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Analphabeten in Köln„Ich will nicht als der Dumme abgestempelt werden“

Lesezeit 8 Minuten
Illustration einer Hand mit Bleistift, aus dem schwarze Buchstaben fliegen

In Deutschland können 6,2 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben.

Trotz Schule können manche Menschen nicht lesen und schreiben. Zwei Betroffene erzählen, wie sie damit seit Jahren durchs Leben kommen.

Ich habe meine Brille vergessen, können Sie mir das bitte vorlesen? Ich werde mir den Vertrag zu Hause in Ruhe durchlesen. Was können Sie zum Essen empfehlen? Alles unverdächtige Sätze. Auch wer lieber Sprachnachrichten verschickt als zu schreiben oder Fahrkarten am Schalter statt am Automaten kauft, fällt nicht auf.

Dabei könnte es sich um eine Person handeln, die nicht lesen und schreiben kann und versucht, sich unauffällig durchs Leben zu manövrieren. Trotz Schulpflicht haben in Deutschland 6,2 Millionen Erwachsene Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Dies entspricht in etwa einem Anteil von zwölf Prozent der erwachsenen deutschsprachigen Bevölkerung. Zu diesem Ergebnis kommt die LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegeben hat. Weitere Ergebnisse: Unter den gering Literalisierten sind Männer mit 58,4 Prozent vermehrt vertreten, 62 Prozent der Betroffenen sind erwerbstätig und 76 Prozent haben einen Schulabschluss.

Strategien, um nicht als Analphabet aufzufallen

Wie kann es passieren, dass Menschen trotz Schulabschluss nicht richtig oder sogar gar nicht lesen und schreiben können? Fast immer ist Vernachlässigung in Elternhaus und Schule der Grund. Manchmal ist auch der Druck zu hoch. Weil die Betroffenen schon sehr früh Strategien entwickeln, um nicht aufzufallen, bleibt das Problem oft bis zum Erwachsenenalter unerkannt und wird verdrängt.

eine Hand schreibt mit einem schwarzen Stift ein A an ein Whiteboard

In den ersten Alphabetisierungskursen geht es darum, einzelne Buchstaben zu lernen.

Dabei gibt es auch für Erwachsene noch Möglichkeiten, im geschützten Rahmen lesen und schreiben zu lernen, zum Beispiel in den Alphabetisierungskursen der Volkshochschule (VHS) Köln. Die Kurse sind in unterschiedliche Level eingeteilt. Am Anfang geht es darum, überhaupt die Buchstaben kennenzulernen. Mit der Zeit lernen die Teilnehmer, Lückentexte auszufüllen, Fragen zu längeren Geschichten zu beantworten oder Bücher in einfacher Sprache zu lesen. Die Kurse werden bewusst klein gehalten, damit alle sich wohlfühlen und Vertrauen aufbauen. „Scham ist besonders bei den deutschsprachigen Teilnehmern ein großes Thema“, erklärt Monika Koppe, die das Alphabetisierungsprogramm an der VHS betreut.


An der VHS Köln werden die Kurse „Lesen und Schreiben 1-3“, „Spaß an Rechtschreibung und Grammatik“ und „Grundbildung Schreiben und Rechnen“ angeboten. Zudem gibt es Alphabetisierungskurse für Menschen, die kein Deutsch sprechen. Der erste Kurs ist kostenlos, danach werden 75 Cent pro Unterrichtseinheit fällig. Für die Anmeldung ist eine Beratung notwendig. Bitte vorher anfragen unter 0221/22121089, monika.koppe@stadt-koeln.de oder vhs-deutsch@stadt-koeln.de


Auch Bernd und Ralf (beide Namen geändert) aus Köln und Region schämten sich ihr ganzes Leben dafür, Analphabeten zu sein. Beide sind um die 60, besuchen seit einigen Jahren einen Alphabetisierungskurs an der VHS und lernen dort Lesen und Schreiben. Hier erzählen sie anonym ihre Geschichte.

Im Restaurant bestelle ich immer das Gleiche.
Bernd

Bernd hat zehn Geschwister und wächst auf dem Land auf. In die Schule geht er nur kurz, ist nichts für ihn. Seinen Eltern ist das egal. Sie können selbst nicht lesen und schreiben und finden es wichtiger, dass die Kinder Geld ins Haus bringen. „Bei uns war keiner in der Schule, meine älteren Brüder arbeiteten auf dem Markt, das habe ich dann auch gemacht. Da war ich zehn“, erzählt Bernd. Die Schule habe die Eltern zwar ein paar Mal angeschrieben, einmal sei auch die Polizei erschienen, aber bald habe man es aufgegeben und die Kinder machen lassen.

Für seine Arbeit muss Bernd jeden Morgen eine Dreiviertelstunde lang laufen. Zunächst lädt er LKW ab, später hilft er beim Verkaufen. Mit 22 wechselt er in eine Papierverwertungsfirma, weil er dort mehr verdient. „Dort habe ich offen gesagt, was mit mir ist. Ich wurde dann in der Aktenvernichtung eingesetzt. War dem Chef ganz recht, dass ich nichts davon lesen kann.“ Anschließend wechselt er in eine Markthalle und bearbeitet Bestellungen mit einem Kollegen. „Er hat vorgelesen, ich habe zusammen gepackt. War gar kein Problem.“ Heute arbeitet Bernd in einer Brandschutz-Firma. „Da habe ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Mittlerweile komme ich mit den Aufgaben gut zurecht.“

Fast alle Analphabeten haben einen Mitwisser, der sie unterstützt

Auch außerhalb der Arbeit hat Bernd Strategien entwickelt, um sein Handicap zu überspielen. „Im Restaurant bestelle ich immer das gleiche oder frage die Bedienung, was sie empfiehlt. Manchmal sage ich, dass ich meine Brille vergessen habe. In der Bahn frage ich junge Leute, ob sie mir mit dem Automaten helfen können. Man muss das ganz selbstverständlich machen. Die Leute helfen einem gerne und denken sich nichts dabei. Man muss nur aufpassen, dass man nicht immer denselben Menschen sagt, dass man seine Brille vergessen hat. Dann wird es auffällig.“

Die größte Stütze in seinem Leben ist seine Frau. Ihr sagt er von Anfang an die Wahrheit. „In ungewohnten Situationen fühle ich mich wohler, wenn sie dabei ist. Dann finde ich mich besser zurecht. Fast alle Analphabeten haben einen Mitwisser, der sie unterstützt.“ Seit er im Kurs lesen lernt, fordert sie ihn aber auch, etwa im Supermarkt. „Früher habe ich die Sachen nur getragen. Jetzt schreibt sie mir Zettel und ich kaufe selbst ein.“

eine Hand füllt mit einem schwarzen Stift einen Lückentext aus

Im Verlauf der Kurse werden auch Lückentexte bearbeitet.

Mit seinem Sohn und seiner Tochter hat Bernd nie offen darüber gesprochen, dass er nicht lesen und schreiben kann. „Ich wollte nicht, dass sie denken, dass man auch ohne durchs Leben kommt, so wie meine Eltern das zu mir gesagt haben. Ich habe das nämlich geglaubt. Sie sind beide gut in der Schule, ich wollte sie nicht aufhalten.“ Er ist sich aber ganz sicher, dass sie es dennoch wissen. Außerhalb der Familie überlegt Bernd sich ganz genau, wem er vertrauen kann. „Man muss vorsichtig sein.“

Das Leben ist jetzt ganz anders und viel interessanter. Man kriegt viel mehr mit.
Bernd

Seit er den Alphabetisierungskurs besucht, hat sich sein ganzes Leben geändert. Er findet Lesen und vor allem Schreiben zwar immer noch anstrengend und braucht für beides recht lange, aber es funktioniert. „Das Leben ist jetzt ganz anders und viel interessanter. Man kriegt viel mehr mit. Ich hätte schon viel früher auf meine Frau hören und es lernen sollen.“


Das Alphanetz NRW setzt sich dafür ein, über die Bedeutung von Alphabetisierung aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Informationen und Kursangebote finden Sie hier: www.alphanetz-nrw.de

Beim Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung können sich Betroffene und Angehörige am Alfa-Telefon unter 0800/53 33 44 55 informieren. Außerdem tourt das Alfa-Mobil durch Deutschland und klärt auf. In Köln-Chorweiler ist das Mobil am 11. April 2024 von 10 Uhr bis 14 Uhr an der Freitreppe unmittelbar neben dem Liverpooler Platz zu Gast. www.alphabetisierung.de


Wer im Unterricht nicht mitkam, wurde trotzdem versetzt. Keiner hat darauf geachtet.
Ralf

Ralf wächst in Köln auf und besucht zwei Jahre lang die Grundschule. In der dritten Klasse wechselt er auf die Sonderschule, weil er das Pensum nicht schafft. Als er neun Jahre alt ist, stirbt sein Vater und seine Mutter muss arbeiten gehen. Auch seine vier älteren Geschwister arbeiten bereits. „Hausaufgaben gemacht hat niemand mit mir.“

In der Schule wird er eher verwaltet als gefördert. „Wer im Unterricht nicht mitkam, wurde trotzdem versetzt. Keiner hat darauf geachtet.“ Das zehnte Schuljahr verbringt er an einer berufsvorbereitenden Schule. Hier fällt einem Lehrer zum ersten Mal auf, dass etwas nicht stimmt. „Ich sollte eine Überschrift aus einer Zeitung vorlesen. Hat natürlich nicht geklappt. Er riet mir, dringend lesen und schreiben zu lernen. Aber als ich nach der zehnten Klasse endlich fertig war, hatte ich keine Lust mehr auf Schule.“

Ralf versucht, in verschiedenen Kursen, Lesen und schreiben zu lernen, hört aber immer wieder auf

Weil eine Ausbildung für ihn nicht infrage kommt, beginnt er, auf einer Baustelle zu jobben. „Da ging es nur darum, was man wegschaffen kann.“ Mit Anfang 20 lernt er seine Frau kennen. „Sie hat gemerkt, dass bei mir etwas nicht stimmt, aber trotzdem zu mir gehalten. Nach der Hochzeit hat sie es ihren Eltern erzählt, das war mir ein bisschen peinlich. Aber alle wollten mich unterstützen.“ Er versucht in verschiedenen Kursen, Lesen und Schreiben zu lernen, hört aber immer wieder auf. Im Alltag kommt er ja trotzdem gut zurecht, kennt sich in der Stadt aus und weiß, wo welche Bahnlinie fährt. Wenn er Köln verlässt, erkundigt er sich am Bahnhof, wie er fahren muss und kauft am Schalter eine Karte.

Sein Schwager vermittelt ihm einen Job als Straßenkehrer. Mittlerweile ist er bei der Müllabfuhr beschäftigt. „Dort ist es vor allem wichtig, dass ich meine Arbeit gut mache. Ob ich lesen oder schreiben kann, interessiert eigentlich keinen.“ Zwei Meistern hat er es gestanden, weil er Hilfe bei einer schriftlichen Prüfung brauchte. Die Kollegen wissen es nicht. Auch mit anderen Menschen außerhalb seiner Familie ist er vorsichtig: „Man muss erstmal eine Beziehung zu den Leuten aufbauen. Ich will nicht als der Dumme abgestempelt werden.“

Ich würde jedem empfehlen, noch einmal in die Schule zu gehen.
Ralf

Der Alphabetisierungskurs hat ihn ruhiger gemacht. „Ich freue mich richtig darüber, dass ich jetzt lesen kann. Ich weiß jetzt ganz sicher, wo die Bahnen hinfahren und kann mir selbst das Essen aus der Karte aussuchen. Toll war auch, dass ich meinem Sohn eine Weihnachtskarte schreiben konnte.“ Eine kleine Anspannung ist allerdings immer noch da, wenn er etwas vorlesen soll, zum Beispiel vor kurzem die Botschaft aus einem Glückskeks. „Ich brauchte zwar länger dafür, aber ich habe es geschafft. Alle waren stolz auf mich. Deshalb würde ich jedem empfehlen, noch einmal in die Schule zu gehen.“