Anleitung zum Müßiggang„Einfach mal etwas Sinnloses tun und sich trotzdem wohlfühlen“
Wie man mit Muße durchs Leben geht, damit kennt sich Sophie Warning aus – und das spürt man schon in den ersten Minuten des Interviews an ihrer ansteckend entspannten und freudig zugewandten Art. Als eine der Vorsitzenden des „Vereins zur Förderung des Müßiggangs“ trägt sie schon seit 30 Jahren die Idee in die Welt, bewusster und eben müßiger auf die Welt und den eigenen Alltag zu schauen. Das klingt so schön: nach alten Werten, Künstlertum und flanierendem Adel. Doch wie passt das in eine Welt, in der sich alle im stressigen Tempo des Alltags permanent selbst überholen?
Müßiggang ist ein Wort, das aus der Zeit gefallen wirkt. Was bedeutet es?
Sophie Warning: Dieses Wort hat vielfältige Bedeutungen. Jede Person ist Experte oder Expertin für den eigenen Müßiggang. Für mich bedeutet Müßiggang, mich auf den Glanz des Lebens, die Schönheit und die Leichtigkeit zu besinnen. Es geht auch darum, sich nicht mehr so viel zu beklagen.
Hat Müßiggang etwas mit Faulsein zu tun?
Zur Person
Foto: Foto Hund
Sophie Warning ist 63 Jahre und lebt im Schwarzwald. Sie ist Tanztherapeutin, Autorin und Sterbe- und Trauerbegleiterin. Sie war Koordinatorin im ambulanten Hospizdienst, jetzt berät sie Familien im Bereich Kinderhospiz und gibt Fortbildungen. Sie arbeitet bewusst in Teilzeit und verzichtet dafür gerne auf Luxus. Wenn es möglich ist, unternimmt sie gerne längere Reisen, die wenig kosten.
Müßiggang ist nicht gleichzusetzen mit Faulheit, man kann auch müßig aktiv sein. Aber Faulenzen darf auch dazugehören. Es ist eine Haltung zum Leben, die man in unserer anspruchsvollen, hektischen Zeit auch immer wieder üben und erobern muss – besonders in einer eher gelähmten Situation wie dieser Pandemie. Müßiggang bleibt einem nicht einfach so erhalten, schließlich beeinflusst uns das Leben um uns herum ganz schön.
Da sagen Sie was! Wir leben in einer schnellen Welt der vielen To-dos und des ewigen Zeitdrucks – wie passt da der Müßiggang dazu?
Ich habe selbst auch To-do-Listen. Schließlich lebe ich auch im Hier und Jetzt und nicht im Wolkenkuckucksheim. Aber auf meiner Liste stehen manchmal auch Dinge ein oder zwei Jahre lang. Auch hier geht es wieder um die Haltung, mit der ich diese Dinge angehe. Ich versuche dem Gehetztsein etwas entgegenzusetzen.
Ich habe drei Kinder und einen Job und meistens unglaublich viel zu tun. Müßiggang klingt da herrlich, aber auch schwer umsetzbar…
Natürlich ist es im Alltag oft stressig und überwältigend, es lässt sich da nicht immer mit Muße rangehen. Es gibt aber Momente, da kann man die Erwartungen ausblenden und sich darauf einlassen, was wirklich passiert. Ich habe neulich einen Nachmittag mit einer Mutter und ihren Kindern verbracht. Wir Erwachsenen konnten kein Gespräch zu Ende führen, aber es hat Spaß gemacht und war für mich eine müßige Zeit – weil ich mich total darauf eingelassen und nichts beabsichtigt habe. Es geht hier darum, solch eine lebhafte Situation anzunehmen. Muße kann im Rausch des Alltags auch total wild zugehen.
Wenn man keine anderen Pläne hat…
Was der Muße ganz stark entgegenwirkt, das ist, wenn man immer etwas anderes will. Im Fall von oben wäre das vielleicht gewesen, dass ich mich darauf versteift hätte, mit der Mutter ganz in Ruhe ein Gespräch zu führen, um mich dann aufzuregen, dass das mit den Kindern nicht möglich ist. Oft macht man sich ja eine Vorstellung davon, wie eine Situation sein wird – damit programmiert man aber bereits die Enttäuschung mit ein. Stattdessen kann man üben, eine Situation einfach zu betrachten und in Ruhe zu überlegen, wie man damit umgeht.
Das geht auch zum Beispiel bei der Arbeit, man könnte sich einfach mal fragen: Stehe ich gerade wirklich unter Druck oder kommt es mir nur so vor? Oder man könnte morgens einfach mal in den Arbeitstag starten und zu sagen „Mal schauen, was der Tag heute so bringt!“ anstatt sich vorher schon über alles aufzuregen.
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Kann man also in jeder Situation Muße walten lassen?
In fast jeder. Es gibt Ausnahmen. Manchmal wird man auch im hektischen Strudel des Umfelds mitgesogen. Und in Krisen oder Notsituationen muss und möchte man ja auch schnell reagieren.
Kann es manchmal auch nötig sein, nicht nur die eigene Haltung sondern auch die Umstände zu ändern?
Klar. Es kann natürlich helfen, sich zum Beispiel Hilfe zu suchen für die Kinderbetreuung, um mehr Auszeiten zu haben. Das hängt allerdings von den eigenen Mitteln ab. Und oft auch davon, sich das selbst überhaupt zu erlauben, müßig zu sein.
Weil die Muße kein gutes Image hat?
„Verein zur Förderung des Müßiggangs“
„Wir haben den Verein in den 90er Jahren gegründet und tragen die Idee von Müßiggang vor allem durch Poesie in die Welt. Denn Poesie ist etwas besonders Müßiges. Der Verein veranstaltet Lesungen und stellt Gedichte auf seiner Homepage aus. Vor einigen Jahren gab es auch Aktionen. Als damals Hartz4 eingeführt wurde, haben wir den Hartz4-Antrag in Form eines Impro-Theaters auf der Straße laut vorgetragen oder vor dem Arbeitsamt Gedichte vorgelesen. Wir haben auch schon längere Veranstaltungsreihen organisiert, unter anderem in Bremen die 'Müßigen Tage', in Zusammenarbeit mit Theatern, Kinos und Wissenschaftlern. Und es gab auch Projekte an Schulen.“
Auch das. Muße und Faulsein sind nicht gerade hoch angesehen in der Gesellschaft. Ich kannte mal eine Frau, die hatte einen wunderschönen Garten mit lauschigen Ecken zum Sitzen, aber sie war immer im Stress. Ich fragte sie, warum sie sich nicht mit einem Kaffee in ihren Garten setzt. Und sie antwortete: „Dann sehen mich ja die Nachbarn und denken, ich schaffe nichts.“ Das hat mich wirklich entsetzt.
Es gibt auch den bekannten Spruch „Müßiggang ist aller Laster Anfang“…
Dabei sind Laster doch etwas Tolles. Die Schönheit des Lebens zu genießen, über die Stränge zu schlagen, Ektase zu erleben, das sollte man doch mal ausprobieren. Es gibt natürlich Grenzen. Aber wenn schon das Sitzen im Garten als Laster empfunden wird, dann bin ich gerne lasterhaft.
In den letzten Jahren geht der Trend allerdings auch wieder dahin, Pausen zu fordern und nicht mehr wie blöd durchs Hamsterrad zu rennen, oder?
Absolut. Als wir mit unserem Verein in den 90er Jahren angefangen haben, war so etwas noch ein riesiges Tabu. Es hat sich sehr viel getan. Allerdings bedeutet Pause machen für viele heute auch, sie sinnvoll zu gestalten, so dass sie keine „verschwendete Zeit“ ist. Dabei kann Müßiggang so etwas herrlich Sinnloses sein. Einfach in die Luft gucken. Es geht darum, nichts Sinnvolles oder Lobenswertes zu tun und sich trotzdem wohlzufühlen. Und das ist in der heutigen Zeit besonders schwer.
Kann man Müßiggang denn trainieren?
Ja, Müßiggang lässt sich üben. Ich habe Rituale, zum Beispiel stehe ich morgens rechtzeitig auf und setze mich aufs Sofa und trinke erst einmal einfach nur einen Tee und mache gar nichts, um zu mir zu kommen.
Ein Stückchen Achtsamkeit?
Ja, vielleicht. Aber manchmal ist es auch das Gegenteil: komplette Selbstvergessenheit. Ich finde, das ist ein Geschenk. Und solche Inseln kann man immer mal einbauen, einen Moment haben, in dem es absolut nichts zu tun gibt.
Wobei die meisten in so einem Moment wahrscheinlich zum Handy greifen…
Stimmt. Aber genau das kann man ja selbst steuern und das Handy in der Tasche lassen. Wenn man es nicht gewohnt ist, nichts zu tun, dann kann das auch zunächst irritierend oder schlimm sein, denn dann begegnet man sich selbst, den eigenen Gefühlen und Umständen. Manche Menschen vermeiden das lieber und suchen sich stattdessen Zerstreuung. Verstehen Sie mich nicht falsch, sich zu zerstreuen ist eine super Sache, aber eben nicht ununterbrochen.
Hilft es auch, Zeiten einzuplanen, in denen man nichts vorhat?
Natürlich. Damit sich Muße überhaupt einstellen kann. Einfach mal morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man abends rauskommt. So kann auch mal Langeweile entstehen – und die ist heutzutage gefürchtet. Dabei ist sie ganz nützlich. Lässt man sich auf sie ein, kommt ein Echo zurück, worauf man wirklich Lust hat. Eine Freundin hat ihren gelangweilten Kindern immer gesagt: „Starrt Löcher in die Luft und schaut, was aus ihnen heraus kommt!“ Kinder haben ja die wunderbare Fähigkeit, sich Dinge auszudenken und etwas aus sich heraus entstehen zu lassen. Von ihnen kann man wirklich etwas über Muße lernen.
Und sollte man wie die Kinder auch einfach mal ohne Plan losziehen?
Auf jeden Fall. Einfach mal wie ein Flaneur schlendern oder beobachten, was in einer Situation geschieht. Ich habe das oft auf Reisen, lerne in der Bahn oder im Flugzeug spontan Leute kennen und führe mit ihnen die wildesten Gespräche. Das kann auch zum Müßigsein dazugehören, aufmerksam zu bleiben und die Chancen zu ergreifen, die sich einem bieten.
So etwas funktioniert aber nicht immer, oder?
Nein, manchmal passiert beim Flanieren und Beobachten auch einfach gar nichts. Vielleicht sieht man nur den Taubendreck und gehetzte Menschen. Müßiggang muss nicht immer zu positiven Erfahrungen führen. Entscheidend ist dann, wie man darauf reagiert. Man könnte aktiv werden oder versuchen, weiterzugehen und etwas anderes wahrzunehmen. Es kommt immer auch auf die eigene Stimmung an. Es gibt diesen schönen Spruch: „Du siehst die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie du bist.“
Hat Müßiggang auch etwas mit der Liebe zu sich selbst zu tun?
Sich mehr wertzuschätzen ist hoffentlich etwas, das durch Müßiggang entsteht.