Recht und OrdnungWarum läuft jemand nach einer schweren Straftat noch frei herum?
- In unserer Serie „Recht und Ordnung“ befassen wir uns mit juristischen Themen aller Art - und verschaffen Ihnen mehr Durchblick im Paragrafen-Dschungel.
- Dafür befassen sich eine Staatsanwältin, ein Rechtsanwalt und eine Jura-Professorin in ihrer Kolumne regelmäßig mit einem konkreten Fall.
- Staatsanwältin Laura Hollmann erklärt, warum es rechtens ist, dass jemand nach einer schweren Straftat noch auf freiem Fuß ist.
Köln – Uns Staatsanwälten schlägt oft Unverständnis entgegen, wenn sich Beschuldigte trotz des Verdachts einer schweren Straftat weiterhin auf freiem Fuß befinden. Meine Kollegen und ich werden gefragt: Warum haben Sie erst gar keine Untersuchungshaft beantragt? Wenn der Antrag gestellt wurde, warum hat der zuständige Ermittlungsrichter ihn nicht erlassen? Und wenn der Haftbefehl erlassen wurde, warum kommen Beschuldigte dann trotzdem sehr schnell wieder aus der U-Haft heraus?
Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zunächst hervorzuheben, dass die Untersuchungshaft als besonders einschneidende, in die Freiheitsrechte eingreifende Maßnahme nur in gesetzlich streng begrenzten Ausnahmefällen durch das Gericht angeordnet werden darf. Man muss sich klar machen, dass es um Bürger geht, die noch nicht oder noch nicht rechtskräftig verurteilt worden sind. Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, gilt so lange als unschuldig, bis seine Schuld in einem den Anforderungen unseres Rechtsstaates genügenden Verfahren festgestellt wurde.
Nun endet diese Unschuldsvermutung aber erst mit einer rechtskräftigen Verurteilung. Bis dahin kann eine Inhaftierung daher nur erfolgen, wenn überwiegende Interessen des Gemeinwohls, zu denen die Verbrechensbekämpfung gehört, dies gebieten und wenn die – zu Recht – engen gesetzlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.
Dringender Tatverdacht muss vorhanden sein
Zum einen muss ein sogenannter dringender Tatverdacht gegeben sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat, muss sich aus den Ermittlungen ergeben, die bis zum Haftantrag stattgefunden haben. Zum anderen muss ein gesetzlich bestimmter Haftgrund vorliegen. Ein solcher besteht etwa, wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder davon auszugehen ist, dass er sich dem Strafverfahren entziehen wird.
Für die Einschätzung der oft zitierten „Fluchtgefahr“ sind sämtliche Umstände in der Persönlichkeit des Verdächtigen und seiner Lebenssituation sowie sein Verhalten nach der Tat abzuwägen. Hat er einen festen Wohnsitz? Eine Familie, ein gefestigtes Umfeld? Geht er einer beruflichen Tätigkeit nach? Vereinfacht ausgedrückt, muss die Frage lauten: Was hat jemand zu verlieren, wenn er untertaucht? Und erscheint es als wahrscheinlich, dass er diesen Verlust bei einer etwaigen Flucht in Kauf nimmt? Von Bedeutung können auch Kontakte des Beschuldigten ins Ausland oder die finanziellen Möglichkeiten für eine Flucht sein.
Besonderheit Mord und Totschlag
Die Untersuchungshaft kann ferner bei Verdunkelungsgefahr angeordnet werden. Das setzt den begründeten Verdacht voraus, dass der Beschuldigte Beweismittel verschwinden lässt oder versucht, Zeugen zu beeinflussen. Schließlich fällt für die Lagebeurteilung auch noch die Gefahr ins Gewicht, dass der Beschuldigte weitere erhebliche Straftaten begehen wird. Kann keiner der genannten Haftgründe bejaht werden, darf die Untersuchungshaft nicht angeordnet werden. Eine Besonderheit gilt nur für Delikte wie Mord oder Totschlag, bei denen bereits wegen der besonderen Schwere der Straftaten in der Regel ein Haftgrund vorliegt.
In jedem Fall ist jedoch auch zu prüfen, ob die Anordnung der Untersuchungshaft verhältnismäßig ist, da sie einen erheblichen Eingriff ins Leben des Beschuldigten darstellt. Dieser Eingriff ist gegen die Bedeutung der Straftat und die zu erwartenden Rechtsfolgen abzuwägen. Ist beispielsweise nur die Verurteilung zu einer Geldstrafe zu erwarten, kann die Anordnung der Untersuchungshaft trotz des Vorliegens von dringendem Tatverdacht und Haftgrund unverhältnismäßig sein.
Auflage oder Kaution können den Haftbefehl außer Vollzug setzen
Sämtliche Voraussetzungen für einen Untersuchungshaftbefehl müssen nicht nur bei Erlass vorliegen, sondern während des gesamten Verfahrens. Kommen also die Staatsanwaltschaft oder das Gericht an einem Punkt des Ermittlungsverfahrens zu dem Schluss, dass ein dringender Tatverdacht oder ein Haftgrund nicht mehr vorliegt, ist der Haftbefehl aufzuheben. Genügen schließlich mildere Maßnahmen wie beispielsweise die Auflage, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden oder eine Sicherheitsleistung (Kaution) zu hinterlegen, um die ungehinderte, vollständige Aufklärung der Tat und die Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten, setzt das Gericht den Haftbefehl außer Vollzug.
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Letztlich müssen sich alle Bürger, gerade auch die „unbescholtenen Bürger“, darauf verlassen können, dass die gesetzlichen Vorgaben im Strafverfahren eingehalten werden. Das gilt auch für das Instrument der Untersuchungshaft.
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Zur Autorin
Foto: David Young
Laura Hollmann ist als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf tätig und dort für erwachsene Intensivtäter und Umfangsverfahren zuständig. Sie ist sie stellvertretende Pressesprecherin der Behörde.