Adipositas nimmt weltweit stark zu. Was dagegen hilft, ist Bewegung. Bloß fällt Menschen mit starkem Übergewicht das Sporttreiben oft schwer. Diese Kölner Sportmedizinerin weiß Rat.
Neue Adipositas-StudieWie Menschen mit Übergewicht den Sport finden, der zu ihnen passt
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit leiden an Adipositas, berichtet die Fachzeitschrift „The Lancet“. Der Anteil der stark Übergewichtigen in der Bevölkerung habe sich seit 1990 mehr als verdoppelt, unter Heranwachsenden zwischen 5 und 19 Jahren sogar vervierfacht, heißt es. Die WHO spricht von einer „Adipositas-Epidemie“. In Deutschland lag der Anteil bei Frauen mit Adipositas nach dieser Studie im Jahr 2022 bei 19 Prozent, bei Männern bei 23 Prozent.
Ein Weg, dem Übergewicht entgegenzuwirken, ist Bewegung. Sie tut gut und macht den Kopf frei und stärkt den Körper. Vielen Menschen mit Übergewicht fällt es aber schwer, regelmäßig Sport zu treiben. Ihnen fehlt die Erfahrung, dass Bewegung etwas Schönes sein kann. Manche schämen sich auch für ihren Körper oder wissen ganz einfach nicht, welche Sportart sie wählen sollen.
Oft wird Menschen mit Übergewicht nur Walken und Schwimmen empfohlen, dabei ist jede Sportart möglich. „Das Wichtigste ist, dass Sie etwas finden, das ihnen Spaß macht“, sagt Prof. Christine Joisten. Sie ist Sportmedizinerin, Leiterin der Abteilung Bewegungs- und Gesundheitsförderung an der Deutschen Sporthochschule Köln und Adipositas-Expertin. Sie gibt Tipps, wie Menschen mit Übergewicht in Bewegung kommen und dran bleiben.
Der erste Schritt ist, die Alltagsaktivitäten zu steigern
„Anfangen ist im Grunde genommen sehr einfach“, macht Joisten Mut. Dazu müssen Sie sich keine Fitnessausrüstung zulegen, Mitgliedsverträge abschließen und ein Riesen-Programm vornehmen, sondern erstmal überhaupt in Bewegung kommen, indem Sie die Alltagsaktivitäten steigern. Nehmen Sie die Treppe, gehen Sie öfter zu Fuß, fahren Sie mit dem Rad. Als Faustformel gilt die Regel: immer zehn Minuten mehr als beim Mal davor. Wenn Sie sich von Zahlen motivieren lassen, installieren Sie einen Schrittzähler und nehmen sich zum Ziel, täglich 1000 Schritte mehr zu gehen als am Vortag. „Die Steigerung der Bewegung ist maßgeblich für die Gesundheit“, erklärt Joisten. Und weiter: „Den Schrittzähler müssen Sie ja niemandem zeigen, machen Sie das nur für sich allein, wenn Ihnen das lieber ist.“
Scham hindert viele Menschen daran, anzufangen
Wenn es doch so einfach ist und jeder weiß, dass Bewegung wichtig ist: Warum bewegen sich dann trotzdem viele Menschen so ungern? Als häufigste Begründung dient die Evolution, die uns noch immer dazu verleitet, wenn möglich Energie für den Notfall einzusparen, sodass es oft reizvoller erscheint, auf dem Sofa zu liegen als sich zu bewegen. Der andere Grund hat sehr viel mit Gefühl zu tun. Viele Menschen mit Übergewicht haben wenig gute Erfahrung gemacht und selten fühlen können, dass Bewegung etwas Positives ist und ihnen guttut. Für sie bleibt es die reine Pflicht. „Wir müssen in die Herzen der Menschen hinein. Freude am Sport ist eine sehr emotionale Sache“, sagt Joisten.
Auch Scham hindert viele Betroffene daran, mit dem Sport anzufangen oder weiterzumachen. Beim Sport lässt sich der Körper schließlich schlecht verstecken. Dazu kommt die Sorge, nicht mit den anderen mithalten zu können. „Wir vergessen schnell, dass Menschen mit Übergewicht sehr oft in ihrem Leben stigmatisiert worden sind. Dieser Stachel kann sehr tief sitzen“, weiß Joisten. Manchmal sind es auch ganz praktische Hürden, an denen die Bewegung scheitert. So dürfen viele Geräte in Fitnessstudios ab einem Gewicht von 150 Kilo nicht mehr genutzt werden, passende und hübsche Sportkleidung gibt es für Menschen mit Übergewicht auch eher selten. „Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass alle gemeinsam trainieren sollten. Jeder sollte im Fitnessstudio willkommen sein. Aber es wäre schon gut, wenn es für Übergewichtige einen entsprechend ausgerichteten Schonraum gäbe, in dem sie sich ausprobieren könnten“, meint Joisten.
Mehr Information und Hilfe
Die Abteilung für Bewegungs- und Gesundheitsförderung der Deutschen Sporthochschule betreibt mit @gesund.to.go einen eigenen Instagram-Kanal mit alltagstauglichen Tipps für mehr Bewegung und besseres Essen. | Der Adipositasverband Deutschland bietet ebenfalls Informationen und Selbsthilfegruppen für Menschen mit Übergewicht unter: www.adipositasverband.de | Adipositaschirurgie Selbsthilfe Deutschland e.V.: www.acsdev.de | Adipositas Hilfe Deutschland e.V.: www.adipositas-selbsthilfe.de
Je mehr Bewegung, desto mehr Freude daran
Und das Ausprobieren lohnt sich. Wer einmal in Bewegung gekommen ist, wird schnell merken, wie gut das tut und mehr davon wollen. Doch diesen wichtigen Punkt erreichen viele Menschen gar nicht, weil sie vorher frustriert wieder aufhören. „Dabei kommt das Erfolgserlebnis sehr schnell. Vor allem, wenn man vorher wenig gemacht hat, erlebt man sehr bald eine massive Steigerung der körperlichen Fitness“, macht Joisten Mut. Weil viele Menschen ihr Gefühl für die eigene Körperwahrnehmung verloren hätten, sei jeder kleine Bewegungsreiz wirksam. Muskelmasse ist nicht nur für die Stütze des Skelettes wichtig, sondern auch für den Stoffwechsel und die Gesundheit an sich. Fettgewebe setzt dagegen Entzündungsfaktoren frei, die die Entstehung von Krankheiten begünstigen. Joisten: „Der übergewichtige Fitte hat deshalb meistens eine bessere Lebensprognose als der schlanke Unfitte.“
Die richtige Sportart für Menschen mit Übergewicht? Jede!
Aber wie kommt man nun am besten in Bewegung? Wie finden Betroffene einen Sport, der ihnen Freude macht und den sie gerne und nicht als Pflichtprogramm ausüben? Lange wurden übergewichtigen Menschen nur Walken, Radfahren und Schwimmen als Bewegungsmöglichkeiten angeboten. „Wenn man das nicht mag, wird man das nicht machen. Dabei gibt es viel mehr Arten, sich zu bewegen“, sagt Joisten.
Grundsätzlich ist der Expertin zufolge jede Sportart für übergewichtige Menschen geeignet, sofern sie auf den individuellen gesundheitlichen Zustand angepasst wird. Das bedeutet: für den Anfang etwas langsamer, etwas weniger Gewicht, mehr Wiederholungen. Im Zweifel sollte man vor dem Start eine sportmedizinische Untersuchung machen, besonders wenn Vorerkrankungen am Herz oder Diabetes vorliegen. „Jede Sportart ist in sich noch einmal sehr vielfältig. Wie intensiv Sie trainieren, kommt auf den individuellen Zustand an“, sagt Joisten. Um Überlastung zu vermeiden, sollten Sie darauf achten, dass es Ihnen gut geht. Wenn übermäßige Atemnot, Herzrhythmus-Störungen und Schwindel auftreten, sollten Sie aufhören. Kommt das öfter vor, muss ein Arzt zurate gezogen werden.
„Tanzen wird total unterschätzt“
Wer Schwierigkeiten hat, einen passenden Sport für sich zu finden, sollte sich daran erinnern, was ihm früher Spaß gemacht hat. Viele Menschen haben Freude daran, sich zu Musik zu bewegen. „Tanzen wird oft total unterschätzt, ist aber gesundheitlich genauso gut wie anderer Sport“, sagt Joisten. Auch Krafttraining wirkt sich positiv auf den Bewegungs- und Ausdauerapparat aus. „Das können Sie auch gut mit Flaschen oder kleinen Gummibändern zu Hause machen“, so die Expertin. Zum Ausprobieren weiterer Sportarten im sicheren Rahmen eignen sich Online-Kurse. „Machen Sie das eigene Wohnzimmer zum Fitnessstudio im geschützten Rahmen und finden Sie ganz in Ruhe heraus, was Ihnen liegt“, rät Joisten.
Eine andere gute Möglichkeit ist es, gemeinsam mit Freunden verschiedene Sportarten auszuprobieren, so ist die Hemmschwelle nicht so groß. Feste Termine für Sport, die man nicht so einfach absagen kann, können dabei helfen, am Ball zu bleiben und den Alltag zu strukturieren.
Gleichgesinnte können besser motivieren
Fitte, schlanke, sportliche Menschen haben leicht reden und befinden sich in den Augen mancher Übergewichtiger auf einem anderen Planeten. Ein sehr viel besseres Verständnis gibt es mit Gleichgesinnten, zum Beispiel in Adipositas-Selbsthilfegruppen, für die die Deutsche Sporthochschule sogenannte Bewegungscoaches ausbildet. Wichtiger Punkt: Die Coaches sind selbst Betroffene. „Ein wunderbarer und ganz niedrigschwelliger Ansatz. Es ist sehr interessant, was passiert, wenn Gleichgesinnte unter sich sind. Das ist eine ganz andere Dynamik, als wenn ich als Ärztin von der Sporthochschule Köln vor den Menschen steh und von den Vorteilen der Bewegung rede“, erzählt Joisten.