Kräuter, Kühe, KulturgutWie Berggipfel aussähen, wenn es keine Almbauern gäbe
- Allein als Almbäuerin oder Bauer kann heute niemand mehr leben. Die Instandhaltung der Almen ist Berufung und Leidenschaft – und ein knochenharter Job.
- Schon die Großmutter von Katharina Unterweißacher war Almbäuerin. Die drahtige und vom Wetter gegerbte Frau trägt ein über Generationen gesammeltes Wissen in sich.
- Die 59-Jährige lebt für die Berge, die Wiesen, die Rinder, die Tradition. Für ein altes Kulturgut, das zunehmend der Moderne zum Opfer zu fallen droht. Eine Almreportage.
Kallbrunnalm/Oberweißbach – Katharina pflückt die Brennnessel, als wäre sie ein ganz normales Wiesenkraut. Die Kinder staunen. Sie werden noch Wochen später davon erzählen und immer wieder überlegen, ob sie das auch mal versuchen sollten. Katharina lacht. „Mir tut die nichts mehr“, sagt sie und stapft weiter den Berg hinauf. Sie will zu ihren Kühen, die brauchen Salz. Und ganz nebenbei öffnet sie uns die Augen.
Katharina Unterweißacher ist Almbäuerin. Eine drahtige Frau, wettergegerbt, sichtlich gestählt von harter Arbeit im Freien. Schon ihre Großmutter war Almbäuerin, und ihre Schwiegermutter ebenfalls. Katharina trägt das über Generationen gesammelte Wissen der Almfrauen in sich. Und die Leidenschaft. Für das Leben am Berg, die Wiesen, die Rinder, die Tradition. Für ein altes Kulturgut, das zunehmend der Moderne zum Opfer zu fallen droht.
Im Zeitalter von Massentierhaltung und Billigfleisch können kleinstrukturierte Almbauern kaum noch allein vom Ertrag ihrer Höfe leben. Die Futterflächen (jeder Bauer hat auf der Alm nur ein begrenztes Auftriebsrecht für seine Tiere) seien zu klein für riesige Herden, erklärt Katharina. „Unsere Männer müssen alle nebenbei noch arbeiten gehen, und viele Frauen auch.“ Die 59-Jährige arbeitet als Skilehrerin und als Wander- und Almführerin. Ihr Mann verdient als Schreiner und Hausmeister im Nebenerwerb dazu. Die drei Kinder haben feste Jobs und helfen nur in ihrer Freizeit auf dem Hof.
Almbäuerin Katharina: „Wir leben dafür”
Die zehn Mutterkühe der Unterweißachers sind mehr Berufung und weniger Beruf. Die Nutzung ihres Almrechts auf der im deutsch-österreichischen Grenzgebiet zwischen Berchtesgaden und Lofer gelegenen Kallbrunnalm ist Leidenschaft pur. „Wir leben dafür“, sagt Katharina. „Das ist absolute Knochenarbeit. Aber wir Bauern hier hängen an unseren Höfen und an der Alm. Würden wir uns nicht kümmern, würde hier alles zuwachsen.“ Junge Büsche und Bäume müssen regelmäßig abgeholzt werden, „Schwenden“ nenen das die Almbauern.
Ließen sie das sein, würden wir Touristen schön schauen bei unserer nächsten Wanderung. Wir marschierten bis zur Baumgrenze in rund 2000 Metern Höhe durch dichten Wald. Keine Almwiesen, über die der Blick frei schweifen kann. Keine ungestörte Sicht auf die umliegenden Berggipfel. Keine Kräuter- und Blumenvielfalt, kein Thymianduft und keine Orchideen-Fotos. Kein Kuhglocken-Gebimmel gegen das Großstadtrauschen im Kopf. „Es ist kaum zu glauben, wie schnell Bäume sich entwickeln“, sagt Katharina. „Innerhalb einer Generation stünde hier ein Wald.“
Wir wandern mit ihr hinauf zur Kallbrunnalm, einer Agrargemeinschaft von 16 bayrischen und 14 österreichischen Bauern. Sie liegt in 1400 bis 1600 Metern Höhe und wurde 1358 erstmals urkundlich erwähnt. Wiesen, Kühe, urige Holzhütten, toller Blick. Es gibt eine Jausenstation und eine Käserei, beide sind an diesem heißen Sommertag gut besucht. Katharina lässt die Kinder frische Milch zu Butter rühren und zaubert eine Heißklebepistole aus dem Rucksack, um mit Naturmaterialien zu basteln. Die Almbäuerin versteht es, zu begeistern.
Wissen über Kräuter und Heilpflanzen
Mit der Brennnessel in ihrer unempfindlichen Hand hat sie uns die Vorzüge dieser „Top-Heilpflanze“ näher gebracht. Abgesehen vom Tee aus den Blättern, der harntreibend und entzündungshemmend sei, lasse sich aus der jungen Pflanze ein wunderbares Pesto zubereiten: Lecker und gut gegen Eisenmangel. Die vitaminreichen Samen sorgten leicht angebraten im Salat für das gewisse Etwas. Zudem könnten Tinkturen aus Brennnesselsud bei fettigem Haar und schuppiger Kopfhaut helfen.
Katharina stammt aus Bayern, hat dann aber einen österreichischen Almbauern auf der anderen Seite der Berge geheiratet. Das Paar bewirtschaftet heute den Peslhof in Pürzlbach, einem Ortsteil von Weißbach bei Lofer. Als junges Mädchen verbrachte Katharina die Ferien mit ihrer Oma auf der Alm. „Früher haben wir Heu und Gras für die Kühe in der Buckelkraxe vom Almanger zur Hütte hoch und Wasser in Kübeln von der Quelle runter geschleppt“, erzählt die Bäuerin. Eine Fahrstraße hinauf auf die Alm gibt es erst seit 1963. Strom wurde in den 1980er-Jahren angeschlossen.
Den Hof von den Eltern übernommen
Als Katharina und ihr Mann den Peslhof vor 20 Jahren von den Eltern übernahmen, stellten sie den Betrieb von Milchvieh- auf Mutterkuhhaltung um. Die Kälber ihrer Kühe werden im Alter von neun Monaten als Bio-Jungrind bei einem Metzger in der Nähe geschlachtet und von zu Hause aus vermarktet. „Bis dahin haben meine Tiere ein wunderschönes Leben“, sagt Katharina. Sie kommen im September auf der Herbstweide zur Welt, wachsen bei ihren Müttern auf, trinken gute Wildkräutermilch aus deren Eutern – und sind im Winter auf dem Hof.
An einem Tag im Mai geht es dann ganz schnell: Die jungen Rinder werden gemeinsam – sie sind Herdentiere und würden sich allein fürchten – abtransportiert und innerhalb von einer Stunde geschlachtet. „Bei uns gibt es keine langen Transportzeiten und kein Leiden“, sagt Katharina. Sie selbst sei dann nicht dabei, das lasse sie ihren Sohn machen: „Bei meinen Rindern kann ich nicht zusehen.“
Freie Kräuterauswahl für Rinder auf der Kallbrunnalm
Den Muttertieren falle die Trennung nicht schwer. Sie seien zu dem Zeitpunkt erschöpft von der Aufzucht und bereits wieder trächtig. „Die machen kein Muh, wenn die Jungtiere weggeholt werden“, sagt Katharina. Im Gegenteil, sie freuten sich auf ihren „Urlaub auf der Alm“. Der beginnt im Juni. Katharinas Pinzgauer Rinder haben dann bis September auf der 253 Hektar großen Kallbrunnalm freie Kräuterwahl.
Auch für die Almbäuerin ist der Sommer der ruhigere Teil des Jahres. Zweimal in der Woche sieht sie nach ihren Tieren und bringt ihnen eine Ration Salz. Die Mutterkuhhaltung sei zwar weniger lukrativ als die Milchproduktion. „Dafür habe ich mehr Zeit für mich, meine Familie und für Alm-Führungen“, sagt Katharina. Es gibt so viel zu erzählen. Und zu zeigen. Die Magerweiden sind das Herzstück der Alm. Ungedüngte Wiesen mit beachtlicher Artenvielfalt. Da gibt es wilden Thymian und Oregano. „Ich kaufe fast keine Gewürze, ich hole mir alles aus der Natur“, erzählt Katharina. Sie pflückt Scharfgarbe, daraus lasse sich ein prima Einschlaf-Tee bereiten. Rot-Klee schmecke gut im Salat und soll bei Frauenleiden helfen. Der Saft aus den Blättern des Spitzwegerichs lindere den Juckreiz bei Insektenstichen. Oben auf der Alm nimmt die Wirtin der Jausenstation Katharina beiseite und bittet sie um neuen Tee. Das Wissen der Almbäuerin ist gefragt.
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Uns zeigt sie am Wegesrand eine wilde Heckenrose, später im Jahr wird sie hier Früchte für Hagebuttentee pflücken. Auf den Weiden würde der Bauer die Rose beseitigen. Er müsste sie in Handarbeit entfernen, genauso wie Sprösslinge, Heidekraut oder den giftigen Weißen Germer. Im Herbst werden überall auf der Alm die Kuhfladen mit der Mistgabel zerschlagen, sonst würden dort hartnäckige Unkräuter wie Ampfer sprießen. Die Wiesen sehen so schön natürlich aus, doch es steckt so viel Arbeit in ihnen.
Futter für den Winter
„Wir wissen nicht, wie lange sich die jungen Leute das noch antun“, sagt Katharina. Das hänge wohl von den staatlichen Förderungen ab, ohne die die Bewirtschaftung ein Minusgeschäft wäre. Die Regeln sind streng. Zweimal pro Jahr wird das unangekündigt geprüft. Immerhin hat die Moderne auch Erleichterungen gebracht. Die Arbeit der Hirten erledigen heute Elektrozäune. Und während die Kühe auf der Alm das frische Grün verputzen, muss der Bauer die Wiesen am Hof nicht mehr mühsam mit der Sense mähen, um Futter für den Winter zu bekommen. Das ist nur noch an sehr steilen Hanglagen nötig, ansonsten erledigen das Maschinen.
Früher gab es zusätzlich zum Heimhof und der Almhütte noch den dazwischen gelegenen Futterhof, auf dem das Heu der nicht unmittelbar um den eigentlichen Hof gelegenen Wiesen gelagert wurde. Kamen die Tiere von der Alm, wurden sie so lange dort gehalten, bis diese Heu-Ration aufgebraucht war, erst dann ging es nach Hause. Heute muss das Heu nicht mehr auf dem Rücken zusammengetragen werden, Traktoren bringen einfach alles direkt zum Heimhof.
Das Leben ist einfacher geworden. Doch der Erhalt der Almwiesen gleichzeitig schwieriger. Katharina bereitet das Sorgen. Sie kämpft um diese einzigartige Kulturlandschaft. Für die Bauern. Für die Touristen. Für glückliche Kühe.