Psychologe über Hochbegabung„Deutsche Schulen sind deutlich unterfinanziert“

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Köln – Herr Seifried, kann man Intelligenz exakt messen?
Mit sprachfreien Intelligenztests wird der Generalfaktor gemessen. Sprachgebundene Tests messen zusätzlich Wortschatz, Sprachverständnis, Gedächtnis, Arbeitstempo und ähnliches. Entscheidend ist, ob ein Kind in der Familie stabile emotionale Beziehungen hat und in seinem Sprachverständnis, dem logischen Denken und dem Umweltwissen gut gefördert wird. So ist nachgewiesen, dass Kinder, die musikalisch gefördert werden und ein Instrument lernen, bessere Leistungen in Mathe zeigen.
Klaus Seifried (50) ist Diplom-Psychologe, Lehrer, Psychotherapeut sowie stellvertretender Vorsitzender der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen in Berlin. (ris)
Was ist Hochbegabung?
Rund 70 Prozent der Bevölkerung haben einen IQ von 100. Nur ein bis zwei Prozent gelangen über 130, das nennt man Hochbegabung. Ich spreche lieber von besonderen Begabungen, denn manche Hochbegabte konzentrieren sich früh nur auf eine Sache – zum Beispiel Schach, Informatik, Gedächtnisleistungen oder Mathematik. Kinder mit besonderen Begabungen können in ihrem Sozialverhalten schwierig oder in sich zurückgezogen sein. Eltern, deren Kinder schnell lernen, gedanklich und sprachlich gut entwickelt sind, rate ich, diesen sportliche, kreative oder musische Angebote zu machen, damit sich das Kind möglichst vielseitig weiter entwickeln kann.
Kommt in Deutschland die Hochbegabtenförderung zu kurz?
Die Pisastudien und andere internationale Vergleichsstudien zeigen, dass das Leistungsniveau an vielen Schulen in Deutschland etwa im Leseverständnis oder den Rechenfertigkeiten noch gesteigert werden kann. Die meisten Schüler haben kein homogenes Leistungsprofil, sondern sind zum Beispiel besonders gut in Mathe, aber in Sprachen nur durchschnittlich oder umgekehrt. Daher ist es wichtig, dass Schulen zunehmend individualisierten Unterricht anbieten, auch in den Oberschulen und am Gymnasium. Schüler mit besonderen Begabungen profitieren davon und können sich zusätzlichen Lernstoff suchen. Die Schule der Zukunft bietet auf allen Leistungsniveaus entsprechende Lernangebote. Allerdings sind deutsche Schulen im Vergleich zu anderen Industrienationen deutlich unterfinanziert.
Was halten Sie von Vereinen für Hochbegabte?
Kognitive Fähigkeiten sind nicht das Entscheidende. Ebenso wichtig sind soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Lebenszufriedenheit. Im Sinne der Inklusion ist es sinnvoll, dass besonders begabte Schüler mit anderen Kindern und Jugendlichen aufwachsen und lernen. Vereine, die sich nur über Begabung definieren, folgen häufig dem Glauben: „Wir sind etwas Besonderes.“ Wenn diese Vereine Schulen bei zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften für besonders begabte Schüler finanziell unterstützen, ist das hilfreich. Schulen und die Gesellschaft in Deutschland insgesamt sind nicht leistungs- oder elitenfeindlich. Viele Wettbewerbe und Auszeichnungen wie „Jugend forscht“ zeigen das.