Mehr Alkohol-Konsum seit CoronaWie viel kann ich guten Gewissens trinken?
- Eine aktuelle Studie zeigt, dass ein Drittel der Deutschen seit der Corona-Pandemie deutlich mehr Alkohol trinkt.
- Anne Koopmann hat an der Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) mitgewirkt.
- Im Interview erklärt die Suchtmedizinerin, ob der gestiegene Konsum ein vorübergehendes Phänomen ist und ab wann man gefährdet ist, in eine Abhängigkeit zu geraten.
Köln – Eine Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim in Kooperation mit dem Klinikum Nürnberg zeigt, dass jeder dritte Deutsche seit der Corona-Krise deutlich mehr trinkt, wie diese Zeitung berichtete. Dr. Anne Koopmann ist Oberärztin an der Klinik für Abhäniges Verhalten und Suchtmedizin am ZI. Sie erklärt im Interview, warum das schnell gefährlich werden kann und warum ein gesellschaftliches Umdenken beim Thema Alkohol wichtig wäre.
Die Social-Media-Kanäle sind seit Corona voll von Frauen, vor allem Müttern, die sich ab fünf Uhr nachmittags mit einem Glas Wein zuprosten. Ist das ein vorübergehendes Phänomen?
Anne Koopmann: Es ist zu mindestens ein Phänomen, das sich durch die Situation in der Corona-Krise ergeben hat. Mütter sind durch die Schließung von Kindergärten und Schulen und Homeschooling oft einer stärkeren Belastung ausgesetzt und dies führt zu mehr Stress. Alkohol kann eine vermeintlich gute Strategie, mit Stress umzugehen, darstellen. Ob es ein vorübergehendes Phänomen ist, können wir zum jetzigen Zeitpunkt schwer beurteilen.
„Ich brauche einfach ein Glas Wein, um den ganzen Stress auszuhalten.“ oder „Meine Probleme löse ich lieber mit einem Glas Wein.“ Solche Sätze fallen seit Beginn der Corona-Krise im Bekanntenkreis häufiger. Ist das per se bedenklich?
Koopmann: Es sind gefährliche Sätze, weil viele Menschen Alkohol, wie gesagt, im ersten Moment als Problemlöser wahrnehmen, der ihnen hilft. Was sie nicht bemerken, ist der Weg in einen problematischen Konsum. Statt einem Glas Wein, müssen Betroffene zwei Gläser Wein trinken, um den gleichen Effekt zu haben – also das Distanzieren von dem Problem. Durch diese sogenannte Toleranzentwicklung kann ein Alkoholproblem entstehen.
Haben Sie eine weitere Erklärung dafür, warum in der Krise ausgerechnet Alkohol ein Tröster für viele zu sein scheint?
Koopmann: Alkohol ist eine Substanz, die uns dämpft, die es uns erlaubt, uns von unseren Problemen zu distanzieren. Im Gehirn aktiviert Alkohol das Belohnungssystem – durch die chemischen Eigenschaften hat er mehr Möglichkeiten, dieses System zu aktivieren als andere angenehme Dinge wie beispielsweise ein Spaziergang mit einer Freundin das könnte.
Alkohol ist frei und schnell verfügbar – daher greifen Menschen schneller dazu, als zu illegalen Drogen, die ähnliche Effekte auf das Belohnungssystem haben. In unserer Studie sehen wir, dass Raucher in der Corona-Krise vermehrt zu Zigaretten greifen, um Stress abzubauen. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie der gestiegene Alkoholkonsum.
Wenn jemand zu mir sagt, dass er sich jetzt ein Bier oder einen Wein verdient hat oder nach dem Stress wirklich einen Schnaps braucht, stellen sich bei mir persönlich die Nackenhaare auf, weil Alkohol dadurch sprachlich zu einem Helfer gemacht wird, der er meiner Meinung nicht sein sollte.
Koopmann: Da bin ich völlig bei Ihnen. Das hat etwas mit der Rolle von Alkohol in unserer Gesellschaft zu tun. Er ist sehr verbreitet und akzeptiert. Wenn wir uns belohnen wollen, gibt es einen Sektempfang. Wenn etwas gefeiert wird, wird Bier, Wein und Schnaps konsumiert. Wer auf einer Feier lieber bei einem Wasser oder einer Limonade bleibt, muss sich oft dafür rechtfertigen. Das ist eine gesellschaftliche Akzeptanz. Die Rolle des Alkohols wird häufig beschönigt. So, wie Sie es jetzt sprachlich festmachen, sehe ich als Suchtforscherin auf neurobiologischer Ebene auch, dass Alkohol als Risikofaktor im Gegensatz zu anderen Substanzen deutlich unterschätzt wird.
Das heißt viele Menschen haben gar kein Problembewusstsein?
Koopmann: Ich denke schon, dass viele Menschen wissen, dass es ungesund ist, wenn sie viel trinken. Aber wir Menschen machen oft etwas, von dem wir wissen, dass es schlecht ist und suchen uns pseudo-logische Erklärungen, um es trotzdem weiter zu betreiben. Das nennt man in der Medizin eine kognitive Dissonanz.
Was wäre denn ein angemessenes Trinkverhalten, wie viel Alkohol darf man guten Gewissens trinken?
Koopmann: Eine neue Studie konnte zeigen, dass schon kleinste Mengen Alkohol negative Auswirkungen haben können. Trotzdem kann man definieren, was ein risikoarmer Konsum ist, also wann Konsumenten ein geringes Risiko für psychische oder physische Folgeschäden haben. Bei Frauen sind das bis zu 200 Milliliter Wein oder 500 Milliliter Bier am Tag und bei Männern 300 Milliliter Wein und 750 Milliliter Bier am Tag – allerdings sollte es mindestens zwei trinkfreie Tage pro Woche geben.
Da fallen mir auf Anhieb viele ein, die deutlich mehr konsumieren. Bin ich ein Spielverderber, wenn ich das anspreche?
Koopmann: Natürlich kann es im ersten Moment so sein, dass ich als Spielverderber angesehen werde. Trotzdem ist es wichtig, dass zu sagen, weil wir in der Gesellschaft Dinge nur verändern können, wenn wir sie auch ansprechen. Ich möchte jeden ermuntern, das zu thematisieren. Eine Feier, bei der alle gesellig zusammen sitzen, ist dabei vielleicht nicht der richtige Rahmen, um als Alkoholaufklärer aufzutreten.
Was mache ich, wenn ich das Verhalten bei meinem Partner oder im Freundeskreis bemerke?
Koopmann: Was Angehörige machen können, ist denjenigen darauf anzusprechen. Es kann etwas bewirken, wenn es von außen einen Anstoß gibt. Wenn wir unsere alkoholabhängigen Patienten fragen, warum sie ausgerechnet jetzt in Therapie gegangen sind, äußern sie häufig, dass es einen äußeren Anstoß gab. Zum Beispiel durch Ärger in der Familie oder im Berufsleben oder Probleme wegen des Führerscheins. Angehörige, Freunde und Kollegen sollten denjenigen nicht anklagen, sondern offen sagen, dass sie sich Sorgen machen.
Alkohol scheint eine der wenigen legalen und gesellschaftlich akzeptierten Drogen zu sein. Sollten wir umdenken?
Koopmann: Es ist die Frage, welche Rolle wir Alkohol in unserem Alltag als Gesellschaft beimessen wollen. Wir können uns beispielsweise fragen, ob es im beruflichen Kontext wirklich der Sektempfang morgens um 10 Uhr sein muss, um Erfolge zu feiern. Wir müssen uns fragen, ob es gut ist, dass Alkohol so eng mit Belohnung verknüpft ist.
Müsste Alkoholkonsum Ihrer Meinung nach stärker reguliert werden, um das Problem in den Griff zu bekommen?
Koopmann: Auf alle Fälle brauchen wir ein größeres Problembewusstsein und eine stärkere Regulation in Deutschland. Muss zum Beispiel an einer Raststätte Alkohol verkauft werden? Der Fahrer oder die Fahrerin sollte sowieso nichts trinken und die Beifahrer müssen es nicht unbedingt. Es gibt mehr Regulationsbedarf für die Verfügbarkeit. Viele Alkoholabhängige erleben es als extrem anstrengend, dass sie jedes Mal, wenn sie Lebensmittel einkaufen gehen, dort auch Alkohol kaufen könnten. Das macht es für Menschen mit Alkoholproblemen schwer, sich von der Droge fernzuhalten.
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Was mache ich, wenn ich definitiv weiß, dass mein Bruder, Vater oder eine Freundin alkoholabhängig ist?
Koopmann: Das wichtigste ist, dass der oder die Betroffene ein eigenes Problembewusstsein entwickelt. Nur wenn Betroffene für sich selbst und andere eine akute Gefahr darstellen, ist eine Zwangsbehandlung möglich.
Das Problem als Angehöriger ist, dass sie oft schon vor dem Patienten selbst ein Problembewusstsein entwickelt haben. Ein erster Schritt kann es sein, den Konsum anzusprechen. Angehörige sind oft in der Situation, dass sie, wenn sie es ansprechen, beim Betroffenen auf Granit beißen. Angehörige sind in einer solchen Situation meist quasi zum Nichtstun verdammt. Das Problem ständig wieder anzusprechen, führt meist nicht zum gewünschten Erfolg. Es kann sogar zu einer Abwehrreaktion führen. Es ist als Angehöriger sehr schwierig, es auszuhalten, wenn Betroffene ihr Alkoholproblem selbst nicht erkennen. Ein weiterer Weg kann sein, Hilfe von außen zu suchen, zum Beispiel den Bruder zu bitten mit zu einer Suchtberatung oder zum Hausarzt zu gehen.
Wie kann ich meine Hilfe anbieten? Und welche Grenzen sollte ich setzen, um mich selbst zu schützen?
Koopmann: Auf den ersten Blick wirken oft Angehörige unterstützender, die keine Grenze setzen. Früher sagte man dazu „Co-Abhängige“. Menschen also, die zum Beispiel die leeren Flaschen wegbringen, damit niemand im Mietshaus den Konsum des Partners bemerkt oder ihn bei der Arbeit entschuldigen. Problematisch daran ist aber, dass Angehörige so den Abhängigen in seinem Verhalten unterstützen und er so keine Notwendigkeit hat, etwas zu verändern.
Es ist ganz wichtig, Grenzen zu setzen, sich Hilfe in Suchtberatungen oder Selbsthilfegruppen für Angehörige zu suchen. Das kann oft schwer sein, ist aber wichtig für die eigene Gesundheit und auch die des Betroffenen. Angehörige sind nicht dafür verantwortlich, was der Abhängige tut. Es ist sehr schwierig, sich dies einzugestehen, denn es kann bedeuten, dass Angehörige jemanden, den sie sehr lieb haben, gefühlt ans Messer liefern.
Frau Koopmann, vielen Dank für das Gespräch.