Krankheitsbild im „Tatort“Wen das Stendhal-Syndrom ereilt

Touristen aufgepasst: Florenz kann ganz schön überfordern.
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Köln – Vor Florenz muss gewarnt werden. Nicht vor sinistren Gestalten oder ähnlichem Ungemach, sondern vor einer kulturellen Reizüberflutung, die einen angesichts der Schönheit, der reichen Geschichte und der überwältigenden Kunstschätze der toskanischen Großstadt schonmal überkommen kann. Stendhal-Syndrom wird die psychosomatische Störung genannt, die unter anderem zu Panikattacken, Herzrasen, Schwindel und Ohnmacht — ähnlich, wie es im jüngsten Wiesbadener Tatort mit Ulrich Tukur beschrieben wurde. Der Ex-Drogenbaron (Ulrich Matthes) der sich am Kommissar rächen will, leidet darunter. Die ironisch-spielerische Darstellung der Szenen als Gemälde lässt offen, ob der Zuschauer die Reizüberflutung nachvollziehen können soll.
Ekstase
Benannt ist das Leiden nach dem französischen Schriftsteller Marie-Henri Beyle, der unter dem Namen Stendhal bekannt wurde. Wie viele Künstler besuchte er im 19. Jahrhundert Italien. Als gebildeter Reisender war er vermutlich schon vor dem Eintreffen in Florenz recht aufgeregt. Seine Eindrücke aus dem Jahr 1817 beschrieb er in seinem Buch „Neapel und Florenz: Eine Reise von Mailand nach Reggio“:
„Ich befand mich in einer Art Ekstase bei dem Gedanken, in Florenz und den Gräbern so vieler Großen so nahe zu sein. Ich war in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken; ich sah sie aus nächster Nähe und berührte sie fast. Ich war an dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz. Mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen.“
Der frühe Vertreter des literarischen Realismus wusste nicht, wie ihm geschah. Erst als immer mehr Florenz-Reisende ähnliche Symptome beschrieben, begannen Wissenschaftler, das Phänomen gründlicher zu untersuchen. Die Florentiner selbst sollen einigermaßen gefeit gewesen sein gegen den Wahn, den das Erblicken der Kunstwerke auslösen konnte, schließlich wachsen sie ja in dieser Pracht auf.
Doch auf Florenz ist das Syndrom nicht beschränkt. Schließlich gibt es auf der Welt noch weitere beeindruckende Kunstorte, wenn auch die Konzentration der Beschreibungen in Italien auffällt.
Heine verwirrt
Auch andere Teilnehmer der Grand Tour, wie die Reise europäischer Intellektueller durch Italien genannt wurden, waren im Wortsinne hin und weg: Heinrich Heine war in Mailand nachhaltig verwirrt, während der Schriftsteller Wilhelm Heinse bereits im 18. Jahrhundert rauschähnliche Zustände im römischen Pantheon erfuhr.
Der Psychologe Sigmund Freund geriet in der Akropolis in Athen ins Stocken, der Anblick löste eine Empfindung aus, die er später als Erinnerungsstörung bezeichnete. Der Wiener Arzt war damit 1936 der erste, der das Erlebte psychologisch betrachtete.
Die italienische Ärztin Graziella Magherini beobachtete während ihrer Tätigkeit in Florenz in den 1970er Jahren viele ausländische Touristen, die über Denkstörungen, Wahn, Halluzinationen und gar Schuldgefühle klagten. Viele schwankten ob der Kunstgenüsse zwischen Machtphantasien oder dem Eindruck der eigenen Bedeutungslosigkeit. Magherini schließlich war es, die 1979 das Label "Stendhal-Syndrom" erfand. Besonders gefährdet sollen unverheiratete Touristen im alter von 26 bis 40 Jahren sein — vor allem, wenn sie ohne Plan umherziehen.
Abhilfe möglich
Seitdem ist das Stendhal-Syndrom selbst Gegenstand sowohl wissenschaftlicher Untersuchungen als auch Teil eines kulturellen Zitate-Schatzes, aus dem sich Literatur und Film bedienen.
Immer noch kursieren Geschichten und Diagnosen von Touristen aus Jerusalem als heiliger Stadt oder Venedig, die allesamt ihre eigenen Syndrom-Klassifizierungen erhielten.
Abhilfe soll es übrigens auch geben. Nicht nur, dass ein wiederholter Besuch der Metropole am Arno die geschichtsträchtigen Kirchen, Museen, Skulpturen und Gemälde etwas gelassener betrachten lässt. Ratsam ist es auch, nicht alles an einem Tag sehen zu wollen und sich beispielsweise am Beginn des Aufenthalts als Ankerpunkt ein unbekanntes kleines Café in einer Seitenstraße zu suchen. Oder einmal statt der Uffizien oder der Kirche Santa Croce, wo es Stendhal angesichts der Gräber von Michelangelo, Dante oder Galilei am schlimmsten erwischte, einfach mal einen ruhigen Tag in den zauberhaften Boboli-Gärten zu verbringen.