Township-KinderheimBen, 6 Jahre, HIV-positiv – wie Aidswaisen in Namibia aufwachsen
Ihr Lachen schallt durch den ganzen Innenhof. Sechs Kinder springen hoch, schlagen mit ihren Händen auf bunte Kleckse auf einem Eisentor. Die Kinder grinsen, während sie kurz in der Luft hängen. Sie lachen, als handele es sich hier um einen hippen Hinterhof in Prenzlauer Berg. Als holte sie gleich jemand ab zum Kinder-Yoga oder zum Cello-Unterricht. Als würden sie nicht gleich wieder auf dem grauen Asphalt landen, der zu einem Aids-Waisenheim im südlichen Afrika gehört.
Waisenheim im Township von Omaruru
Schon viele Kinder haben im Waisenheim „Omaruru Children's Haven“ ihre Spuren hinterlassen. Ihre kleinen Handabdrücke sind in bunten Farben auf dem Einfahrtstor des Kinderheims in dem kleinen Ort Omaruru im Nordwesten von Namibia zu sehen. Der Children's Haven liegt im Township der Stadt mit 14.000 Einwohnern. Der Ort in der Erongo-Region ist in der Stammessprache der Herero nach einem Fluss benannt, der in der Nähe fließt. Omaruru bedeutet: Bitterkeit.
„Wer springt am höchsten?", ruft Sonja Prasse, die Managerin des Heims jetzt über den Hof. Gegen die großen Kinder haben die kleinen keine Chance, da können sie noch so hoch springen, die höchsten bunten Kleckse erreichen sie nicht. Wer mit dem Arm weiter nach oben kommt, hat es leichter. Der sechsjährige Ben (Name geändert), ein schmächtiger, aber fröhlicher Junge, hat das schnell erkannt, holt einen leeren Eimer, dreht ihn um und stellt sich darauf. Auf einmal ist der Kleinste am größten. Ben strahlt.
Eltern gestorben oder schwer krank
Ben ist HIV-positiv wie etwa jeder zehnte Namibier, wie fünf der 26 Kinder und Jugendlichen, die im Heim von Omaruru leben. Manche der zwischen Ein- und 18-Jährigen sind Waisen, andere Halbwaisen. Ihre Eltern sind an Aids gestorben oder ihnen geht es so schlecht, dass sie sich nicht um ihre Kinder kümmern können.
Aids ist in Namibia die Todesursache Nummer eins
Etwa 50.000 Kinder in Namibia haben Unicef zufolge ein Elternteil oder beide verloren. Aids ist hier die Todesursache Nummer eins – aber müsste es nicht sein. Die in Europa zurück gedrängte Seuche ist im südlichen Afrika allgegenwärtig. Erst kürzlich hat die Regierung bekannt gegeben, dass die Infektionsrate in Namibia erstmals nach sechs Jahren wieder leicht angestiegen ist – auf rund 17 Prozent.
Gleichzeitig ist das Tabu groß, über Aids zu sprechen. Zu wenige Männer in dem sehr christlich geprägten Land benutzen Kondome, zu wenige Frauen wiederum bestehen innerhalb der oft patriarchalen Strukturen darauf. Kaum ein Namibier lässt sich testen. Laut Regierung erhalten nur etwa drei Viertel aller Infizierten die Medikamente, die heute ein langes Leben mit dem Virus möglich machen.
40 Kilometer bis zur nächsten Tankstelle
Gerade in den ländlichen Regionen ist das ein Problem. Arztpraxen sind rar. Der Bildungsstand ist niedrig, dafür die Arbeitslosenquote mit 34 Prozent umso höher. Der Weg zur nächsten Schule ist weit. Hier begegnet man eher einer Giraffe als einem Menschen. Das Land, das fast zweieinhalbmal so groß ist wie Deutschland, hat nur 2,5 Millionen Einwohner und eine der höchsten HIV-Infektionsraten weltweit.
Zwar gibt es in vielen Supermärkten, Bars oder öffentlichen Einrichtungen kostenlos Kondome. "Aber wenn selbst die nächste Tankstelle vierzig Kilometer entfernt ist, nützt das vielen Namibiern wenig", erklärt Sonja Prasse.
Auswirkungen der Kolonialzeit und der Apartheid
Die Schere zwischen Arm und Reich ist sehr groß - eine Folge der kurzen deutschen Kolonialzeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts und der Apartheid unter südafrikanischem Protektorat.
Wer Glück hat, ergattert einen Job auf einer Farm oder einer Lodge oder bewirtschaftet selbst ein Stück von Namibias trockener roter Erde. Ein großer Teil des Landes gehört allerdings 27 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch weißen Namibiern, die nur rund sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Im Gegensatz zu Simbabwe und Angola steht Namibia gut da
Doch im Gegensatz zu Nachbarländern, kriegsgebeutelten und heruntergewirtschafteten Staaten wie Simbabwe oder Angola, steht Namibia relativ gut da. Das Land gilt als verhältnismäßig sicher, jährlich kommen etwa eine Million Touristen her, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Zwar fürchten Experten, dass es wegen der hohen HIV-Infektionsrate langfristig an Arbeitskräften mangeln könnte. Doch die namibische Regierung ist insbesondere in den letzten Jahren in der Bekämpfung der Seuche ein gutes Stück vorangekommen. Die Lebenserwartung ist laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf 63 Jahren bei Männern und 68 den Frauen gestiegen. 2003 lag sie fast zehn Jahre darunter.
Der „Kampf gegen Aids“ – das ist Namibias Krieg
Laut Gesundheitsministerium sind nur noch vier Prozent der Neugeborenen infizierter Mütter HIV-positiv. Immer mehr Geld würde in die Zurückdrängung des Virus gesteckt. Am Verteidigungsministerium in der Hauptstadt Windhoek hängt ein Schild: "Kampf gegen Aids". Das ist der Krieg, den Namibia führt.
Auch in Omaruru. Allerdings auf andere Weise. Die Organisatoren versuchen die Familie zu ersetzen, die die meisten Kinder nie hatten. Auch wenn das schwer ist. Im Haven hören die Kinder nach der Schule den Geschichten von Lazarus zu, den alle nur Omo, also Onkel, nennen, nicht nur im Heim, sondern inzwischen auch im ganzen Township.
Omo kann die besten Geschichten erzählen. Omo war einmal Polizist, hat aber bei einem Polizei-Einsatz in der Hauptstadt sein Augenlicht verloren. Nun ist er "Principal" des Kinderheims und redet gerne in Gleichnissen.
"Wenn du ein Kind an der Straße betteln siehst, gehst du vorüber, weil du dir sicher bist, dass irgendjemand schon helfen wird. Wenn du dich dann aber noch einmal umdrehst, dann wirst du sehen, dass auch alle anderen vorbeigelaufen sind. Man muss selbst helfen - und darf sich nicht auf andere verlassen", sagt Omo.
Zum Kuscheln zu "Big Mama"
Zum Kuscheln gehen die Kinder zu "Big Mama". Gerda, wie "Big Mama" eigentlich heißt, sitzt mit Lockenwicklern im Speisesaal und wartet auf ihre anderen Schützlinge. Sie ist eine der fünf Hausmütter, die sich zusammen mit fünf Volunteers, Freiwilligen aus Deutschland, in drei Häusern mit Spielplatz und Garten um die 26 Kinder kümmern.
Bislang wohnen die meisten Kinder in Zweier- oder Mehrbettzimmern. Sie teilen sich rund zehn Quadratmeter zu zweit. Die Älteren sollen demnächst Einzelzimmer bekommen, sagt Sonja Prasse, die es aus Bielefeld hierher verschlagen hat. In dem Ort, der Bitterkeit heißt, sei ihr so viel Herzlichkeit entgegengeschlagen wie nirgends sonst, sagt die 24-Jährige Sozialpädagogin. Sie verliebte sich während eines Auslandsaufenthalts in Namibia - und blieb.
Ben hat sich jetzt barfuß auf ihre Füße gestellt und hält sich an ihren Armen fest, um sich im Hof von ihr hin und her transportieren zu lassen. Das liebt er, so mit ihr über den grauen Asphalt zu tanzen. Ben lacht wieder.
Die Kinder brauchen Liebe, aber auch Geld
Doch Prasses Aufgabe ist es nicht nur, zu spielen und zu liebkosen, sie muss auch organisieren und sich um das Finanzielle kümmern. Die Kinder brauchen Liebe, aber auch Geld.
Der Omaruru Children's Haven ist zwar ein staatliches Heim, erhält aber nur zehn Prozent seines Etats von den Behörden. Der Rest muss sich durch Spenden tragen, das bereitet Sonja Prasse häufig Kopfzerbrechen. Monatlich bekommt sie vom Staat 473 Namibia-Dollar pro Kind, etwas mehr als 28 Euro. "Allein die Kosten für Medikamente und Arztbesuche fressen einen großen Teil des Geldes auf", sagt sie.
Der Start ins Leben beginnt später – oder gar nicht
Die zierliche, aber zupackende Frau, macht sich oft auf in ihre alte Heimat, um für Spenden zu werben, die zum Großteil aus Deutschland kommen, wohl auch, weil das Heim vor rund 15 Jahren von einem deutschen Priester und einem namibischen Farmer mit deutschen Vorfahren gegründet wurde.
Oder die 24-Jährige fährt in die rund 200 Kilometer entfernte Hauptstadt Windhoek, um den Leuten vom Jugendamt zu erklären, dass eine Kindheit unter diesen Umständen länger dauert, dass sie die Förderung mit dem 18. Geburtstag nicht einfach einstellen können, dass der Start ins Leben später beginnt - oder gar nicht.
Die Psyche leidet mit
"Wenn das Virus den Körper schon vollkommen zerfressen hat, weil die Kinder nicht wussten, dass sie HIV-positiv sind, dann leidet darunter natürlich alles andere, auch die Schule und die Ausbildung", sagt die Sozialpädagogin. Und die Psyche.
Einem ehemaligen Bewohner Anfang 20 machten Depressionen das Leben mit HIV noch viel schwerer als es ohnehin schon sei. Inzwischen habe er aber eine Stelle in einem Supermarkt in Omaruru bekommen und ein Zimmer im Township gemietet.
Manche Kinder wurden auf Müllkippen gefunden
Es sind schon kleine Fortschritte, über die sie sich freut. Umso mehr über die großen: Eins der ehemaligen Heimkinder studiere inzwischen in Windhoek Englisch und Geschichte auf Lehramt, erzählt Sonja Prasse stolz.
Aber da sind auch diese Momente, die sie innehalten lassen: Die 24-Jährige weiß von Kindern, die auf der Müllkippe gefunden wurden oder einfach vor der Tür des Heims abgelegt wurden. Normalerweise vermittelt eine Sozialarbeiterin im Township die Kinder direkt aus den Familien ins Heim.
Einmal trug eines der Heimkinder ein mit einem Spruch bedrucktes T-Shirt, das aus einer Kleiderspende aus Deutschland kam: "Wenn Mama 'Nein' sagt, frage ich Papa - und wenn Papa 'Nein' sagt, frage ich Oma", stand darauf. Viele Kinder hier haben ihre Eltern jedoch nie kennengelernt.
„Peace, Love, Namibia“
"Im Gegensatz zu ihnen hatte ich Eltern, die für mich da waren, und Großeltern", sagt Prasse nachdenklich. Bielefeld und Bitterkeit, die große Entfernung zwischen den Orten, sie ist nicht nur eine geographische, sie lässt sich nicht nur in Kilometern messen.
Ein Teil der Kinder im Heim wurde misshandelt oder vernachlässigt, einige sind traumatisiert. Eine Psychologin kommt regelmäßig aus Windhoek, um mit den Kindern zu sprechen. In der Therapie malen sie in der Bastelstube Bilder mit Wachsmalfarben. Auf einem steht in bunten Buchstaben: „Peace, Love, Namibia“.