StilkolumneÜber Wörter, die unsere Sprache vergiften
- Aber bitte mit Stil! In unserer Kolumne „Wie geht’s?“ dreht sich alles um das richtige Verhalten. Ob bei offiziellen Anlässen, beim Essen, im Gespräch oder vor dem Kleiderschrank.
- Protokollchefin i.R. Ingeborg Arians, Redakteurin und Modeexpertin Eva Reik, Restaurant-Chef Vincent Moissonnier sowie Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch schreiben abwechselnd über das richtige und stilvolle Auftreten.
- Diesmal beantwortet Anatol Stefanowitsch die Leserfrage, wie man entscheiden kann, wann ein Ausdruck nicht mehr verwendet werden sollte.
Köln – Ich bin kein Gegner der „politisch korrekten“ Sprache, aber meiner Meinung nach sollte die Frage nach den Grenzen des Erlaubten auf der Grundlage von Fakten beantwortet werden. So halte ich es nicht für richtig, dass der Fußball-Experte Dennis Aogo wegen der Redewendung „bis zum Vergasen“ zum Rückzug gezwungen war, obwohl der Ausspruch viel älter ist als die Konzentrationslager der Nazis.
Sprachgeschichtlich betrachtet, haben Sie mit Ihrem Beispiel recht, die Redewendung „bis zum Vergasen“ gibt es seit den 1920er Jahren. Als Sprachbild leitet sie sich möglicherweise vom Übergang eines Stoffs aus einem Aggregatzustand in einen anderen ab: Wer etwas „bis zum Vergasen“ tut, tut es so lange, bis sich das Geschehen – bildhaft gesprochen – in Luft auflöst. Man vergleiche Metaphern wie „jemanden zur Weißglut bringen“ oder „vor Wut kochen“.
Allerdings liefert uns die Sprachgeschichte aus zwei Gründen keine Messlatte für einen achtsamen Umgang mit unserer Sprache. Erstens interpretieren wir Gehörtes und Gelesenes auf der Grundlage des aktuellen Sprachgebrauchs und nicht, indem wir Wörter und Redewendungen bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Zweitens können sich Bedeutungen im Laufe der Zeit verändern, sowohl durch interne Bedeutungsverschiebungen als auch durch gesellschaftliche Ereignisse. Das Wort „Idiot“, das seit einiger Zeit im Zusammenhang mit der Bezeichnung „Covidioten“ in der Kritik steht, veranschaulicht die erste Art von Sprachwandel.
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Im antiken Griechenland bezeichnete es jemanden, der sich aus dem öffentlichen Leben heraushält und sich nicht über politische und gesellschaftliche Vorgänge informiert. Da ein solcher Rückzug ins Private nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach, verschob sich die Bedeutung des Wortes hin zu einer Bezeichnung für unkultivierte, ungebildete Menschen und dann für Menschen mit geringer Intelligenz, bis „Idiot“ im 19. Jahrhundert zu einer medizinischen Diagnose wurde, auf deren Grundlage Menschen dann bis weit ins 20. Jahrhundert in Heime abgeschoben, sterilisiert oder ermordet wurden.
An der Redewendung „bis zum Vergasen“ zeigt sich die zweite Art von Sprachwandel. Beim Wort „vergasen“ denken wir heute nicht zuerst an Kohlekraftwerke oder Giftgasangriffe im Ersten Weltkrieg (die ja schon schlimm genug wären). Seit der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Sintize sowie Menschen mit Behinderungen ist das Wort unauflöslich mit den Gaskammern in den deutschen Vernichtungslagern der NS-Zeit verbunden. Wie der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner schrieb: Wenn man eine Sprache verwendet, um die Ermordung von Menschen in solchen Lagern zu planen und zu rechtfertigen, vergiftet das die Sprache dauerhaft.
„Wie geht’s?“
In unserer Kolumne beantworten vier Experten abwechselnd in der Zeitung Ihre Fragen zum stilsicheren Auftreten in allen Lebenslagen. Ingeborg Arians, Protokollchefin der Stadt Köln a.D., weiß, wie man sich bei offiziellen Anlässen richtig verhält. Journalistin Eva Reik kennt sich bestens aus mit Mode und der passenden Kleidung zu jeder Gelegenheit. Vincent Moissonnier, Chef des gleichnamigen Kölner Restaurants, hat die perfekten Tipps zu Tischmanieren ohne Etepetete. Und Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft, sagt, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren. (jf)
Senden Sie uns Ihre Fragen bitte per Mail an:Stilkolumne@dumont.de
Bei der Frage, ob wir ein Wort oder eine Redewendung verwenden können, sollten wir uns deshalb an das Konzept des „Verständnishorizonts“ aus dem Vertragsrecht halten und uns fragen, wie ein durchschnittliches Mitglied der Sprachgemeinschaft uns verstehen würde. Wenn unser Gegenüber erst in einem etymologischen Wörterbuch nachschlagen muss, um die Harmlosigkeit unserer Wortwahl zu erkennen, sollten wir zu einer weniger missverständlichen Formulierung greifen.