Klinik-Direktor Peer Eysel erklärt im Interview, wie wir Arthrose vorbeugen, was bei Schmerzen zu tun ist und welche Operationen unnötig sind.
Kölner Orthopäde über Arthrose„Mich stört massiv, dass es immer mehr in Richtung Lifestyle-Operation geht“
Warum bekommen immer mehr Menschen Arthrose?
Weil wir viel älter werden als früher. In der Steinzeit ist vermutlich niemand über 50 geworden, mit dem Ende der Reproduktionsfähigkeit war meist Schluss. Es gibt aber auch mechanische Faktoren: zu viel Gewicht, zu wenig Bewegung, falsche Bewegung im Sport, Fehlstellungen eines Gelenks. Arthrose ist keine Erkrankung, sondern normaler Verschleiß. Unser Gelenke werden von morgens bis abends gebraucht. Arthrose erhält erst dann Krankheitswert, wenn sie die Lebensqualität entscheidend reduziert.
Warum gibt es dann so viele jüngere Menschen mit Gelenkproblemen?
Die verhaltensbedingten Ursachen nehmen definitiv zu. Viele junge Menschen verbringen viel Zeit am Handy und Computer, bewegen sich kaum und überlasten sich dann im Fitnessstudio kurzfristig sehr stark. Schon sehr junge Männer heben schwerste Gewichte, ohne sich aufzuwärmen. Das überlastet Muskulatur, Bänder und Gelenke von oben bis unten. Es gibt aber natürlich auch bei Kindern schon Veränderungen der Gelenke, die angeboren oder sehr früh erworben sind.
Stichwort Hüftdysplasie?
Genau. Durch diese Fehlbildung des Hüftgelenks kann es zu Laufstörungen und einem verfrühten Verschleiß eines Gelenks kommen. In der Pubertät, wenn man schnell wächst, können Gelenke und Gefäße unterschiedlich schnell wachsen. Schmerzen der Gelenke bei Kindern und Jugendlichen muss man also ernst nehmen.
Woran erkenne ich eine Arthrose?
Typisches Anzeichen ist ein Anlaufschmerz. In Ruhe oder nachts tut nichts weh, aber nach dem Aufstehen tut es weh im Knie- oder Hüftgelenk. Nach kurzer Zeit verschwindet der Schmerz wieder. Das ist ein sehr häufiges Initialsyndrom. Wenn die Arthrose fortgeschritten ist, stellen sich nach dem Anlaufschmerz mit zunehmender Belastung wieder Beschwerden ein. Dann merken sie etwa die Knie bei der Wanderung nach zwei, drei Kilometern.
Was ist mit Anlaufschmerzen in den Füßen?
Anlaufschmerz an der Fußsohle, um die Ferse oder um einzelne Zehen herum, bedeutet in der Regel eine Verkürzung der Bänder oder der Achillessehne, die sich im Liegen verkürzt. Das sollte auch behandelt werden, ist aber nicht dasselbe.
Was ist Arthrose genau?
Unsere Gelenke bestehen aus zwei Anteilen von Knochen, dazwischen ist eine elastische Substanz: der Knorpel. Er wird einmal angelegt in der Kindheit und kann nicht erneuert werden. Er kann nur gut gepflegt, ernährt, geschont werden durch richtiges Verhalten und Bewegung. Wenn sich der Knorpel degeneriert, also abnutzt, sprechen wir von einer Arthrose. Die Arthrose kommt in den Gelenken vor, die am meisten mechanisch belastet sind. Neben Knie und Hüfte sind das die Sprunggelenke und die Wirbelsäule.
Warum ist es wichtig, früh zum Arzt zu gehen?
Je länger man wartet, desto schwerer wird es, die Arthrose zu behandeln. Risikofaktoren noch wegzunehmen, wenn das Gelenk komplett verschlissen ist, bringt relativ wenig. Wenn das Gelenk schmerzt, wird es oft auch weniger bewegt – mit schlechten Auswirkungen auf das Gelenk und eine etwaige Therapie. Wenn die Hüften steif sind, machen wir mehr Bewegung aus der Wirbelsäule oder aus den Kniegelenken. Damit setzt man eine ganze Kaskade schlechter Entwicklungen in Gang. Auch psychosoziale Aspekte muss man berücksichtigen.
Inwiefern?
Ich beobachte immer wieder, dass ältere Patienten, die alleine leben und Schmerzen haben, depressiv werden, weil jede Bewegung weh tut. Es kann dann zum sozialen Rückzug kommen: Besuche werden seltener, das Einkaufen wird vermieden, Sozialkontakte werden reduziert. Das ist dann ein Teufelskreis. Die Menschen haben dann oft keine Lust mehr, sind mutlos und haben das Gefühl, alles geht bergab.
Was hilft?
Ganz grundsätzlich gilt: Auch ein krankes Gelenk braucht Bewegung. Sonst steift es ein und der Knorpel geht kaputt. Wenn der Knorpel schon geschädigt ist, sollte die Bewegung möglichst ohne Belastung erfolgen soll. Das Ideal wäre hier Schwimmen im warmen Wasser. Eine andere ideale Sportart ist Fahrradfahren, entweder an der frischen Luft oder mit einem Standrad zuhause.
Mit Sportarten wie Tennis oder Fußball ist Schluss?
Grundsätzlich versuche ich immer den Menschen ganzheitlich zu sehen. Wenn ich jemandem Bewegung untersage, weil sein Knie eine Arthrose hat, kann sich die Leistungsfähigkeit seines Gehirns reduzieren, er kann einen Herzkranz-Gefäßverschluss bekommen, sein Cholesterin hochgehen und so weiter. Wenn also jemand gerne Fußball spielt, weil er eine tolle Gruppe hat, sollte er das auch weiter tun. Wichtig ist, sich vor solchen Maximalbelastungen gut warm zu machen und die Gelenke zu dehnen. Zum Tennisplatz mit dem Fahrrad fahren. Im schlimmsten Fall kann man sogar mal ein Schmerzmittel vor dem Sport nehmen. Tennis zu spielen ist deutlich besser, als zuhause rumzusitzen.
Vor und nach dem Sport dehnen: Viele Menschen vergessen das. Welche Fehler sehen Sie noch?
Auch wenn das Wort etwas abgenutzt scheint: Achtsamkeit ist wichtig. Beim Sport gleich voll zur Sache zu gehen, ist nicht günstig für die Gelenke. Gelenke kühlen oder wärmen, auch das kann gut sein. Am Kniegelenk nach dem Tennis oder Fußball ist Kühlung besser. Solche Maßnahmen kann man jeden Tag umsetzen.
Welche Rolle spielt Übergewicht bei Arthrose genau?
Der Druck auf die Gelenke wächst bei Übergewicht, insbesondere auf die Knie. Andererseits muss das das nicht nur negativ sein, sofern das Gewicht nicht komplett überhandnimmt. Denn durch mehr Gewicht wird die Muskulatur auch mehr gebraucht.
Gibt es Ernährung, die dem Knorpel hilft?
Milchprodukte wie Joghurt oder Käse, dazu das Sonnenvitamin D, helfen dabei, die Knochen stabil zu halten: Das gilt insbesondere für Frauen. Es gibt aber keine Nahrungs- oder Nahrungsergänzungsmittel, die den Knorpel schützen. Auch nicht Gummibärchen, selbst wenn die auch aus tierischer Knorpelsubstanz bestehen.
Deutschland ist Spitzenreiter beim Einsatz künstlicher Gelenke. Woran liegt das?
Wir konkurrieren da mit den USA, wo auch viel operiert wird. Die skandinavischen Länder operieren deutlich weniger. Die Menschen sind heute gewohnt, sich auch im höheren Alter viel zu bewegen. Sie bekommen suggeriert, dass das wichtig ist. Wir lesen die Meldung, dass einer mit 85 Jahren den Mount Everest erklettert hat. Dieser Sport- und Jugendlichkeitskult spielt eine große Rolle dafür, dass sich auch 80-Jährige operieren lassen wollen. Der andere Punkt ist die Vergütung der Operationen.
Inwiefern?
Seit 2004 gibt es in Deutschland ein Vergütungssystem, das man Fallpauschale nennt. Das ist stark in der Kritik, die jetzige Gesundheitsreform dreht sich mit Recht darum. Das bedeutet, dass eine therapeutische Maßnahme pauschal vergütet wird. An Patienten kann ein Krankenhausträger also nur etwas verdienen, wenn der Patient einen kostengünstigen, d.h. kurzen Klinikaufenthalt durchläuft. Deshalb gibt es seit 20024 einen sprunghaften Anstieg von Kliniken, auch Privatkliniken, die auf gut vergütete Prothesen spezialisiert sind und Patienten mit niedrigem Risikoprofil suchen.
Wer ist das?
Vergleichsweise junge Patienten, die nach drei Tagen schon nach Hause gehen können, wenn sie ein künstliches Knie oder eine künstliche Hüfte eingesetzt wurde. Denn die Vergütung ist ja gleich, egal ob der Patient drei oder zehn Tage im Krankenhaus ist.
Also wird des Geldes wegen viel zu früh und unnötig operiert?
Es spielt immer beides eine Rolle, der Anspruch der Patienten und das ökonomische Interesse der Anbieter. Bei vielen Operationen gibt es klare Leitlinien. Einen Blinddarm muss man operieren, sonst stirbt man. Bei einer Arthrose ist es völlig subjektiv und bleibt der Interaktion zwischen Arzt und Patient überlassen: der Ängstlichkeit des Patienten, sein Bewegungsanspruchs, seine Risikofreude und auch natürlich, wie der Arzt das Ganze darstellt beziehungsweise verkauft. Ich lese immer mehr Reklamen, wo es heißt: Neue Hüfte an einem Tag. Das ist kompletter Wahnsinn. Fakt ist: In Köln haben wir eine völlige Überversorgung von Anbietern, so wie in allen Großregionen Deutschlands.
Die Uniklinik setzt ebenfalls künstliche Gelenke ein. Sie auch!
Davon leben wir genauso, völlig klar! Was mich aber massiv stört ist, dass es immer mehr in Richtung Lifestyle-Operation geht. Das ist problematisch. Denn so sehr eine gute OP das Leben des Patienten positiv beeinflussen kann: Es gibt immer ein Risiko. In etwa 0,5 bis 1 Prozent der Operationen kommt es, je nach Risikoprofil der Patienten, zu bakteriellen Infektionen. Das kann für einen Patienten fatal sein: Es bedeutet nochmalige OP, manchmal muss das Gelenk entfernt werden, manchmal sogar ersatzlos entfernt werden. Und wir sprechen hier noch nicht von multiresistenten Keimen, die im Extremfall auch tödlich enden können.
Wie viele Patienten sind konkret betroffen?
Bei rund 400.000 Hüft- und Knieendoprothesen pro Jahr gibt es allein in dem Bereich ca. 2.000 infizierte Patienten in Deutschland, die häufig eine lange, sehr unangenehme Leidensgeschichte haben. Deshalb ist das keine Lifestyle-Operation – und so darf man sie auch nicht darstellen.
Woran erkenne ich, ob ein Arzt mir nur etwas verkaufen will?
Ein seriöser Arzt wird nicht sagen: Man muss operieren. Er wird sagen: Man kann operieren. Ein seriöser Arzt würde mit dem Patienten auch über Alternativen sprechen wie Bewegung und Schmerzmittel und er würde ehrlich über die Risiken aufklären: Was ist der Preis für die Operationen? Wenn Sie eine Tablette einnehmen sollten, die zu einem Prozent gravierende Nebenwirkungen hätte, würden Sie die nicht einnehmen, weil die gar keine Zulassung hätte. Ich würde einen Patienten, der nur eine angedeutete Arthrose hat, mit allen Mitteln von einer Operation abbringen wollen. Und ich selbst würde mir ein künstliches Knie oder eine künstliche Hüfte nur operieren lassen, wenn ich aufgrund meiner Gelenksituation kaum noch laufen könnte. Vorher nicht.
Was sollten Patienten noch wissen?
Man muss wissen: Wie sind die Chancen, dass ich meinen Schmerz komplett loswerde? Manche Patienten haben trotz ideal sitzender Endoprothese, die sich nicht infiziert, anhaltende Beschwerden. Wetterfühligkeit zum Beispiel, Fremdkörpergefühl im Knie: Das alles ist nicht ganz selten. Das muss der Arzt dem Patienten erläutern und dann muss man gemeinsam abwägen.
Welche Rolle spielt die Haltbarkeit der Prothesen?
Die geringste. Prothesen sind sehr gut haltbar. Fast alle Hüftprothesen in Deutschland werden zementfrei implantiert. Die kann man gegebenenfalls auch wechseln. Wir haben Haltbarkeiten häufig über 20 Jahre. Und das Gros der Patienten ist schon älter.
Welche Härtefälle beschäftigen Sie an der Uniklinik?
Bei Patienten mit infizierten oder gelockerten Gelenken sind wir die letzte Wiese hier im Großraum. Bei den Krankenhäusern, die an Patienten verdienen, die schnell wieder weg sind, heißt es bei älteren Patienten, die wochenlang liegen müssten, viele Begleiterkrankungen haben: Das ist etwas für die Uniklinik mit ihren vielen Fachabteilungen.
Sie warnen auch vor anderen Behandlungen die Gelenke betreffend.
Knorpel ist finales Gewebe, man kann ihn nicht aufbauen. Trotzdem wird sehr viel angeboten und verkauft als sogenannte Igelleistung. Das sind Leistungen, die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt und nur zum Teil von Privatkassen bezahlt werden, weil ihre Wirksamkeit nicht erwiesen ist. Eine kleine Ausnahme ist Cortison, aber auch das darf man höchstens ein oder zweimal spritzen. Wenn man es dauerhaft macht, geht der Knorpel kaputt. Aber Knorpelaufbauspritzen, aufbereitetes Eigenblut, Fettgewebe, das injiziert wird oder Hyaluronsäure: Das alles ist sehr populär, aber die Wirksamkeit ist mehr als umstritten. Ich kann das nicht empfehlen. Da kann man günstiger Gummibärchen essen, die helfen genauso wenig.
Prof. Dr. Peer Eysel ist Direktor an der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und plastisch-ästhetische Chirurgie der Uniklinik Köln.