Durchkalkuliert und auf Erfolg getrimmtFynn Kliemann macht Musik mit Businessplan
- War früher alles besser? In den Musikcharts ganz bestimmt! Sicher? Na gut, vielleicht auch nicht.
- Jede Woche hört sich unser Kolumnist Marcus Bäcker in seiner Glosse „Neu in den Charts” durch die Hitliste – und findet dabei Entsetzliches wie Schönes.
- Kein gutes Haar lässt Marcus Bäcker am neuen Song "Alles was ich habe" von Fynn Kliemann: Würde man künstliche Intelligenz mit den Deutsch-Pop-Hits der vergangenen Jahre füttern und sie dann machen lassen, käme genau so ein Lied heraus, sagt er.
Derzeit gibt es ein gutes Mittel, um mich schlagartig zu einem selig lächelnden Menschen zu machen: Man lege „Engelberg“ von Stefan Eicher auf und spare nicht an Lautstärke. Sicher, ein wenig seltsam ist das schon, denn die Platte ist 29 Jahre alt, und ich hatte sie eine stolze Zeit lang nicht mehr gehört. Dann aber weckte ein Facebook-Posting meine Erinnerung an die Platte, und als ich dann auch noch erfuhr, dass im Mai „Morgengrauen“ von Philippe Djian erscheinen wird, gab es kein Halten mehr.
Für alle, die es nicht wissen: „Engelberg“ ist eines der Eicher-Alben, auf denen Lieder mit Texten Djians erschienen sind, das bekannteste davon ist der Geniestreich „Déjeuner en paix“.
Gute Musik ist der Mix aus einem guten Gefühl und der traurigen Wahrheit des Lebens
Ganz nüchtern betrachtet gibt es auf „Engelberg“ sicherlich einige Passagen, bei denen die Produktion zu glatt geraten ist. Das stört mich in diesem Fall aber nicht, denn Eichers Songwriting ist exzellent, hat eine ganz eigene Note und bringt genau wie das Werk Philippe Djians Leichtigkeit auch dorthin, wo es ernst wird. Wenn Kunst es schafft, einem ein gutes Gefühl zu geben, ohne dabei die traurigen Wahrheiten des Lebens auszublenden, dann liebe ich sie (höre dazu auch „Do You Realize??“ von den Flaming Lips).
In den vergangenen Tagen sind zwei wirklich herausragende deutschsprachige Platten erschienen: „Der Rest vom Licht“ von Jakob Dobers und das neue, selbstbetitelte Album der Sterne.
Musik nach Businessplan
Doch womit beschäftige ich mich nach einem ausgiebigen, „Engelberg“-beschallten Frühstück? Mit „Alles was ich hab“, der neuen Single von Fynn Kliemann. Der Mann ist laut Wikipedia YouTuber, Webdesigner, Unternehmer, Musiker, Autor und Schauspieler. Wenn ich morgen noch einmal nachschaue, steht da wahrscheinlich auch noch Hedgefond-Manager, Quantenphysiker, Modedesigner und Kandidat für den CDU-Parteivorstand.
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Nicht abzustreiten ist jedenfalls: Fynn Kliemann hat einen Businessplan, und der stand auch Pate für „Alles was ich hab“. Würde man künstliche Intelligenz mit den Deutsch-Pop-Hits der vergangenen Jahren füttern und sie dann machen lassen, käme genau so ein Lied heraus: durchkalkuliert vom ersten Ton an, gnadenlos auf Erfolg getrimmt. Offenbar ist das Produkt der offizielle Song zu einer Doku, die ein Jahr aus dem Leben des Fynn Kliemann zeigt. Ich möchte nicht ausschließen, dass ich mir diesen Film nicht ansehen werde. Platz 40.
Zuletzt habe ich mir verschärft die Websites von Zeitungen angeschaut, die mich sonst eher nur so mittel interessieren. Man will ja wissen, ob es in Oberursel zu Hamsterkäufen kam, weil sich der Briefträger die Nase geputzt hat. Dank der unübersehbaren Überschriften erfuhr ich ganz nebenbei, dass sich „der Wendler“ und Oliver Pocher irgendeine Fehde liefern, was mich an die Redewendung über einen Menschenschlag erinnerte, der sich erst schlägt und dann wieder verträgt. Ich hätte es auch schon längst wieder vergessen, stünde nicht auf Platz 50 „Egal“ von Michael Wendler. „Egal“, das trifft es. Ich brauche dringend eine Dosis „Engelberg“.