Statt die Rente zu genießen, arbeiten Silver Worker weiter. Zwei Menschen aus der Region erzählen, was sie im Job hält.
Arbeiten trotz Ruhestand„Es ist ein gutes Gefühl, von der Firma gebraucht zu werden“
Gisela Baars ist genau zwei Monate lang im Ruhestand, bevor sie in ihren Job zurückkehrt. 27 Jahre lang hat sie als Erzieherin in der Kindertagesstätte Adlerstraße in Köln-Rondorf gearbeitet. Am 1. August 2023 geht sie in Rente, im Oktober steigt sie für einen Tag in der Woche wieder ein.
„Ich habe mir immer gesagt, dass ich mit 65 aufhören werde“, erzählt Baars. Weil sie ihren Beruf aber liebt und sich ein Leben ohne ihn noch nicht vorstellen kann, bietet sie ihrer Chefin Gabriele Köhnen-Malsbenden quasi mit dem Abschied an, dass sie sich bei ihr melden kann, wenn es Personalmangel gibt. Ein Angebot, über das sich die Kita-Leiterin sehr freut. „Es fehlen überall Fachkräfte, auch wir haben Probleme, ausreichend Personal zu finden. In so einer Situation auf eine erfahrene Mitarbeiterin zurückgreifen zu können, ist ein großes Glück“, so Köhnen-Malsbenden.
Sie lässt ihrer langjährigen Kollegin trotzdem zwei Monate lang Zeit, den Sommer zu genießen. Und das macht Gisela Baars. Sie liebt es, den Wecker nicht mehr zu brauchen. Jeden Morgen frühstückt sie ganz in Ruhe und macht Ausflüge mit ihrem Mann. Auch für ihre zahlreichen Hobbys hat sie endlich genug Zeit. Es ist Sommer, die Zeit fühlt sich für sie wie lange Ferien an. Bis sie eines Morgens bemerkt, dass ihr die ausgiebigen Frühstücke und spontanen Ausflüge nicht mehr so viel Freude bereiten wie am Anfang. Sie sind einfach nichts Besonders mehr.
„Ich geriet in einen Schlendrian“
Und noch eine andere Sache fällt Gisela Baars auf: Ihr fehlen die Struktur des Arbeitsalltags und die Definition über den Beruf. „Früher war alles getaktet und ich musste schauen, wie ich meine Sachen noch neben der Arbeit erledige. Plötzlich hatte ich Zeit ohne Ende und geriet in einen Schlendrian, der mir nicht gefiel. Immer 100 Prozent gegeben zu haben und dann plötzlich nur noch Rentnerin zu sein, tut echt weh“, stellt Baars fest. Der Anruf ihrer ehemaligen Chefin Anfang Oktober kommt deshalb genau richtig.
Die Frauen einigen sich darauf, dass Gisela Baars jeden Mittwoch für acht Stunden zurück zu ihrer alten Arbeitsstelle kommt. „Kinder, Eltern, Kollegen: Alle haben sich gefreut“, schwärmt Köhnen-Malsbenden. Auch Gisela Baars ist glücklich mit der Entscheidung: „Ich liebe diesen Beruf und habe immer noch Spaß an der Arbeit. 27 Jahre kann man nicht einfach so wegstreichen.“ Es tut ihr gut, an einem Tag in der Woche wieder eine Aufgabe zu haben, um die herum sie alles andere strukturieren kann. Die Wertschätzung im Team gibt ihr das Gefühl, noch gebraucht zu werden und die Arbeit hält sie fit. „Mir tut der Job gut, ich freue mich immer richtig auf diesen Mittwoch“, sagt Baars.
Babyboomer gehen bald in Rente
Es ist noch gar nicht lange her, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Gefühl bekamen, in ihren Betrieben nicht mehr gewünscht zu sein. Alle blickten auf die jüngere Generation, die als moderner und flexibler, allgemein als brauchbarer galt. Das hat sich gehörig geändert. Die Babyboomer-Generation geht bald in Rente, es fehlen überall Arbeitskräfte. Die Erfahrung der Älteren wird vielerorts hochgeschätzt. Rentnerinnen und Rentner, die weiter arbeiten möchten, sind willkommen.
Für das Phänomen gibt es sogar einen Begriff: Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden in Anlehnung an ihre zumeist grauen (oder silbernen) Haare „Silver Worker“ genannt. Wie wichtig sie mittlerweile für den Arbeitsmarkt sind, hat das Münchener Roman Herzog Institut in seiner repräsentativen Studie „Lebensarbeitszeit im internationalen Vergleich. Die Bedeutung der Silver Worker für die Fachkräftesicherung“ ermittelt. Dominik H. Enste, Martin Werding und Julia Hensen verglichen dafür die Lebensarbeitszeit und die Anzahl der Silver Worker in OECD-Staaten und entwickelten Vorschläge, um die Folgen des demografischen Wandels wie Fachkräfteengpässe und Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung abzumildern.
Im Jahr 2022 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland Statista-Daten zufolge bei 64,4 Jahren. Damit arbeiten die Deutschen derzeit knapp zwei Jahre länger als vor 20 Jahren. Bis 2031 soll die Altersgrenze für die Regelaltersrente ohne Abschläge schrittweise auf 67 Jahre angehoben werden. Für viele Menschen ist es eine Horrorvorstellung, so lange arbeiten zu müssen. Die meisten Silver Worker machen dagegen freiwillig weiter oder kehren aus der Rente in den Job zurück.
Zahl der Silver Worker hat sich verdoppelt
In Deutschland hat sich die Zahl der Silver Worker von 2010 bis 2019 nahezu verdoppelt, wie Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen. Trotzdem liegt ihr Anteil nur bei 1,5 Prozent aller Erwerbstätigen mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens zehn Stunden. Das Durchschnittsalter der Silver Worker liegt bei 71 Jahren, im Schnitt arbeiten sie 31,6 Stunden in der Woche. Knapp die Hälfte ist weiter bei ihrem bisherigen Arbeitgeber beschäftigt.
So geben 64 Prozent als Hauptmotiv für Erwerbsarbeit im Ruhestandsalter persönliche Gründe an, unter anderem Spaß an der Arbeit, im Alter eine Aufgabe zu haben und Kontakt zu anderen Menschen zu halten. 24 Prozent arbeiten aus finanziellen Motiven und zwölf Prozent aus betrieblichen Gründen weiter. Es sind vornehmlich Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss, die mit meist reduzierter Wochenarbeitszeit weiter beschäftigt sind und mit ihrer Work-Life-Balance sehr zufrieden sind.
Insgesamt arbeiten – im Vergleich zu den nicht erwerbstätigen Älteren – mehr Menschen aus der oberen Bildungsschicht weiter. Selbstständige und freiberufliche Tätigkeiten, vor allem in der Dienstleistungsbranche oder in kleineren Betrieben, sind dabei in der Mehrheit. Silver Worker, die aus finanziellen Gründen arbeiten müssen, weisen eher einen niedrigen Bildungsstand auf und sind auch weniger zufrieden mit der Work-Life-Balance, der Arbeit im Allgemeinen und mit der Arbeitszeit.
Alles in allem wünschen sich viele Beschäftigte einen flexibleren Übergang in den Ruhestand als derzeit üblich. Die Wissenschaftler empfehlen deshalb etwa in ihrer Studie, Arbeitnehmern zu ermöglichen, ihre Arbeitszeit am Ende ihrer beruflichen Laufbahn schrittweise zu reduzieren.
Einen flexiblen Übergang in die Rente zu haben, kann auch bedeuten, einfach später mit dem Arbeiten aufzuhören, wie es Roland Neumann (Name geändert) gemacht hat. Der 66-Jährige hätte schon im Juli 2023 in den Ruhestand gehen können, arbeitet aber weiter Vollzeit als IT- und Systemarchitekt bei einem Druckerhersteller in der Region. Weil es niemand anderen gibt, der seinen Job machen kann, kann er nicht aufhören. Über Jahre hat er das Computerprogramm für die Drucker entwickelt und gepflegt. Wäre er pünktlich in Rente gegangen, wäre dieses Spezialwissen verloren gegangen. „Die 20 Jahre Erfahrung, die ich in diesem Berufsfeld habe, sind nicht ersetzbar. Das ist, wenn man so will, eine sehr extreme Form der Unentbehrlichkeit“, sagt Neumann.
Eine Unentbehrlichkeit, die ihm gar nicht so recht ist. Er hätte gern ein Team um sich herum aufgebaut, um nicht alleine für alles verantwortlich zu sein. Weil das nicht geschieht, fragen ihn seine Chefs kurz vor dem Renteneintritt, ob er seinen Vertrag für ein weiteres Jahr verlängern kann. Neumann willigt ein und sagt: „Das ist für mich komplett in Ordnung. Andere Menschen mögen froh sein, dass sie endlich in Rente gehen können. Für mich ist mein Beruf meine Berufung.“
Im Juli endet das zusätzliche Jahr und Neumann wird dann tatsächlich seinen Rentenantrag stellen. Ganz aufhören möchte er aber immer noch nicht. „Ich versuche, die Arbeit loszulassen und einen Abschluss zu finden. Das ist nicht ganz einfach, denn es ist ein gutes Gefühl, von der Firma gebraucht zu werden“, sagt er. Die Vorstellung, dort keine Aufgaben mehr zu haben und nur noch Privatmann zu sein, ist noch zu groß für seinen Kopf. „Natürlich ist es schön, dann Zeit mit meiner Frau zu haben und sich um alles kümmern zu können, was liegen geblieben ist. Aber ich genieße bei der Arbeit auch den Druck und die Herausforderung.“
Bis zum Sommer hat er noch Zeit, sich zu entscheiden. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass er zur Hälfte Rentner und zur Hälfte Arbeitnehmer ist. Seine Firma hat bereits Interesse signalisiert.
Keine Einarbeitung notwendig
In der Kita von Gabriele Köhnen-Malsbenden hat sich vor kurzem noch eine weitere Rentnerin beworben. Die Leiterin kann sich gut vorstellen, sie einstellen zu lassen und würde sich wünschen, dass Menschen im Ruhestand auch in anderen Branchen weiter arbeiten. Für sie gibt es keine Nachteile bei diesem Deal, beide Seiten profitierten davon, sowohl der Arbeitgeber als auch der berufstätige Rentner. Bleibe er bei seinem Unternehmen beschäftigt, seien weder Einarbeitungszeit noch aufwändige Personalgespräche in der Probezeit nötig. Meist brächten berufstätige Rentner eine große intrinsische Motivation mit und seien eine große Unterstützung für das Team.
Gabriele Köhnen-Malsbenden ist deshalb überzeugt: „Die Jahrgänge der Babyboomer gehen in den kommenden Jahren alle in Rente. Wir können das Loch überhaupt nicht mehr stopfen. Da wäre es doch kontraproduktiv, diese Personalressourcen nicht zu nutzen.“