Stil und gutes Benehmen, das klingt schnell altmodisch. Doch Orientierung im richtigen Umgang mit unseren Mitmenschen suchen viele.
In unserer neuen Stilkolumne „Wie geht's?” beantworten Experten genau diese Fragen – von der angemessenen Kleidung bis zur richtigen Wortwahl.
Zum Auftakt haben wir Ingeborg Arians um ein Gespräch gebeten. Als jahrelange Protokollchefin im Kölner OB-Büro kennt sie sich bestens aus.
Köln – Ist Benehmen Glückssache, Frau Arians?
Ingeborg Arians: Es ist eine Mischung aus Erziehung und Charakter. Manche Verhaltensweisen eignen wir uns durch Lernen an, andere stecken in uns drin. Ob jemand zum Beispiel eher introvertiert oder extrovertiert ist; ob jemand an anderen interessiert ist oder sie ihm eher gleichgültig sind, das beeinflusst stark das Auftreten dieses Menschen.
In beiden Fällen braucht er aber Regeln für das, was als passend oder unpassend empfunden wird. Und das gilt ja für alle Bereiche des sozialen Miteinanders, im Privatleben ebenso wie im Beruf. Frage ich zum Beispiel jemanden nach seiner Krankengeschichte, und wenn ja, wann und wie?
Leider gibt es dazu nur in den seltensten Fällen einen Kodex, den man einfach nur nachzulesen bräuchte. Nehmen Sie den Umgang mit dem Tod. In unserem Kulturkreis ist es unüblich, Trauernde unverblümt danach zu fragen, wie es ihnen wirklich geht. Man hält sich zurück und oft auch eher fern. In anderen Gegenden sind die Menschen da weniger distanziert. In den romanischen Ländern ist es Brauch, dass Familien persönlich besucht werden, wenn dort jemand verstorben ist.
Zur Person
Foto: Michael Bause
Ingeborg Arians, geboren 1954, hat Sprachen und Volkswirtschaftslehre studiert und ist Dipl.-Übersetzerin für Französisch, Spanisch und Englisch. Von 1986 bis 2019 war sie Leiterin der Abteilung Repräsentation und Protokoll im Amt der Oberbürgermeisterin der Stadt Köln. In dieser Zeit arbeitete sie für insgesamt vier Oberbürgermeister und die amtierende OB Henriette Reker.
Wenn man das verallgemeinert, wird es schwierig mit der interkulturellen Begegnung und damit auch mit verbindlichen Höflichkeits- und Verhaltensregeln, oder?
Nein, gar nicht – vorausgesetzt, dass ich meinem Gegenüber mit Interesse und Respekt begegne. Für meine Arbeit als städtische Protokollchefin war es zudem manches Mal eine Erleichterung, dass die Regeln auf kommunaler Ebene nicht so streng sind wie auf dem großen diplomatischen Parkett. Da ist es so ähnlich wie bei den Arbeitszeugnissen: Alles, was gesagt oder getan wird, hat eine zweite Bedeutung.
Eine Art Zeugnis-Chinesisch für Diplomaten.
Ja, und das müssen die Diplomaten eigens lernen. Oder auch die Politiker. Beispiel: Wenn der Präsident der USA vor dem Kongress die Rede an die Nation hält, gibt er den Vertretern von Senat und Repräsentanten-Haus die Hand. So sieht das Protokoll es vor. Diesen Handschlag hat Donald Trump Nancy Pelosi verweigert. Ein klarer Affront.
Als Horst Seehofer Angela Merkel unlängst vor der Kabinettssitzung nicht die Hand gab, war das ein Zeichen der Rücksicht – Stichwort: Corona. Selbst der Handschlag ist also als Geste nicht eindeutig. Die Reaktionen waren damals noch unterschiedlich. Einige meinten, Seehofer sei mal wieder unhöflich zu Frau Merkel gewesen. Das ist jetzt ein paar Krisen-Wochen her. Heute würde keiner mehr ein Politikum Hineininterpretieren.
Heißt das, das Benimm-Regelwerk ist wandlungsfähiger und schnelllebiger, als wir denken?
Regelverstöße oder spontane Abwandlungen werden ja nur daran erkennbar, dass die Regel selbst bekannt und gültig ist. Manchmal kann es sehr abrupte, radikale Wechsel geben. Nehmen Sie das allgemeine Rauchverbot. Plötzlich war eine Geste der Gastlichkeit und Gemütlichkeit – man bietet einem Besucher eine Zigarre oder Zigarette an – verpönt. Daneben gibt es auch den schleichenden Verlust anerkannter Umgangsformen, die dem Fortschritt beziehungsweise der Technik zum Opfer fallen. Mir zum Beispiel fällt es immer noch schwer, in Mails, SMS oder WhatsApp-Nachrichten auf eine Anrede und eine Grußformel zu verzichten, obwohl man das angeblich ja bei dieser Form der Kommunikation ruhig tun darf. Ich finde, mein Gegenüber verdient es, persönlich mit seinem Namen angesprochen zu werden. Und ähnlich gehören für mich „freundliche Grüße“ als Zeichen der Aufmerksamkeit an den Schluss.
Aber im dritten Mahnschreiben nacheinander sind die Grüße doch gar nicht mehr freundlich.
Eine Mahnung ist ja kein persönliches Schreiben, mit dem ich Wertschätzung ausdrücken will. Das weiß jeder. „Herzliche Grüße aus der Domstadt“ würde ich nicht unter einer Mahnung erwarten.
Wie geht's – die Stilkolumne
In unserer neuen Reihe beantworten Ingeborg Arians und weitere Experten Ihre Fragen zum stilsicheren Auftreten in allen Lebenslagen. Eva Reik, Redakteurin im „Magazin“, kennt sich bestens aus mit Mode und der passenden Kleidung zu jeder Gelegenheit. Vincent Moissonnier, Chef des gleichnamigen Restaurants, hat die perfekten Tipps zu Tischmanieren ohne Etepetete. Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft, sagt, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren.
Trotzdem bekommen Rituale schnell etwas Fassadenhaftes, und vielleicht klingen Begriffe wie „Protokoll“, „Zeremoniell“, „Etikette“ nicht umsonst nach Korsett, nach Steifheit und viel Staub.
Spannend, dass Sie ausschließlich abwertende Wörter aneinandergereiht haben! Sie hätten ja auch von Orientierung, Halt und Hilfestellung sprechen können. Bei meinem Abschied hat Oberbürgermeisterin Henriette Reker beide Seiten der Medaille benannt. Natürlich muss eine Protokollchefin eine gewisse Strenge zur Wahrung der Form an den Tag legen. Sie sollte für die spezielle Situation aber immer auch einen Plan B im Kopf haben. Und vor allem: Was immer sie vorschlägt, muss zur Persönlichkeit dessen passen, den sie betreut. Letztlich wollte ich immer, dass die Stadtoberhäupter sich keine Gedanken um die Form und die Abläufe machen mussten, um den Kopf fürs Inhaltliche frei zu haben.
Haben Sie ein Beispiel?
Als der früh verstorbene OB Harry Blum ins Amt kam, sagte er zu mir: „Liebe Frau Arians, eines sollten Sie wissen: Reden sind nicht so mein Ding.“ Nun ist es aber üblich, dass der OB bei repräsentativen Anlässen und bei Empfängen im Rathaus Reden hält - als Zeichen der Wertschätzung der Eingeladenen. Also haben wir für Blum die Dramaturgie der Empfänge verändert: Mehr Taten als Worte; anstelle einer Laudatio lieber eine Ehrung durch eine Eintragung ins Gästebuch der Stadt.
Gibt es einen Wandel der Form, den Sie mit Sympathie erlebt haben?
Es gibt heute einen anderen Umgang mit Autorität. Das war früher eher vom Obrigkeitsdenken geprägt. Und zwar von beiden Seiten. Auf einen OB Burger wären die Leute nicht ohne Weiteres zugegangen und hätten gesagt, „Hallo, Herr Burger!“ Auch heute noch ist Autorität für einen Amtsträger wichtig. Aber er muss sie sich anders verschaffen und erhalten.
Wo haben Sie der Jovialität des Umgangs mit dem OB oder der OB denn Grenzen gesetzt?
Als der legendäre Express-Fotograf „Zik“ zur Verleihung eines Verdienstkreuzes mit Micky-Maus-T-Shirt und Rollschuhen in den Hansasaal kommen wollte, habe ich sehr deutlich gesagt: „Tut mir leid, so nicht!“
Warum nicht?
Weil das die Würde der Veranstaltung verletzt hätte. Und das nicht nur wegen des Mangels an Respekt für den OB, sondern vor allem auch für die Geehrten.
Dann ist die Lockerheit der Form also doch ein Verlust beim Inhalt.
Es kommt darauf an. Die Form kann Ausdruck des Inhalts sein. Früher waren für eine Theater- oder Opernpremiere Smoking oder dunkler Anzug und langes Abendkleid üblich. Das kann ein Herrschaftsinstrument und Abgrenzungssymbol sein: Hier kommt nur rein, wer sich diese Art von Kleidung leisten kann. Es war aber vor allem auch Ausdruck der Wertschätzung für ein besonderes – hier kulturelles – Ereignis. Dass Letzteres nicht immer hundertprozentig gelingt, habe ich bei der Eröffnung der Kölnarena empfunden: Ein Startenor, ein exklusives Programm, ein festlich gekleidetes Publikum – aber dann in einer Sportarena, wo in den Pausen die Köbesse das Kölsch aus Fässern auf ihrem Rücken zapften. Plastikbecher und Smoking - irgendwie passte das nicht zusammen.
An welche heikle Situation, die Sie retten mussten, erinnern Sie sich besonders gut?
Beim Empfang zum 85. Geburtstag für Willy Millowitsch hatte sich ein Hochstapler eingeschlichen, der es – wie ich später erfuhr – immer wieder darauf anlegte, bei solchen Anlässen dabei zu sein. In diesem Fall hatte er sich als Sanitätshelfer für Millowitsch ausgegeben. Als ich merkte, dass da was nicht stimmte, musste ich überlegen, wie ich den Mann ohne Aufsehen aus dem Saal befördert bekomme.
Was haben Sie gemacht?
Ich muss so furchterregend gewirkt haben, dass er sich freiwillig getrollt hat. Na ja, vielleicht habe ich ihn auch etwas am Arm gezogen. Aber zumindest gibt es ein Foto, auf dem meine Halsschlagader sehr, sehr deutlich zu sehen ist – so wütend war ich.
Und wenn wir einmal von den ganz, ganz Großen sprechen: War US-Präsident Bill Clinton, der 1999 zum G7-Gipfel in Köln war, in puncto Protokoll wirklich so locker?
Jein. Ich glaube, da war eine gehörige Portion Show dabei. Wie ich ihn erlebt habe, war „der mächtigste Mann der Welt“ sich seiner Rolle und seiner Bühnenpräsenz mehr als bewusst. Von allen Staatsoberhäuptern, die zum feierlichen Empfang ins Rathaus kamen, war Clinton derjenige, der etwas später kam und alle anderen warten ließ, so dass er sich sicher sein konnte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet wären, wenn die Tür aufginge. Das ist jedenfalls meine Interpretation.
Wenn Sie nun künftig als Expertin in unserer Stil-Kolumne Leserfragen beantworten, worauf kommt es Ihnen da an?
Ich möchte gern vermitteln, dass es sich lohnt, bestimmte Umgangsregeln zu kennen, da sie Orientierung und Sicherheit bieten und dadurch das Miteinander erleichtern.