscheinlichkeit als ältere.
Katharine Wagner: „Bei der Tagesschau bin ich in den ersten Monaten schon nach zwei Minuten ausgestiegen“
Katharine Wagners Lähmung ist schon nach der sogenannten Lyse im Krankenhaus verschwunden. Ein Grund für die Ärzte-Euphorie am Krankenbett der da noch sprachlosen Patientin. Kochen, Fahrradfahren, die Geige im Orchester streichen, Skifahren – alles funktioniert auch nach dem Schlaganfall weitgehend tadellos. Nur das Sprechen, das bei den meisten Menschen in der linken Gehirnhälfte angesiedelt ist, das funktioniert zunächst gar nicht mehr. Auch Verstehen fällt ihr erstmal schwer. „Bei der Tagesschau zum Beispiel bin ich in den ersten Monaten schon nach zwei Minuten ausgestiegen. Das war mir zu komplex.“ Sie robbt sich mühsam ran.
Aber auch heute ist Wagners Weg zurück zu den Fähigkeiten vor ihrem Schlaganfall noch nicht zu Ende. Da warten noch Aufgaben. Englisch zum Beispiel. Konnte sie einstmals fließend sprechen. Heute versteht sie das meiste, wenn sie englische Serien guckt. „Wenn mich aber jemand auf Englisch anspricht, werde ich panisch und kriege nur einzelne Worte raus. Das läuft nicht gut.“ Eine Mail schreiben, was früher nebenher funktionierte, ist heute ein Projekt für Stunden geworden. „Ich muss lange überlegen, um einen guten Einstieg zu finden, die Grammatik überprüfen, nachdenken, ob ich nicht einen wichtigen Punkt vergessen habe.“ Liedtexte sind auch weg, was die Musikpädagogin frustriert. „Ich habe keine Ohrwürmer mehr. Man kann den ganzen Tag dasselbe Lied neben mir singen. Es kommt doch nicht richtig bei mir an.“ Selbst das Mitsingen im Karneval wird da zum Projekt. „Ich kann die Texte natürlich wieder üben. Aber wer setzt sich schon hin und paukt mühsam den Text von Kölle allaf?“
Ihren Beruf als Grundschullehrerin kann sie nicht mehr wie früher ausüben. „Kopfrechnen geht gar nicht, ich kann mir schon die Zahlen kaum merken. Englisch kann ich auch nicht mehr. Mich auf 25 Kinder auf einmal konzentrieren? Das ist unmöglich.“ Aber verrenten lassen? Will sie keinesfalls. Ihr Angebot an das Schulamt: „Ich könnte Deutsch als Zweitsprache unterrichten.“ Zehn Stunden, verteilt auf vier Tage die Woche, denn Wagner braucht Pausen. Im Amt nimmt man begeistert an. Denn auch für die Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, ist mehrmaliger Unterricht die Woche von Vorteil.
Der Schlaganfall hat Katharine Wagners Leben durcheinandergewirbelt. Er hat sie viele Nerven und Anstrengung gekostet. Aber eine positive Nebenwirkung hatte er auch im Gepäck: „Ich bin gelassener geworden. Unsere Welt rast. Die Menschen rappeln ein unglaubliches Programm runter. Und ich war früher auch oft gestresst. Heute denke ich: Vielleicht ist es auch ok, dass ich jetzt langsamer bin. Ich kann das Leben dadurch bewusster wahrnehmen.“ Wenn die Kinder sich einen komplizierten Sachverhalt erklären lassen wollen, dann fragten sie heute eher den Vater. Aber: Im Tennis, sagt sie lachend, sei sie ihrem Mann auch heute noch überlegen.
Chor für Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen
Das Aphasie-Regionalzentrum Köln-Bonn will seinen Chor für Menschen mit neurologischen und insbesondere sprachlichen Beeinträchtigungen nach einer Corona-Pause wieder starten und sucht noch nach Mitgliedern. Wer Lust hat, kann sich melden bei:
Susanne Okreu, Akademische Sprachtherapeutin, Aphasie-Regionalzentrum Köln-Bonn, e.V., Irmintrudisstr 15, 53111 Bonn oder 0228/6293680