Umgeschulte Linkshänder„Fehlbelastung kann zu massiven Störungen des Gehirns führen“
Köln – An seinem allerersten Schultag im Jahr 1963 geht Carsten Schroeter in der Pause nach Hause. Weil ihn schon nach kurzer Zeit eine Art Ohnmachtsgefühl überbekommt. Denn in den ersten sechs Jahren seines Lebens war er ein hundertprozentiger Linkshänder. Bis zu diesem ersten Schultag, an dem man ihm erklärte: Mit links schreiben, das sei verboten. „Und ab da ging das Drama eigentlich los“, sagt Schroeter heute.
In Bayern, wo Schroeter zur Schule ging und heute lebt, gab es damals eine Pflicht zum Schreiben mit der rechten Hand – er musste seine Händigkeit also umlernen. Und obwohl er heute selbst systemischer Coach ist, andere zu ihrer persönlichen und beruflichen Lebensführung berät, stieß er im Laufe seines Lebens immer wieder auf Dinge, die ihm schlicht nicht gelingen wollten. Ein Tanzkurs, einen Ball fangen, Texte auswendig lernen und vortragen – all das funktionierte bei Schroeter nicht einwandfrei.
Vor einigen Jahren dann verkrampft seine rechte Hand immer mehr, sobald er beginnt zu schreiben. Erst schmerzt sie nach zwei Seiten, dann schon nach der Unterschrift. Erst diese Schmerzen in seiner umgelernten Hand waren der Auslöser, der ihn im Internet auf Studien zur Umschulung der Händigkeit stoßen ließ. Und ihm einen Aha-Moment nach dem anderen bescherte. Jahrzehnte später, aber nicht zu spät.
Dominante Gehirnhälfte bleibt lebenslang die gleiche
Die Händigkeit jedes Menschen ist vor der Geburt festgelegt. Bei Rechtshändern übernimmt die linke Gehirnhälfte die Führung, bei Linkshändern ist die rechte Gehirnhälfte dominant. Neurologische Studien haben gezeigt, dass trotz einer Umschulung die dominante Hirnhälfte lebenslang die gleiche bleibt. Bei umgeschulten Linkshändern befindet sich die Planungsfunktion einer Bewegung in der rechten Hirnhälfte, die Ausführung wird aber in die andere verlegt. Anders als gewöhnlich ist also nicht nur eine, sondern sind beide Gehirnhälften mit dem Schreibprozess befasst. Damit ist das Gehirn meist überlastet. Andersherum gilt das auch für umgeschulte Rechtshänder, wenn ihre dominante Hand etwa durch einen Unfall beeinträchtigt wird.
Welche Fehler machen wir beim Lernen? Die Lehr-Lernforscherin Ines Langemeyer war zu Gast im Schul-Check-Podcast und ordnet Lernmythen ein:
„Eine solche Fehlbelastung kann zu massiven Störungen des Gehirns führen“, kritisiert Dr. Johanna Barbara Sattler die Umschulungen, zu denen Linkshänder bis in die 1990er Jahre und teils darüber hinaus gezwungen worden seien. Die Psychotherapeutin hat zum Thema umgeschulte Linkshänder geforscht – und im Jahr 1985 die erste deutsche Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder gegründet, die sie bis heute leitet. Denn viele besorgte Eltern denken immer noch, ihr Kind könne als Linkshänder nichts werden. Und weil eine Umschulung der Schreibhand zu Folgeerscheinungen führt, die oft erst spät als solche erkannt werden. Sattler informiert und berät, schult Pseudo-Rechtshänder auf ihre ursprüngliche Händigkeit zurück.
Umschulung kann Störungen verursachen
Sei es seine unleserliche Handschrift, die trotz aller Bemühungen sein Leben lang hakelig blieb. Oder die Schulzeit, die einem Desaster glich: Carsten Schroeter weiß einige Folgeerscheinungen aufzuzählen. „Mir wurde Legasthenie diagnostiziert, weil ich etwa Zahlen wie 89 und 98 ständig vertauscht habe. Genauso auch die Buchstaben ie und ei. Ich hatte Schwierigkeiten beim Lernen und große Konzentrationsschwierigkeiten.“
Wie bei Carsten Schroeter kann sich eine Umschulung bei Kindern und Erwachsenen in geringerem Durchhaltevermögen, geringerer geistiger Belastbarkeit und motorischen Störungen äußern. Diese Faktoren können sich auch auf die Psyche der Betroffenen auswirken. Das Amerikanische liefert für die Umschulungen einen wohl noch treffenderen Begriff: „Brain breaking“ werden sie dort genannt, zu Deutsch also „Brechen des Gehirns“. Sattler sagt: „Vor allem Kinder führen das auf ihre Fähigkeiten zurück, haben das Gefühl, zu versagen, und dass mit ihnen etwas nicht stimmt.“
Von links auf rechts auf wieder links – seit eineinhalb Jahren ist Carsten Schroeter nun bei Dr. Johanna Barbara Sattler in der Rückschulung zu seiner ursprünglichen Händigkeit. Nicht für alle Betroffenen ist das sinnvoll: Je älter sie sind und je länger sie mit der „falschen“ Hand geschrieben und gearbeitet haben, desto schwieriger kann eine Rückschulung werden. Im schlimmsten Fall kann sie zu noch mehr Chaos führen. Deshalb finden vorab Anamnese und ein Händigkeitstest statt – um die tatsächliche, „richtige“ Hand herauszustellen und zu vermeiden, dass jemand in einer ohnehin anstrengenden Lebenssituation sich weitere Schwierigkeiten aufhalst.
Nachteile von Linkshändern häufen sich an
Woher aber kommt überhaupt der Drang, Linkshändigkeit als etwas Andersartiges wahrzunehmen? Laut Sattler führt der Weg zum Ursprung dieser Annahme viele Jahrhunderte zurück, außerdem in andere Länder und Kulturen: Im Islam ist die linke Hand bis heute verschmäht, in Indien gilt sie als unrein und wird vor allem zur Toilettenhygiene genutzt. Sämtliche Redensarten beeinflussen außerdem gesellschaftliche Vorurteile: Man vergleiche etwa den „linken Typ“ oder „jemanden links liegen lassen“ mit Redensarten wie „rechtschaffen“ oder „vom rechten Weg abkommen“.
Heute seien die Nachteile im Alltag von Linkshändern nie so wesentlich, als dass darüber gesprochen würde. „Es sind kleine Lappalien, die sich zu einem großen Ganzen aufsummieren“, sagt Sattler. Angefangen in der Schulklasse, in der Links- neben Rechtshänder gesetzt werden und die sich beim Schreiben so gegenseitig stoßen. Hin zu Lehrerinnen und Lehrern, die ihre Schüler in der Grundschule dazu auffordern, die Blätter gerade vor sich hinzulegen – Linkshänderinnen und –händer aber in einem bestimmten Neigungswinkel damit arbeiten müssen, um keine Hakenhaltung zu entwickeln. Dabei werden die Armgelenke überdehnt und nach unten abgeknickt, die Wirbelsäule verdreht.
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Laut offiziellen Zahlen sind Rechtshänder in der Gesellschaft weitaus häufiger vertreten. Die weltweit größte Untersuchung ergab im Jahr 2020: Lediglich 10,6 Prozent der Menschen bevorzugen die linke Hand. Die Stichprobe der Untersuchung umfasste zwei Millionen Menschen. Die Nachteile der Linkshänder also, ein Minderheitsproblem? „Viele Linkshänder tragen dabei auch eine Mitschuld. Weil sie sich nicht auf die Hinterbeine stellen, wenn Gerätschaften, beispielsweise am Arbeitsplatz, nicht auf Linkshänder ausgerichtet sind. Wie zum Beispiel bei Ohrakustikern, wo ihnen beim Schleifen der Teilchen die Spähne ins Gesicht fliegen – Rechtshändern aber nicht“, sagt Dr. Johanna Barbara Sattler.
Zudem geht sie von einem weitaus größeren Anteil von Linkshändern in der Gesellschaft aus. Unter anderem, weil in einigen Studien umgeschulte Linkshänder als Rechtshänder erfasst werden – und eine hohe Dunkelziffer derer möglich ist, die sich auch heute noch durch Druck von außen oder aus eigenem Nachahmungs-Bedürfnis selbst umschulen.
Endlich mit der linken Hand unterschreiben
Carsten Schroeter hat sich geschworen: Wenn er einen Stift in die Hand nimmt, tut er das nur noch mit der linken. Zwar geht es aus beruflichen Gründen mit der Rückschulung nicht so zügig voran, wie er es sich anfangs gewünscht hätte. Weil die Zeit für die Schreibübungen, die Dr. Sattler ihm gibt, manchmal fehlt. Aber inzwischen trägt er bereits einen Personalausweis in seiner Tasche, auf dem er mit seiner linken Hand unterschrieben hat. „Sicher erkennt keiner einen Unterschied, wenn er meine Unterschrift von der rechten Hand mit der von der linken Hand vergleicht“, sagt Schroeter. „Aber ich bin darauf sehr stolz. Ich fühle mich, als hätte ich einen Teil meiner Identität zurück.“
Die Schmerzen in Schroeters rechter Hand, die sind übrigens verschwunden. Einzig beim Schreiben traten die Krämpfe auf. „Als wollten sie mir sagen: Hör darauf, was dein Körper dir sagt“, sagt er. Das sollten seiner Meinung nach alle Links-, und alle Rechtshänder tun. Damit Sechsjährige an ihrem ersten Schultag nicht mehr entrüstet nach Hause gehen. Wie damals Carsten Schroeter.