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Viele Viertklässler verstehen Texte kaumLesen bekommt in NRW-Grundschulen höhere Priorität

Lesezeit 5 Minuten
Kinder sitzen hinter einem Stapel Bücher und lesen.

Ein Viertel der Viertklässler kann nicht richtig lesen.

Im neuen Schuljahr wird in NRW-Grundschulen dreimal pro Woche gelesen, weil ein Viertel der Kinder das nicht mehr kann. Reicht das?

„Ich freue mich auf die Schule, weil ich da lesen lerne. Dann muss ich nicht mehr meine Mutter fragen, ob sie mir vorliest“, sagt Jasper. Der Sechsjährige aus Sülz hat am Montag seinen ersten Schultag. Dass Kinder in der Grundschule lesen lernen, war mal eine Selbstverständlichkeit. Aber für mehr als jedes vierte Grundschulkind gilt das nicht mehr.

Am Ende der vierten Klasse kann ein Viertel nicht mehr richtig lesen. Sie „scheitern an internationalen Mindeststandards“, wie es in der aktuellen Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) heißt. Will sagen: Sie schaffen nicht, einfachen Texten die relevanten Informationen zu entnehmen. Tendenz steigend.

Die Nation der Dichter und Denker verlernt das Lesen. Die Folgen sind dramatisch: Ein Kind, das in der Grundschule das Lesen nicht richtig gelernt hat, dessen schulisches Scheitern ist vorprogrammiert: Es versteht in Mathe keine Textaufgabe, kann in keinem Fach die schriftlichen Arbeitsanforderungen verstehen. Ganz zu schweigen davon, dass Lesen der Schlüssel ist zu Medienkompetenz, um Nachrichten in sozialen Medien zu bewerten oder mit künstlicher Intelligenz umzugehen.

Auf der weiterführenden Schule werde Lesen nicht mehr geübt, sagt Agnes Gorny, Sprecherin des Bundesverbandes „Mentor – die Leselernhelfer“. Dann ist der Zug abgefahren. Seit Corona habe die Lesefähigkeit nochmal massiv abgenommen. „Und schon jetzt verlassen jährlich 50.000 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Schulabschluss.“

In deutschen Klassenräumen wird zu wenig geübt

Die Begründung, warum Deutschland international so weit hinten liegen, haben die Wissenschaftler der IGLU-Studie mitgeliefert: Es wird in den Schulen zu wenig Zeit mit Lesen verbracht – also zu wenig geübt: Während es in Deutschland durchschnittlich 141 Minuten pro Woche sind, liegt das Mittel in der OECD bei 205 Minuten. Hier will NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) im neuen Schuljahr ansetzen. Ab Montag sind die Schulen verpflichtet, dreimal pro Woche 20 Minuten verbindliche Lesezeit zu integrieren. „Lesen ist die zentrale Schlüsselkompetenz für einen erfolgreichen Bildungsweg – daher setzen wir hier unsere erste Priorität”, erläuterte Feller.

Leselernhelferin Elisabeth Wolf übt lesen am Tablet mit ihrem Schützling Rojin.

Leselernhelferin Elisabeth Wolf mit ihrem Schützling Rojin.

Dafür werden den Schulen analoge und digitale Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt. Die sind landesweit verbindlich. Hamburg macht das seit Jahren: Früher immer am unteren Ende des Rankings der Bundesländer, war Hamburg das einzige Bundesland, das die Leistungen im Lesen zumindest leicht verbessern konnte. An jedem Schultag wird dort 20 Minuten gelesen.

Kölner Grundschullehrer: „Wenn die Kinder die Wörter nicht kennen, haben sie keine Chance.“

Wenn Dirk Külker auf den NRW-Erlass schaut, sagt er: „Das machen wir längst.“ Külker ist Schulleiter der Grundschule Merianstraße in Chorweiler. Dort haben über 90 Prozent der Kinder Migrationshintergrund. Er und das Kollegium schaffen Leseanlässe quer durch alle Fächer, weil sie wissen, dass davon die Zukunft der Kinder abhängt.“ Auf drei mal 20 Minuten komme man schon lange locker. „Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Trotz aller Anstrengung seines gut aufgestellten Kollegiums entlässt er einen hohen Anteil Kinder, ohne dass sie richtig lesen können. In den Familien der Kinder gebe es meist kein Buch. „Wenn die Basis fehlt und die Kinder die Worte gar nicht kennen, die sie lesen sollen, weil etwa die Deutschkenntnisse nicht ausreichen, dann haben sie keine Chance.“

Dabei ist er sicher: „Zusätzlich zur Schule jeden Tag 15 Minuten zu Hause begleitet üben – dann hat jedes Kind schnell den Dreh mit dem Lesen raus.“ Nur: Mit seinen Schützlingen macht das keiner – teils fehlen die Deutschkenntnisse, teils die Bereitschaft oder die Ressourcen bei den Eltern. Was macht man, wenn ein Viertel jedes Jahrgangs verloren zu gehen droht? Was bedeutet das für die Gesellschaft? Külker treibt das um. Viel mehr personelle Ressourcen bräuchten die Grundschulen, das auf jeden Fall.

Lesenlernen ist ein komplexer Vorgang. Es ist wie ein Muskel im Gehirn, der trainiert werden muss.
Anges Gorny, Bundesverband Mentor - Die Leselernhelfer

„Denn Lesenlernen ist ein komplexer Vorgang“, erläutert Gorny. „Es ist wie ein Muskel im Gehirn, der trainiert werden muss.“ Im ersten Schuljahr liest das Kind noch Buchstabe für Buchstabe und das Lesetempo liegt bei höchstens 30 Worten pro Minute. Wenn Grundschulkinder in der dritten oder vierten Klasse durch konstantes Üben das flüssige Lesen lernen, schaut das Auge nur einen Moment auf das Wort und springt dann zum nächsten Fixpunkt. Es scannt immer mehr Buchstaben auf einmal und erfasst die Bedeutung.

„Dann können Kinder, die häufig üben, schon bis zu 150 Worte pro Minute lesen und vorlesen.“ Kinder wie Jasper aus Sülz kommen da wie selbstverständlich hin, die Schüler von Külker nicht. Armut und Migrationshintergrund schaffen Bildungsungerechtigkeit. Nirgends wird das offensichtlicher als beim Lesenlernen.

Gorny begrüßt die verbindliche Lesezeit in den NRW-Grundschulen als Fortschritt. „Aber, es wird dauern, bis es wirkt. Und es reicht nicht.“ Akute Hilfe brauche es jetzt. Einzelförderung, die Schule angesichts von Lehrermangel nicht leisten kann. Deshalb brauche es viel mehr Lesementoren. „Die Schulen suchen händeringend. Die Nachfrage ist riesig“, so Gorny. Über den Kölner Verband sind bundesweit 13.000 Lesementoren ehrenamtlich akitv. Allein in Köln sind es 670. Das Konzept sieht vor, dass Ehrenamtler einmal die Woche einem Kind in der Schule eine Lesestunde geben. Die Einzelbetreuung ist auf mindestens ein Jahr angelegt und es gibt eine Kooperation mit der Lehrkraft.

„Das Schöne ist, dass sich schnell eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind entwickelt.“ Durch die Fortschritte wachse auch das Selbstbewusstsein der Kinder. Ein solches Tandem sind Elisabeth Wolf (74) und Rojin (12), die sich wöchentlich in der Hauptschule in Hürth treffen. Die Rentnerin spürt, wie Rojin sich Woche für Woche beim Lesen verbessert. „Frau Wolf unterstützt mich und macht mir Mut“, sagt die Zwölfjährige.

Schulleiter Külker findet Lesementoren super. Auch er habe schon mal für eine seiner Schülerinnen eine Lesementorin gehabt. „Diese Einzelförderung hat ihr unheimlich viel gebracht.“ Aber wer habe schon so ein Glück. „670 Lesementoren in Köln“, wiederholt er nachdenklich. „Allein wir hier haben 450 Schüler - davon 100 mit sonderpädagogischem Förderbedarf.“ Will sagen: Da geht noch was.


Wer sich als Lesementorin oder Lesementor engagieren möchte, findet auf der Homepage des Mentor-Bundesverbandes unter www.mentor-bundesverband.de auf einer Karte Kontakt zu einem Verein in seiner Nähe. Alternativ kann man sich in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes unter 0221/16844744 melden.