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„Deutschland ist kein Vitaminmangelland“Welche Vitamine, Mineralstoffe und anderen Nährstoffe braucht es wirklich?

Lesezeit 6 Minuten
10.02.2022, Berlin: Eine Person hält Tabletten und Vitaminpräparate von Calcium, Vitamin D und Magnesium in der Hand. Viele Leute nehmen Tabletten mit Vitaminen und Mineralstoffen. Doch das ist oft unnötig. Foto: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa-Zentralbild/dpa - Nutzung nur nach vertraglicher Vereinbarung ACHTUNG: Dieses Foto hat dpa bereits im Bildfunk gesendet. - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Viele Leute nehmen Tabletten mit Vitaminen und Mineralstoffen. Doch das ist oft unnötig.

Viele Menschen fürchten, nicht ausreichend mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen versorgt zu sein. Ernährungswissenschaftlerin Angela Bechthold klärt auf.

Frau Bechthold, Sie sind Ernährungswissenschaftlerin und Fachjournalistin und setzen sich mit weit verbreiteten Mythen rund um die Nährstoffzufuhr auseinander. Welche Themen erreichen Sie immer wieder?

Geht es um Vitamine und Mineralstoffe, kursieren sehr viele Annahmen, die wissenschaftlich nicht belegbar sind. Da gibt es irreführende Versprechungen in Bezug auf Gesundheit, Schönheit, Leistungsfähigkeit. Häufig haben diese ihren Ursprung in der Werbung für Nahrungsergänzungsmittel. Da wird nicht selten suggeriert, dass eine Extradosis eines bestimmten Nährstoffes auch eine Extrawirkung bringen kann.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Da ist beispielsweise Biotin, eines der B‑Vitamine. Das wird als Schönheitsmittel für Haut und Haar angepriesen. Erwiesen ist in der Tat, dass eine ausreichende Versorgung mit Biotin für Haut und Haare wichtig ist. Nicht erwiesen ist hingegen, dass eine Extradosis, etwa per Tablette, Haut und Haare schöner macht. Oder nehmen wir Selen: Das Spurenelement ist wichtig für die Spermienbildung. In Versuchen mit männlichen Mäusen hat sich gezeigt, dass ein schwerer Selenmangel langfristig dazu führt, dass sie unfruchtbar werden. Das heißt aber nicht, dass Selen als Wundermittel gegen Unfruchtbarkeit bei Männern hilft. Zumal wir wissen, dass ein Mangel beim Menschen nicht automatisch unfruchtbar macht. Weil die Hoden ausreichend Selen zurückhalten – auch wenn wenig über die Nahrung zugeführt wird.

Sie weisen in Ihrem neuen Ratgeber „Vitamine. Mineralstoffe. Spurenelemente – Was Mikronährstoffe können und wie viel wir davon brauchen“ (Stiftung Warentest, 208 Seiten) darauf hin, dass wir uns hierzulande generell eh nicht allzu sehr Sorgen machen müssen um unseren Vitamin- und Mineralstoffhaushalt.

Deutschland ist kein Vitaminmangelland. Das ist ein Mythos. Ich kenne keine aktuellen Daten, die zeigen, dass Obst und Gemüse heutzutage nährstoffärmer sind als früher oder dass die Menschen in der Breite mangelversorgt sind. Ich habe eher den Eindruck, dass mit so einer Argumentation die vermeintliche Notwendigkeit von Nahrungsergänzungsmitteln begründet wird. Es gibt natürlich Menschen, die im Einzelfall Risiken für eine Unterversorgung haben und substituieren sollten, etwa bei chronischen Magen-Darm-Krankheiten. Und es gibt bestimmte Lebensphasen wie die Schwangerschaft und das höhere Lebensalter, in denen es nötig sein kann, zusätzlich bestimmte Vitamine und Mineralstoffe einzunehmen. Aber generell können wir uns mit unserer alltäglichen Ernährung gut versorgen.

Mal angenommen, ich vermute bei mir einen ernst zu nehmenden Nährstoffmangel. Wie sollte ich vorgehen?

Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Ist der Verdacht auf einen Mikronährstoffmangel medizinisch gegründet, kann er oder sie Ihr Blut oder den Urin untersuchen lassen. Nur so kann man letztlich erfahren, ob und an welchen Vitaminen oder Mineralstoffen es fehlt. Ein erster Schritt kann auch eine Ernährungsberatung sein. Das heißt: Man schaut sich mit einer Fachkraft an, welche Lebensmittel täglich auf dem Speiseplan stehen. Daraus lässt sich oft schon erkennen, welche Nährstoffe im Argen liegen könnten. Ein klassisches Beispiel: Wenn sich jemand vegan ernährt und keine Milch, keine Eier und kein Fleisch isst, ist offensichtlich, dass man nicht genug Vitamin B12 bekommt und auf Dauer schlecht damit versorgt ist, wenn man es nicht supplementiert.

Und erst nach einem Befund empfiehlt es sich, zusätzlich Mikronährstoffe zuzuführen?

Genau, denn ohne ärztliche Untersuchung weiß man ja gar nicht, ob nicht vielleicht etwas anderes hinter den häufig doch sehr unspezifischen Symptomen steckt, die man einem Nährstoffmangel zuschreibt. Abgesehen davon macht es natürlich keinen Sinn, etwas einzunehmen, was im Einzelfall gar nicht fehlt. Es gibt aber auch Menschen, denen in bestimmten Lebensphasen eine ergänzende Zufuhr bestimmter Nährstoffe grundsätzlich empfohlen wird. Schwangeren und Stillenden etwa, die mehr Folsäure und Jod benötigen. Ältere Menschen bilden in ihrer Haut weniger Vitamin D, und sie gehen außerdem bei eingeschränkter Mobilität vielleicht weniger in die dafür notwendige Sonne. Auch Säuglinge brauchen eine Tablette mit Vitamin D, außerdem bekommen Sie Fluorid und Vitamin K. Vegan lebende Menschen müssen auf jeden Fall zusätzlich zur Ernährung Vitamin B12 einnehmen. Das sind typische Beispiele.

Sie schreiben, für die allermeisten Menschen sei aber eine generell gesunde Ernährung der Schlüssel. Das sei ein Lebensstil, für den man sich entscheiden kann. Was meint das konkret?

Mit der Ernährung funktioniert das nicht so wie bei Arzneimitteln. Es gibt nicht die eine Dosis mit der einen Wirkung. So gibt es auch nicht einen bestimmten Nährstoff oder ein Superfood, das Wunder wirken kann. Es gibt auch nicht das eine Rezept oder die eine Ernährung für alle. Nachgewiesenermaßen gesundheitsförderlich sind aber bestimmte Ernährungsmuster, also die Zusammenstellung der Ernährung insgesamt. Ein Ernährungsmuster ist nicht etwas, was kurzfristig wirkt, sondern über Jahrzehnte einen Einfluss auf die Gesundheit hat. Studien zeigen, dass gesundheitsfördernde Ernährungsmuster reich an Gemüse, Obst, Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten sind. Sie beinhalten gesunde Fette wie Raps- und Olivenöl, wenig rotes Fleisch und Wurst, möglichst wenig beziehungsweise keinen Alkohol. Das mag vielleicht langweilig klingen – aber so ist es nun einmal.

Und wenn ich dann doch mal ein paar Tage lieber auf Schoko und Chips umsteige? Ist mein Mikronährstoffhaushalt dann sofort dahin?

Nicht, wenn Sie sich in der Regel wie beschrieben gesundheitsfördernd ernähren und so ausreichend Vitamine und Mineralstoffe zu sich nehmen. Es macht nichts, wenn man ab und an zu Süßigkeiten oder Chips greift. Man sollte aber darauf achten, darüber langfristig nicht zu viele Kalorien zu essen, damit man nicht übergewichtig wird. Dabei hilft natürlich auch, sich ausreichend zu bewegen.

Es braucht also in der Regel keine großen ausgetüftelten Ernährungspläne mit Supersmoothie?

Genau. Es braucht keinen Schnickschnack. Die Lebensmittel, die wir haben, sind natürlicherweise eh schon Superfood. In einer roten Bete, in Kartoffeln, in Linsen und Bohnen stecken wertvolle Nährstoffe. Haferflocken und Nüsse sind genial. Das heißt, mit einer bunten, abwechslungsreichen Auswahl möglichst naturbelassener Lebensmittel ist man gut versorgt und muss sich keine speziellen Pläne oder Rezepte zurechtlegen.

Magnesium soll doch auch so ein Wundermittel sein.

Das ist auch wieder so ein Beispiel. Es ist weit verbreitet, bei Muskel- und Wadenkrämpfen Magnesium einzunehmen. Dabei ist es wissenschaftlich nicht bewiesen, dass es wirkt. Bei Migräne und Bluthochdruck gibt es Hinweise darauf, dass die Einnahme helfen könnte. Aber die wissenschaftliche Beweislage ist schwach. Da muss noch weiter geforscht werden, etwa bei wem es wirkt, wie gut und vor allem in welcher Dosis.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von „verborgenem Hunger“. Was ist damit gemeint?

Davon spricht man, wenn Menschen zwar mengenmäßig ausreichend essen und mit Energie versorgt sind. Aber es kann trotzdem sein, dass sie nicht ausreichend Mikronährstoffe aufnehmen – weil die Qualität der Nahrung nicht stimmt. Langfristig kann das gesundheitliche Folgen haben. Das ist häufig ein Thema bei Menschen, die in Ernährungsarmut leben müssen. Die darauf angewiesen sind, Lebensmittel zu niedrigen Preisen zu kaufen. Und das sind oft die besonders stark verarbeiteten – die zwar sättigen und Kalorien liefern, aber zu wenig Vitamine, Mineralstoffe und andere wertgebende Inhaltsstoffe.

Haben Sie da ein Beispiel?

Es landen dann vielleicht eher Nudeln oder Ravioli aus der Dose auf dem Teller als mikronährstoffreiches, aber eben teureres Obst und Gemüse.

Kann ich auch zu viel von Vitaminen und Mineralstoffen aufnehmen?

Wenn Sie sich mit herkömmlichen Lebensmitteln ernähren, kann das so gut wie nicht passieren. Aber es gibt durchaus ein Zuviel an Vitaminen und Mineralstoffen, wenn Sie regelmäßig hoch dosierte Präparate einnehmen und vielleicht auch noch ungezielt viele angereicherte Lebensmittel wie etwa Säfte konsumieren.

Mit welchen Folgen?

Das ist von Nährstoff zu Nährstoff ganz unterschiedlich. Es kann kurzfristig bei Einnahme einer hohen Dosis zu Nebenwirkungen kommen, wie etwa bei zu viel Magnesium oder Eisen zu Durchfall oder Magenproblemen. Bei fettlöslichen Vitaminen wie dem Vitamin D kann eine anhaltende Überdosis zu einer Vergiftung führen, da sie im Körper gespeichert werden. Im Gegensatz dazu scheidet der Körper überflüssige Mengen wasserlöslicher Vitamine über den Urin aus. Unkritisch ist ihre Überdosierung dennoch nicht. Beobachtungsstudien aus den USA weisen darauf hin, dass Menschen, die über lange Zeit zusätzlich B‑Vitamine einnehmen, ein erhöhtes Krebsrisiko haben könnten. Es kann also langfristig Nebenwirkungen geben.

Im Laden springt mich nun ein Produkt an, das mir auf der Verpackung verspricht zu helfen, besonders fit und vital durchs Leben zu gehen. Wie finde ich heraus, ob das wirklich wirkt?

Wenn es zu gut klingt, um wahr zu sein, dann wirkt es wahrscheinlich nicht. Aber im Detail ist es schwierig rauszukriegen. Es gibt in der EU erlaubte und vorformulierte gesundheitsbezogene Aussagen für Vitamine und Mineralstoffe, die wissenschaftlich bewiesen sind. Damit dürfen Hersteller dann auf einem Lebensmittel wie etwa einem Nahrungsergänzungsmittel werben, wenn der entsprechende Nährstoff in einer bestimmten Menge enthalten ist. Das heißt aber noch lange nicht, dass Sie das Produkt auch wirklich brauchen. Steht da also beispielsweise drauf: „Vitamin C trägt zur normalen Funktion des Immunsystems bei“, heißt das nicht, dass Sie das Produkt kaufen sollten, um ausreichend Vitamin C zu sich zu nehmen und gesund zu bleiben. Ich würde dazu raten, vor einem Kauf mit Fachleuten zu sprechen.