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Cyborg-ImplantatNeil Harbisson kann mit seiner Antenne im Kopf Farben hören

Lesezeit 4 Minuten
  1. Neil Harbisson ist ein Cyborg. In seinem Kopf steckt ein Sensor, der es ihm ermöglicht, Farben zu hören und zu spüren.
  2. Die britischen Behörden haben seine Antenne inzwischen sogar als Teil seines Körpers akzeptiert. Seine neueste Idee grenzt an Abstrusität.
  3. Von einem, der loszog, sich selbst zu optimieren.
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Neil Harbissons Sensor sendet Vibrationen an seinen Schädel.

Neil Harbisson spürt Farben. Er ist ein Mann, der an einem Novembernachmittag in Köln die Schattierungen eines Regenbogens in Melbourne hört. Ein Mann mit Topfschnitt und schnell gestikulierenden Händen, der sagt, dass Bonos Brille „laut“ klingt und „ein Supermarkt wie ein Nachtclub“.

Der 34-Jährige ist farbenblind – und er bezeichnet sich selbst als Cyborg. Vor rund fünfzehn Jahren hat Harbisson sich eine Antenne implantieren lassen, die es ihm ermöglicht, Farben zu hören und zu spüren. Seitdem ragt ihm ein dünnes Metallteil aus dem Hinterkopf. Es verläuft in einem Bogen über seinen Kopf und endet vor der Stirn; ein wenig sieht es aus wie eine biegsame Leselampe. Die britischen Behörden erlaubten ihm nach einiger Diskussion, den sogenannten Eyeborg auf seinem Passfoto zu tragen – und akzeptierten das Gerät damit als Teil seines Körpers. Seitdem bezeichnet Harbisson sich auch als ersten staatlich anerkannten Cyborg.

Jede Farbschattierung ist ein Ton

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Der Sensor nimmt Farben auf und sendet ein Signal an einen Chip, der in Harbissons Schädelknochen implantiert wurde. 

Der Eyeborg funktioniert so: Ein Sensor nimmt Farben auf und sendet ein Signal an einen Chip, der in Harbissons Schädelknochen implantiert wurde. Jede Farbschattierung erzeugt dort einen anderen Ton, eine andere Vibration. Wenn Harbisson einen Raum betritt, nimmt er als erstes die dort dominierende Farbe wahr. Möchte er sich etwas genauer ansehen, nähert er sich den einzelnen Objekten. „Das Ganze funktioniert eher wie unser Geruchssinn als unsere Sehfähigkeit“, sagt er an jenem Nachmittag in Köln. Gerade hat er auf der Konferenz Digital18 gesprochen; beantwortet nun noch kurz ein paar Journalistenfragen. Viel Zeit hat er nicht. Noch am selben Nachmittag wird er wieder ins Flugzeug steigen.

Der neue Sinn des Briten, der in Katalonien aufgewachsen ist, geht weit über das hinaus, was andere Menschen wahrnehmen. Er spürt UV-Strahlung und Infrarotlicht und manchmal: Dinge, die gar nicht im Raum sind. Der Eyeborg hat nämlich seit 2012 Wlan. „Fünf meiner Freunde haben die Berechtigung, Farben an meinen Kopf zu schicken.“ Daher der Regenbogen aus Melbourne. Auch aus der ISS bekam er schon Signale – und erspürte so die Farben des Weltraums.

„Manchmal bekomme ich Farben zugeschickt, während ich schlafe“, sagt Harbisson. „Ich wache davon auf – oder sie fließen sie einfach in meine Träume ein.“ Er schaltet die Antenne nicht aus, niemals. Sie besitzt keinen Schalter, denn „unsere Sinnesorgane sind schließlich auch immer an.“

Den Eyeborg entwickelte Harbisson 2003 - zunächst noch unpraktisch groß

Wenn Harbisson seine Vorträge hält, dann spricht er schnell. Er formt Worte wie in Fließbandarbeit, während Farben in seinem Kopf vibrieren, die niemand der anderen Anwesenden sehen kann. Er erzählt Geschichten aus seiner Kindheit, von U-Bahnlinien, die sich auf Plänen nur durch Farben unterscheiden.

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Neil Harbisson beschreibt eines seiner Tonfolgen-Bilder.

Den Eyeborg entwickelt er 2003. Zunächst ist er noch unpraktisch groß und funktioniert über Kopfhörer. Später folgt die Transplantation des Chips, der nach der Operation zwei Monate braucht, um in den Knochen zu wachsen. Zwei Risiken gab es damals, sagt Harbisson. „Dass mein Körper ihn abstößt – oder mein Gehirn.“ Alles ging gut. Die anfänglichen Kopfschmerzen, die Müdigkeit: beides ging vorüber.

Wenn Harbisson spricht, sagt er Dinge, die man zunächst als schiefe Metaphern abtun möchte. „Ich kann dir eine MP3-Datei deines Gesichts schicken“, oder: „Justin Biebers Lied „Baby“ klingt sehr pink“. Denn manchmal dreht er das Farben hören um, sozusagen, und färbt Töne. Die Farbfolge seiner Bilder spiegelt dann die Tonfolge der Musik.

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Harbisson arbeitet auch mit anderen Cyborgs zusammen.

Harbissons neuster Plan: Er will einen schwedischen Pass. Denn Teile seines Eyborgs – und somit Teile seiner selbst, wie er sagt – stammen aus dem skandinavischen Land. „Ich warte noch auf eine Antwort der Regierung“. Die Grenzen zwischen netten Anekdoten und ernsten Vorhaben sind bei ihm manchmal schwer zu ziehen. Vielleicht, weil alles zusammenhängt: Die Anekdoten geben ihm Aufmerksamkeit; eine Plattform für seine Ziele. Er ist Künstler und Aktivist. Gemeinsam mit der Spanierin Moon Ribas hat er die Cyborg Foundation gegründet, um die „Forschung, Entwicklung und Förderung von neuen Sinnen“ voranzutreiben. Sie soll Menschen helfen, Cyborgs zu werden und deren Rechte schützen.

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„Wir waren eine Spezies, die den Planeten verändert hat“, sagt Harbisson. „Jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns selbst verändern.“ Er betrachtet das Ganze sogar als Dienst an der Erde. Menschen mit Nachtsicht bräuchten kein elektrisches Licht mehr. Ethische Probleme, eine Privilegierung bestimmter Schichten? Sieht er nicht. „Wir arbeiten Open Source. Wir stellen unser Wissen frei zur Verfügung.“ Die Materialkosten für Cyborg-Gerätschaften seien sehr gering. Er hofft, dass künstliche Sinne wie der Eyeborg schon Ende der 2020er Jahre ganz normal sein könnten. Dass die Leute die Antenne dann nicht mehr für eine Lampe halten – sondern schlicht für ein sensorisches Instrument.