Stand der ForschungWarum es bis heute nicht möglich ist, Alzheimer zu heilen
- Seit mehr als 100 Jahren ist die Alzheimer-Krankheit bekannt. Eine Heilung ist bis heute nicht möglich.
- Lange galten Plaques im Gehirn als Auslöser – wie es aussieht, zu Unrecht. Neue Ansätze, wie etwa die von Forschern aus Jülich, geben Anlass zur Hoffnung.
- Wir geben einen Einblick in den Stand der Forschung und haben Anlaufstellen in Köln zusammengestellt, wo Demenz-Betroffene und Angehörige Hilfe bekommen.
Gerade erst 51 Jahre alt ist Auguste Deter, als sie im Jahr 1901 in die Städtische Irrenanstalt Frankfurt eingeliefert wird. Sie ist verwirrt, vergesslich und nicht mehr in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen – alles Symptome, die eher bei älteren Menschen bekannt sind. Der Nervenarzt Dr. Alois Alzheimer hält die Krankengeschichte von Auguste Deter fest. Nach ihrem Tod entdeckt er erstaunliche Veränderungen in ihrem Gehirn: Unter dem Mikroskop sichtet er nicht nur zahlreiche abgestorbene Nervenzellen, sondern auch auffällige Eiweißablagerungen. Er unterscheidet zwei Typen: zum einen flächige Beläge zwischen den Nervenzellen, heute als Beta-Amyloid-Plaques bekannt; zum anderen eine Struktur feiner Fasern in den Nervenzellen, die sogenannten Tau-Fibrillen.
Alois Alzheimer wird der Namensgeber für das Krankheitsbild. Die Eiweißablagerungen gelten spätestens seit den 1960er Jahren als Ursache für die zerstörten Zellen und das Vergessen. Üblicherweise erkranken die Menschen aber deutlich später als Auguste Deter, in der Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigen sind es lediglich drei Prozent, ab 85 Jahren aber jeder Fünfte.
Die Alzheimer-Krankheit ist nicht die einzige Form von Demenz, aber die häufigste: In Deutschland sind zwei Drittel der 1,6 Millionen Demenz-Kranken davon betroffen. „Von der Alzheimer-Krankheit sprechen wir, wenn beide Ablagerungen, also Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen, zusammen auftreten“, erläutert Professor Dieter Willbold, Direktor am Jülicher Institut für Strukturbiochemie.
Zwei Ablagerungsformen
Auf der Suche nach einem Mittel gegen die heimtückische Krankheit konzentrierte sich die Forschung lange Zeit auf eine der beiden Ablagerungen: die Amyloid-Plaques. Ein Grund waren genetische Befunde. Jeder Mensch produziert mit Hilfe von Enzymen Amyloid-Proteine aus einem sogenannten Vorläuferprotein. Allerdings kann es zu Gen-Mutationen des Vorläuferproteins oder der Enzyme kommen. Das kann dazu führen, dass sich besonders viele Amyloid-Proteine bilden. Die davon Betroffenen erkranken sehr früh in ihrem Leben an Alzheimer. Eine kleine isländische Bevölkerungsgruppe hat dagegen eine Mutation entwickelt, durch die der Körper kaum Amyloid-Proteine produziert. Das macht diese Menschen offenbar nahezu resistent gegen Alzheimer.
Aufgrund dieser Erkenntnisse galt lange ein Zuviel von Amyloid-beta-Proteinen als Hauptursache für die Plaques und damit für die Krankheit. Zwei Ideen standen folglich im Mittelpunkt: Wenn man die Plaques mit bildgebenden Verfahren früh sichtbar machen kann, kann man die Krankheit sicher diagnostizieren. Lässt sich ein Wirkstoff finden, der die für die Plaques verantwortlichen Amyloid-Proteine entweder zerstört oder sie gar nicht erst entstehen lässt, ist die Krankheit besiegt. Leider stellt sich beides als falsch heraus. Einige Wirkstoffe, die derzeit entwickelt und getestet werden, verringern zwar die Ablagerungen im Gehirn der Betroffenen, aber es gelang bisher mit keinem, den geistigen Verfall zu stoppen.
Einen weiteren Hinweis, der gegen die Plaques als Ursache spricht, lieferte die vielbeachtete „Nonnenstudie“. Der amerikanische Epidemiologe David Snowdon und sein Forschungsteam dokumentieren seit 1986 fortlaufend die geistige und körperliche Verfassung von knapp 700 Nonnen im Alter zwischen 75 und 107 Jahren. Nach deren Tod, so haben es die Nonnen verfügt, werden die Gehirne der Verstorbenen der Wissenschaft gespendet. Es stellte sich heraus, dass zahlreiche Teilnehmerinnen der Studie die typischen Ablagerungen im Gehirn aufwiesen und trotzdem bis ins hohe Alter geistig topfit gewesen waren.
Wo erhalten Demenz-Betroffene und Angehörige Hilfe? Wir haben Ihnen die wichtigsten Alaufstellen in Köln zusammengestellt.
Mehrere große Konzerne haben nach diesen Rückschlägen das Handtuch geworfen und sich entweder aus der Alzheimerforschung komplett zurückgezogen oder Studien abgebrochen: so wie der Konzern Eli Lilly 2016 – nach über 27 Jahren Forschungs- und Entwicklungszeit und der Investition von rund drei Milliarden US-Dollar – sowie Anfang 2018 die Unternehmen Pfizer und Merck. Dennoch muss die Forschung nicht von vorne anfangen. Die bisherigen Erkenntnisse sind weiterhin die Basis. Es könnte jedoch sein, dass potenzielle Wirkstoffe einen Schritt früher ansetzen müssen.
Zur Autorin
Unsere Autorin Brigitte Stahl Busse hat sich für diesen Artikel intensiv mit der Alzheimer Krankheit befasst – als Wissenschaftsjournalistin, aber auch als Tochter einer Betroffenen. Ihre Mutter (84) leidet seit sieben Jahren an einer inzwischen rasch voran schreitenden Demenz.
Die Recherche über den aktuellen Stand in der Alzheimerforschung wurde für Brigitte Stahl Busse so zu einer Art Gratwanderung. „Als Journalistin behält man üblicherweise eine gewisse Distanz zu den Menschen und Themen, über die man berichtet. Sich journalistisch mit der Demenzerkrankung der eigenen Mutter auseinanderzusetzen, ist emotional und auch aus professioneller Sicht Schwerstarbeit“, sagt sie. Trotzdem hat sie sich dafür entschieden, neben Forschungsergebnissen auch die Erkrankung ihrer eigenen Mutter durch eine Reihe von Zitaten zu dokumentieren. Sie ermöglicht uns so einen kleinen, aber bewegenden Einblick in das Wesen der Krankheit des Vergessens. Für sie selbst war das Schreiben dieses Artikels eine professionelle Aufarbeitung der eigenen Situation, mit der sie anderen Betroffenen Mut machen kann: „Es hilft durchaus, sich und die Familie ab und an aus der beruflichen Distanz zu betrachten. Das macht es für mich tatsächlich einfacher, mit der Erkrankung umzugehen“.
Inzwischen gehen Mediziner und Wissenschaftler nämlich davon aus, dass eine Vorstufe der Beta-Amyloid-Plaques der wahre Schuldige ist. „Offensichtlich sind es sogenannte Amyloid-Oligomere, die die Hirnfunktion beeinträchtigen, indem sie die Prozesse an den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, stören“, erläutert Dieter Willbold. Die Oligomere entstehen, wenn sich die Moleküle des Amyloid-beta-Proteins zufällig zu kleinen Molekülverbünden zusammenschließen. Erst wenn sich diese Molekülverbünde weitergruppieren, entstehen die flächigen Plaques, die Alois Alzheimer entdeckte. Diese sind unlöslich und lagern sich zwischen den Nervenzellen ab.
Schneeballeffekt führt zu Massensterben der Zellen
Anders die Oligomere: Sie sind kleiner als die Plaques, löslich und können sich daher in der Flüssigkeit des Gehirns frei bewegen. „Erst moderne Technik hat es allerdings ermöglicht, die Oligomere vor rund 15 Jahren zu entdecken. Sie gelten mittlerweile als wichtiger Treiber im Krankheitsgeschehen bei Alzheimer“, so der Jülicher Experte. Denn offenbar haben sie auch Einfluss auf die anderen Ablagerungen, die Alzheimer entdeckt hatte, die Tau-Fibrillen. Deren Bildung kann unter anderem durch die Amyloid-Oligomere angestoßen werden. Die Oligomere docken auf der Oberfläche von Nervenzellen an und lösen dort ein folgenreiches Signal im Inneren der Zelle aus. Es aktiviert ein zellinternes Enzym, das ein anderes Eiweiß verändert: Tau-Proteine. Normalerweise helfen diese, die Struktur von Nervenzellen und deren Transportwege zu stabilisieren. Durch die Veränderungen werden diese Proteine jedoch „klebrig“. Sie lagern sich zusammen und bilden unlösliche Fasern, die Fibrillen. Die Folge: Die betroffene Zelle stirbt ab.
Und es kommt noch schlimmer. Fatalerweise tauschen Nervenzellen Tau-Proteine untereinander aus. Sie machen dabei keinen Unterschied zwischen normal strukturiertem Tau und der veränderten, klebrigen Variante. Es entsteht ein Schneeballeffekt, bei dem immer mehr veränderte Tau-Proteine weitergegeben werden und sich immer mehr von ihnen verknäulen. Das irreversible Massensterben von Nervenzellen beginnt. In diesem Stadium zeigen sich bei den Betroffenen erste geistige Einschränkungen.
Daher gelten Wirkstoffkombinationen als vielversprechend, die sowohl auf Amyloid-beta-Oligomere als auch auf die veränderten Tau-Proteine abzielen. Dieter Willbold und sein Team haben zunächst eines der beiden möglichen Ziele in Angriff genommen. Sie entwickelten ein Eiweißmolekül – ein Peptid mit der Bezeichnung PRI-002 –, das die Amyloid-beta-Oligomere zerstört.
Der Wirkstoff führte bei Mäusen mit alzheimerähnlichen Symptomen dazu, dass sie sich wieder besser im Raum orientieren konnten. So waren sie in der Lage, sich an die Position einer Rettungsplattform in einem Schwimmbecken zu erinnern. Ohne Wirkstoff schwammen sie bei jedem Versuch ziellos umher, ohne die unter der Wasseroberfläche verborgene Plattform zu entdecken – im Gegensatz zu gesunden Mäusen, die nach dem ersten Versuch immer zielstrebig die Plattform ansteuerten.
Gesunde Testpersonen
Im September 2017 gründete sich die Priavoid GmbH aus dem Forschungszentrum Jülich aus, um aus dem Wirkstoff ein marktreifes Medikament zu entwickeln. Nach erfolgreichen vorklinischen Sicherheits- und Verträglichkeitstests ist im April 2018 die klinische Phase-I-Studie gestartet. Hierbei nehmen rund 40 gesunde Testpersonen den Wirkstoff ein, um herauszufinden, wie gut sie ihn vertragen. „Die Tests mit den ersten Probanden sind bislang ohne Nebenwirkungen verlaufen“, berichtet Willbold.
Bis zu einer möglichen Zulassung des Medikaments ist jedoch Geduld gefragt: Durchschnittlich vergehen sieben Jahre vom Start einer Phase I bis zur Marktzulassung, wobei es nur ein Fünftel aller getesteten Wirkstoffe von der Phase I bis dahin schafft. Und es braucht Geld, viel Geld: Die Entwicklungskosten können in die Milliarden gehen. Benötigt werden aber nicht nur passende Wirkstoffe, sondern auch bessere Studien, um deren Wirksamkeit zu testen. Denn ein wichtiger Grund für das Scheitern zahlreicher bisheriger Studien, so sind sich die Forscher einig, ist die Auswahl der Probanden. Bisher wurden für solche Studien Patienten mit leichten bis schweren Anzeichen von Demenz rekrutiert. „Da sich die Krankheit aber schon Jahrzehnte vor den ersten mentalen Einschränkungen im Gehirn ausbreitet, ist es entscheidend, auch Betroffene in die Studien aufzunehmen, bei denen sich noch keine Symptome zeigen“, sagt Dieter Willbold.
Basis dafür ist eine verlässliche und vor allem frühzeitige Diagnose von Alzheimer. Daran arbeiten Forscher weltweit mit Hochdruck. Erst seit wenigen Jahren lassen sich Amyloid- beta-Plaques und Tau-Fibrillen mit bildgebenden Verfahren bei Patienten darstellen. Und dank fortgeschrittener Technik lassen sich inzwischen auch ganz bestimmte Biomarker in der Rückenmarksflüssigkeit aufspüren, die schon bis zu 15 Jahre vor den ersten Anzeichen einer Demenz verraten, ob jemand mit hoher Wahrscheinlichkeit erkranken wird.
„Ideal wäre ein günstiger Bluttest, der schon geringste Veränderungen des Gehirnstoffwechsels anzeigt, bevor ein Großteil der Nervenzellen unwiederbringlich verloren ist“, sagt der Biophysiker Dr. Oliver Bannach, Mitarbeiter im Team von Dieter Willbold. Die Jülicher Wissenschaftler haben für ein solches Diagnoseverfahren ebenfalls die Amyloid-beta-Oligomere ins Visier genommen. Oliver Bannach schildert den Stand des Verfahrens: „Mit fluoreszierenden Sonden spüren wir selbst kleinste Mengen der Oligomere in der Rückenmarksflüssigkeit von Alzheimer-Patienten auf.“ Die Forscher konnten hierbei einen klaren Zusammenhang zwischen der zunehmenden Menge von Amyloid-Oligomeren und dem Fortschreiten der Krankheit feststellen.
„Unser Ziel ist aber ein Bluttest“, sagt Bannach, der im Februar 2018 gemeinsam mit Kollegen vom Forschungszentrum und von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf die Firma attyloid GmbH gegründet hat, um den Test zu kommerzialisieren. „Flüssigkeit aus dem Rückenmark sollten nur Spezialisten entnehmen, Blut abnehmen kann auch der Hausarzt. So könnten Patienten schneller eine Diagnose erhalten“, so Bannach. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern erweitert er daher gerade das Portfolio. Die Firma will verschiedene Tau-Aggregate und weitere Moleküle in Blutproben nachweisen, um früher und besser zwischen unterschiedlichen neurodegenerativen Erkrankungen unterscheiden zu können. Trotz aller Fortschritte bleibt aber die Frage offen, wieso manche Menschen trotz erdrückender biologischer Beweise, die für eine Alzheimer-Demenz sprechen, geistig dennoch hellwach sind. Einen Hinweis zur Lösung des Rätsels liefert die bereits erwähnte Nonnenstudie – genauer gesagt die persönlichen Biografien der Teilnehmerinnen. Nonnen, die in ihrer Jugend über einen reichen Wortschatz verfügten, erkrankten in fortgeschrittenem Alter, trotz zahlreicher Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen im Gehirn, gar nicht oder sehr viel später an Alzheimer als Frauen, die nur über eine einfache Ausdrucksweise verfügten.
Das Gehirn kompensiert
„In unseren Studien konnten wir diesen Effekt bestätigen“, sagt Gérard Nisal Bischof vom Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin. Die Forscher fanden im gleichen Krankheitsstadium bei Patienten mit einem höheren Bildungsgrad eine deutlich höhere Zahl von Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen im Gehirn als bei Patienten mit einem geringeren Bildungsniveau.
Der Bildungsgrad, aber auch die meist damit einhergehende gesündere Lebensweise scheinen in direktem Zusammenhang damit zu stehen, inwieweit das Gehirn Defizite durch das fortschreitende Zellsterben kompensieren kann. Offenbar versucht das Gehirn, Aufgaben aus bereits abgestorbenen Bereichen in andere Hirnareale zu verlagern.
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Bischof betont zudem die Verknüpfung zwischen körperlicher und geistiger Fitness. Menschen mit einem unkontrollierten hohen Blutdruck, so fanden Forscher heraus, haben mehr Amyloid-beta-Ablagerungen im Gehirn als solche mit niedrigem Blutdruck.
Sogar für die vererbte Form von Alzheimer konnte dieser Befund nachgewiesen werden. „Sport ist also enorm wichtig, und sei es nur ein Spaziergang. Denn was dem Herz gut tut, ist auch für den Kopf gut“, hebt er hervor.