In „Unversehrt“ spürt Autorin Eva Biringer weiblichem Schmerz nach. Das hat auch mit ihrer eigenen Geschichte zu tun.
Weiblicher SchmerzWarum Frauen in der Medizin benachteiligt werden
Frau Biringer, in Ihrem Buch „Unversehrt“ beschäftigen Sie sich mit Schmerzen bei Frauen. Warum?
Ich hatte über zwei Jahre lang eine chronische Sehnenscheidenentzündung. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie stark Schmerzen das Leben einschränken können. Und die Geschichte meiner Oma hat mich nicht losgelassen. Seit ich denken kann, lag sie mit Bauchschmerzen auf dem Sofa. Niemand hat ihren Schmerz wirklich ernst genommen. Wir als Familie nicht, auch Ärzte sind der Ursache nie wirklich auf den Grund gegangen. Stattdessen wurde sie ruhiggestellt mit Psychopharmaka. Mir wurde damals erzählt, sie bilde sich diesen Schmerz ein und wolle damit Aufmerksamkeit erregen. Heute vermute ich, dass sie Endometriose hatte. Oder eine andere chronische Schmerzkrankheit.
Heute wissen Sie auch: Was Ihrer Großmutter passierte, ist kein Einzelfall.
Weiblicher Schmerz wird systematisch abgewertet. Das ist in unserer Gesellschaft fest verankert. Es heißt, Frauen seien von Natur aus wehleidig. Das ist doch paradox: Einerseits gesteht man Frauen zu, dass sie rein biologisch mehr Schmerzen aushalten als Männer. Sie haben die Periode, durchleben Geburt, Schwangerschaft, Menopause, sind von Erkrankungen wie Endometriose betroffen. Gleichzeitig gelten Frauen als das schwache Geschlecht. Wenn eine Frau zum Arzt kommt und über Schmerzen klagt, bekommt sie weit früher Psychopharmaka verschrieben als ein Mann. Männer werden hingegen dazu erzogen, Schmerz nicht zu zeigen. Deshalb geht man davon aus, dass wenn ein Mann Schmerzen äußert, sie auch wirklich schlimm sein müssen. Bei Männern wird auch viel genauer geschaut, wo die Schmerzen herkommen.
Sie spielen darauf an, dass seltener zu Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten speziell bei Frauen geforscht wird.
Genau, es heißt oft, solche Studien seien zu teuer und zu aufwendig. Aber es wäre wirklich nötig. Frauen sind häufiger von bestimmten Autoimmunkrankheiten und chronischen Schmerzkrankheiten betroffen. Dafür können Männer natürlich nichts. Aber sie können etwas dafür, dass die Forschung auf diesen Gebieten unterrepräsentiert ist.
In Ihrem Buch sprechen Sie auch über Schmerzen, die über das Medizinische hinausgehen.
Der Schmerz der Frau ist überall. So viele Frauen machen Erfahrungen mit körperlicher, psychischer, sexualisierter Gewalt. Auch die Kulturgeschichte zeigt: Schmerz wird historisch gesehen fetischisiert. Eine Frau, die leidet, wird erotisch aufgeladen. Schönheitsideale lassen Frauen hungern. Auch das ist eine Form von Schmerz.
„Frauen wird beigebracht, für andere da zu sein“
Man könnte argumentieren, dass Frauen es ja auch ein Stück weit selbst in der Hand haben, sich mehr Gehör zu verschaffen.
Das halte ich für schwierig. Frauen wird in unserem gesellschaftlichen System schließlich von Anfang an beigebracht, für andere da zu sein. Sich zu kümmern. Die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Das Resultat davon ist, dass Frauen sich selbst nicht mehr ernst nehmen. Nicht so richtig hinhören. Sich sagen, das mit den eigenen Schmerzen sei erst einmal nicht so wichtig. Erst einmal die Wäsche machen, die Kinder versorgen, die To-do-Liste abarbeiten. Ins ärztliche Sprechzimmer gehen viele Frauen mit einer Bittsteller-Haltung. Es fällt Ärzten dann auch leichter zu sagen: Da ist doch gar nichts, wir können Ihnen mit Ihren Beschwerden nicht helfen. Im Zweifel nehmen Sie halt ein Schmerzmittel.
Wobei selbst das nicht immer so einfach verfügbar ist für Frauen. Forschende aus den USA und Israel haben gezeigt, dass Frauen in Notaufnahmen tendenziell seltener Schmerzmittel als Männer bekommen – trotz ähnlicher Schmerzintensität.
Das ist ja das Paradoxe. Einerseits wird schon 13-Jährigen gesagt: Die Periode tut halt weh. Nimm Ibuprofen, leg dich mit der Wärmflasche aufs Sofa. Statt mal ernsthaft ärztlich abzuklären, ob vielleicht Endometriose ursächlich für sehr starke Schmerzen sein könnte. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 10 Prozent der Frauen davon betroffen sind. Gleichzeitig gibt es das Stereotyp der wehleidigen Frau. Die jammert angeblich mehr rum, übertreibt, soll ein schwächeres Nervenkostüm als der Mann haben. Und bekommt dann in der Notaufnahme seltener ein Schmerzmittel, weil Ärzte ihrer Einschätzung misstrauen.
Wie ließen sich solche Schieflagen verändern?
Es braucht mehr Empathie im Sprechzimmer. Wie Schmerz empfunden wird, lässt sich nicht objektiv messen. Ärzte sollten ihren Patientinnen besser zuhören. Mediziner sollten lernen, sich auch mal einzugestehen, dass sie gerade vielleicht keine Lösung für ein Problem finden und dann an einen anderen Facharzt überweisen. Das medizinische System muss gerechter werden. Mehr Frauen sollten Chefärztinnen werden, Klinikleiterinnen. Gendergerechte Medizin sollte fest in Lehrplänen verankert werden. Und es braucht definitiv mehr Geld für die Forschung zu typisch weiblichen Schmerzkrankheiten.
Kann ich als Einzelperson irgendetwas verändern?
Einzelpersonen werden kein von Männern geprägtes System ändern können. Aber natürlich kann ich mir als einzelne Frau vornehmen, mit einer selbstbewussten Haltung zum Arzt gehen. Es hilft, sich vorher zu informieren, mit Gleichgesinnten auszutauschen. Mir zu sagen: Ich traue meinem Körper, ich will, dass mir jemand zuhört. Und dass wirklich eine Lösung für mein Problem gesucht wird.