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Kölner Bestseller-Autorin„Unser Gehirn fordert schnelle Lösungen wie Schokolade oder Katzenvideos“

Lesezeit 8 Minuten
16.02.2022, Köln: Nicole Staudinger, Autorin, trainerin, Rednerin . Foto: Max Grönert

16.02.2022, Köln: Nicole Staudinger, Autorin, trainerin, Rednerin . Foto: Max Grönert

Nicole Staudinger schreibt in ihrem neuen Buch „Bin fast fertig – muss nur noch anfangen“ darüber, wie man sich selbst von Aufschieberitis kurieren kann. Ein Gespräch.

In Theorie wissen wir, was gut für uns wäre, joggen gehen zum Beispiel, nur in der Praxis scheitert es ständig. Warum verhalten wir uns so widersprüchlich?

Das war genau die Frage, die ich mir am Anfang des Buchs gestellt habe. Zwei Antworten aus der Wissenschaft haben mich inspiriert. Leider ist es so: Unser Gehirn gibt die Marschrichtung vor - und das will den ganzen Tag Dopamin haben. Sport macht erst Bock nach einer halben Stunde, Süßigkeiten schütten nach zwei Sekunden Dopamin aus. Das Hirn fordert einfache, schnelle Lösungen in Form von Schokolade, Social Media oder Katzenvideos auf YouTube. Wenn man sich das bewusst macht, kann man einen Weg raus versuchen.

Wie denn?

Der Weg heraus, der mich inspiriert hat, war der Ansatz der Entscheidungsarchitektin. Ich muss mir meine Entscheidungen in schwachen Momenten so leicht wie möglich machen. Ich habe ja viele starke Momente: Ich kann die beste Diät halten, wenn ich satt bin. Dann treffe ich tolle Entscheidungen. Und genau dann lege ich mir für die schwachen Momente die geschnippelten Äpfel zurecht – und zwar im Kühlschrank weit vor die Schokolade. So wird die bessere Entscheidung zur leichteren gemacht. Wir brauchen keine Techniken für den Kopf, der vieles schon weiß. Wir brauchen Techniken für den Bauch.

Ihre Bücher sind immer sehr persönlich, Sie haben über Ihre Brustkrebs-Erkrankung geschrieben oder Ihr über Ihre Abnehm-Erfahrungen. Haben Sie das neue Buch über Prokrastination auch für sich geschrieben?

Ja klar. Ich bin vom Wesen her Kurzzeit-Euphorikerin. Mein Naturell ist: Morgen fange ich an. Und morgen ist natürlich immer ein Montag. Montags sage ich dann: Nee, Montag ist wirklich ein ganz schlechter Tag zum Anfangen, besser morgen. Auf die Idee für das Buch kam ich, weil ich morgens beim vor mich Hinschreiben plötzlich anfing, mir meinen Wunschtag aufzuschreiben. Nachdem ich damit fertig war, fiel es mir an dem Tag überhaupt nicht mehr schwer, einfach nachzuleben, was ich mir aufgeschrieben hatte. Ich hatte mir die guten Entscheidungen schon zurechtgelegt und musste mich nur noch entlang hangeln. Als ich merkte, dass ich gerade etwas Tolles für mich gelernt habe, dachte ich: Moment, daraus mache ich jetzt eine Reise, ein Buch.

Aufschreiben spielt bei Ihnen eine große Rolle. Sie plädieren zum Beispiel dringend für eine „Was-will-ich“-Liste.

Ich bin Freundin davon geworden, die Dinge aufzuschreiben. Man vergisst gerne, in sich reinzuhören. Das Draußen ist ja auch immer sehr laut. Einfach mal die Schotten dicht machen und sich fragen: Was will ich von meinem Leben? Wer will ich sein? Wenn man sieht, dass auf der Liste nur defizitäre Dinge draufstehen, bitte einfach mal auf den Bestand gucken. Sind Sie gesund? Ist doch toll! Der nächste Schritt wäre die Überlegung, was man eigentlich dafür tun will, damit es auch so bleibt. Als ich abnehmen wollte, wusste ich ganz genau, was ich tun musste, aber die Umsetzung blieb aus. Weil keine Haltung dahintersteckte.

Wo ist die Haltung dann hergekommen?

Wie oft saß ich früher im Wartezimmer, habe hektische Schwüre nach oben geschickt: Lieber Gott, lass diese Diagnose gut ausgehen, dann verspreche ich dir, mache ich dieses und jenes. Das wollte ich nicht mehr. Ich wollte jeden Tag den Hebel, der bei mir liegt, nutzen, in alle Richtungen: beruflich, privat, als Mama, sportlich, gesund. Mir hat dann sehr geholfen, das Wort „aber“ zu streichen.

Ich möchte keinen Tag im Leben mehr verbringen, von dem ich sage: bin ich froh, dass der vorbei ist
Nicole Staudinger

Was bringt das?

Selbst als meine Ärztin nach der Krebsdiagnose zu mir sagte, ich müsse abnehmen und Muskelmasse als Armee gegen meine schlechte Genetik aufbauen, hat es bei mir gehapert mit der Umsetzung. Zwar stand auf meiner „Ich-Will“-Liste: Ich will mehr Sport machen. Doch dann kam direkt die Ausrede: Aber kann ja nicht. Ich bin ja operiert worden. Ich würde auch gerne Zeit mit meinen Freundinnen verbringen, aber ich habe viel zu viel Stress. Solange man das Wörtchen „aber“ benutzt, kommt man nicht in die eigene Mündigkeit hinein. Ein „und“ verbindet. Ich will meine Freundinnen sehen und ich habe Stress. Plötzlich kommt man mit Ausreden und „Abers“ nicht mehr weiter. Hier liegt der Schlüssel.

„Ich-will“-Listen können unendlich lang werden. Wir priorisieren Sie?

Ich habe ein paar große „Was-will-ichs“ im Leben. Ich möchte kein Leben unter meinen Möglichkeiten führen. Ich möchte nicht mit Rohkost im Bauch sterben. Ich möchte, dass die Menschen, die ich liebe, wissen, dass ich sie liebe. Ich möchte keinen Tag im Leben mehr verbringen, von dem ich sage: bin ich froh, dass der vorbei ist. Selbst die doofen Tage nicht. Alles andere ist für mich Bonus. Das ist eine Frage des eigenen Erwartungsmanagements.

Inwiefern?

Wenn ich mir über Kleinigkeiten Sorgen mache, mache ich mir immer bewusst, dass ich gerade in der Luxussituation bin, mir darüber einen Kopf machen zu können. Wen ich darüber nachdenke, dass ich schon ewig kein Unkraut mehr gezupft habe, bedeutet das doch, dass ich ein Zuhause mit Garten habe, in dem ich Unkraut zupfen kann. Wenn das mit der neuen Fremdsprache wieder hintenüberfällt, habe ich da nicht den Fokus drauf. Denn dafür habe ich vielleicht ein Buch geschrieben.

Viel Motivation für Dinge, die wir gerne tun würden, wird aufgebraucht für Dinge, die wir tun müssen.

Ich bin große Verfechterin, Aufschieberitis nicht grundsätzlich negativ zu sehen. Manchmal müssen wir Dinge aufschieben, um Kraft zu sammeln. Ich fühle sehr wohl, wann es Tage gibt, an denen mich der Steuererklärung widmen kann und wann ich lieber verschiebe. Wenn es mit überhandnimmt mit dem Verschieben, benutze ich gerne den Trick, dass ich mir fünf oder auch 20 Minuten einen Wecker stelle. In dieser kurzen Zeit mache dann nichts anderes als nur diese Aufgabe. Ohne Ablenkung! Ich bin jedes Mal erschrocken, wie viel man geschafft bekommt, wenn man sich 20 Minuten auf eine Sache konzentriert. Auch daraus lässt sich eine Routine machen.

Es bleiben trotzdem Dinge, auf die hat man nie Lust.

Ich denke dann immer an meine Oma, eine Ur-Kölsche. Ich war früher oft bei ihr, einmal sagte sie zu mir: „Schatz, bring bitte noch den Müll raus.“ Als ich dann antwortete, dass ich keine Lust zu hätte, guckte sie mich nur an und sagte: „Das ist nicht schlimm, dann machst du es halt ohne Lust.“ Wo steht geschrieben, dass wir zu allem immer wahnsinnige Lust haben müssen? Manche Dinge müssen einfach gemacht werden. Mir hilft diese Haltung.

Belohnung ist für Sie ein zentraler Aspekt in der Überwindung von Prokrastination. Wie setzen Sie die ein?

Auf dem Weg zu neuen Routinen macht es Sinn, sich Belohnungen zurechtzulegen. Sonst haben wir unser Hirn die ganze Zeit gegen uns. Wie die aussehen, das habe ich selbst in der Hand. Ich habe mich lange Zeit für Sport mit Toffifees belohnt. Irgendwann bin ich dann auf ein sehr edles Duschgel umgestiegen, das ich mir immer nach dem Joggen gönne. Aber meine dauerhafteste Belohnung ist und bleibt die Dankbarkeit dafür, sich schmerzfrei bewegen zu können.

Wie gehen Sie damit um, wenn ein Plan nach vier Tagen scheitert?

Alles, was nicht lebensbedrohlich ist, ist für mich kein Rückschlag. Das ist das Leben, das mir wieder einen Beweis liefert, wie blöd Pläne sind. Einen flachen Bauch zu wollen, ist ein blöder Plan. Ich will eine fitte Person sein. Das ist etwas ganz anderes. Und dann handele ich einfach so, als wäre ich es schon. Jedes Mal, wenn ich überlege, ob ich jetzt Sport mache oder nicht, kommt meine Definition daher und sagt: Stopp, du bist ja eine fitte Person. Was würde die machen? Ja klar, die macht natürlich Sport.

Am Ende Ihres Buchs geht es dann um Disziplin. Die traurige Botschaft: Ohne geht es nicht.

Das Wort braucht dringend eine PR-Beratung. Disziplin verbinde ich mit ausgemergelten Menschen und heruntergezogenen Mundwinkeln. Aber eigentlich ist das etwas ganz anderes. Motivation ist für mich ein wankelmütiges Ding. Die kann nach dem Zähneputzen wieder weg sein. Aber die Disziplin bleibt, weil ich die selbst in der Hand habe.

Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie überbringen wollen?

Die dauerhafte Triebkraft liegt am Ende des Tages in der eigenen Authentizität. Wenn ich mir authentisch eingestehe, wer ich bin, was ich kann und was ich nicht kann, was ich will und was ich nicht will, dann ist das offengelegt. Dann brauche ich mir nichts mehr schönreden, bin nicht mehr im Ausredenmodus. Dann brauche ich auch keine Kraft mehr zu verschwenden, meiner Umwelt vorzumachen, dass ich jemand bin, der ich eigentlich nicht bin. Das spart jede Menge Kraft. Die kann ich wiederum wunderbar in meine „Was will ich“-Liste stecken.


Zur Person und zum Buch

Nicole Staudinger ist in Köln geboren und aufgewachsen, lebt aber mittlerweile in der Eifel. Ihr erstes Buch „Brüste umständehalber abzugeben“ wurde ein Bestseller. Ihr aktuelles Buch über die Kunst, Dinge auch erledigt zu bekommen, heißt „Bin fast fertig – muss nur noch anfangen“.