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Annas Zwillinge starben im Bauch„Ich habe nicht realisiert, was die Ärzte sagten“

Lesezeit 6 Minuten
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Ein Karton voller  Erinnerungen an  Laura und Marie. 

  1. An einem trüben Wintertag fahren Anna und David S. zu einer letzten Routineuntersuchung in die Klinik. Anna ist schwanger, mit Zwillingen.
  2. Wenig später offenbart die Ultraschalluntersuchung das Unvorstellbare: Die beiden Kinder leben nicht mehr. Anna soll die Kinder trotzdem auf natürlichem Wege zur Welt bringen.
  3. Die Geschichte einer Frau, die sich nach einem schlimmen Schicksalsschlag zurück in ein normales Leben kämpft.

Köln – Im Kleiderschrank von Anna S. steht ein Karton. Er ist getüpfelt mit kleinen weißen Herzen. Auf dem Deckel sind zwei Figuren festgebunden – Sternenbärchen aus rosa und lila Wolle. Sie erinnern an zwei Kinder, die schon im Mutterleib starben. An die Kinder von Anna und David S. Anna (alle Namen geändert) zeigt diesen Karton nur wenigen Menschen. Er enthält zwei Fotos und die Fußabdrücke von Laura und Marie, Strampelanzüge, gestrickte Mützchen und ein paar Lätzchen.

Alles andere – die Wiegen, die Wickelkommode, den Zwillingskinderwagen, die beiden Kindersitze fürs Auto – haben Anna und David weggegeben nach jenem Dienstag im März 2018, als die Ärzte ihnen eröffneten, was zu diesem Zeitpunkt niemand mehr für möglich gehalten hätte: Ihre Töchter waren im Mutterleib gestorben. Vier Tage, bevor sie per Kaiserschnitt geboren werden sollten.

Sternenkinder nennt man kleine Menschen wie sie – Kinder, die als Früh- oder Totgeburten zur Welt kommen. Wie viele im Jahr das in Deutschland sind, ist schwer zu sagen. Mehr als die Hälfte aller Frühschwangerschaften endet mit einer Fehlgeburt, ohne dass die werdenden Mütter überhaupt von der Schwangerschaft wussten. Bei festgestellten Schwangerschaften sind es rund 15 Prozent. Und zwei bis drei von 1000 Kindern schaffen es trotz einer fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht ins Leben. Sie kommen wie Laura und Marie als Totgeburt zur Welt.

Mädchen teilten sich eine Plazenta

Wunschkinder seien die beiden gewesen, sagt Anna. Kinder, auf die ihr Mann und sie lange gewartet hätten. „Als die Ärztin mir in der elften Woche sagte, dass es Zwillinge werden, war ich trotzdem etwas erschrocken.“ Ein Wochenende habe sie gebraucht, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, „dass aus der geplanten Dreier- plötzlich eine Viererfamilie wird“. Auch in den kommenden Wochen will sich bei den werdenden Eltern keine rechte Freude einstellen. Die Schwangerschaft sei nicht ohne Risiko, eröffnet eine Pränataldiagnostikerin der werdenden Mutter: Die Mädchen teilen sich eine Plazenta und eine Fruchtblase. „Eine Schicksalsgemeinschaft“ nennen die Ärzte dieses extrem seltene Phänomen bei eineiigen Zwillingen. Kommt eines der Kinder im Mutterleib zu Schaden, beträgt die Gefahr, dass auch das zweite stirbt, nahezu 100 Prozent. Anna wird engmaschig untersucht, was sie als „sehr belastend“ empfindet. „Ich war ständig in Angst um die Kinder.“

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Die Sternenbärchen erinnern an Laura und Marie, die schon im Mutterleib starben.

Erst in der 24. Schwangerschaftswoche – die Mädchen wären jetzt auch außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig – entspannt sich die Situation. In der 28. Woche signalisieren die Ärzte weitgehend Entwarnung. „Alles super“, eigentlich könne jetzt nichts mehr schief gehen. „Von da an haben wir uns nur noch gefreut.“ Nach der 34. Schwangerschaftswoche sollen Laura und Marie per Kaiserschnitt geholt werden. „Kurz vor dem Termin haben wir den Kühlschrank vollgepackt bis oben, denn nach so einer Geburt kommt man ja erst mal zu nichts“, sagt Anna. Im ehemaligen Arbeitszimmer, in letzter Minute freigeräumt, stehen jetzt zwei Wiegen, im Schrank stapelt sich Babywäsche. Vieles ist geliehen – „zum Glück. Dadurch konnten wir das meiste später zurückgeben“.

An einem trüben Wintertag fahren Anna und David zu einer letzten Routineuntersuchung in die Klinik. Dabei soll auch der genaue Geburtstermin besprochen werden. Kreislaufprobleme habe sie an diesem Tag gehabt, erinnert sich Anna. „Aber ich hätte nie vermutet, dass in meinem Bauch etwas nicht in Ordnung sein könnte.“ Wenig später offenbart die Ultraschalluntersuchung das Unvorstellbare: Laura und Marie leben nicht mehr. Anna soll sie in den nächsten Tagen statt wie geplant durch einen Kaiserschnitt auf natürlichem Weg zur Welt bringen. „Ich habe überhaupt nicht realisiert, was die Ärzte sagten. Ich konnte in diesem Moment nicht einmal weinen und dachte nur: Wie soll ich natürlich entbinden? Darauf bin ich nicht vorbereitet.“

Doch sie schafft auch das. Noch am gleichen Abend leiten die Ärzte eine natürliche Geburt ein. 24 Stunden später hält sie ihre Töchter in den Armen – zwei voll ausgebildete kleine Mädchen mit hellem, flaumigem Haar und fest zusammengekniffenen Augen. Später werden die Ärzte einen zugezogenen Nabelschnurknoten als Todesursache für eines der Kinder diagnostizieren. Ungeklärt bleibt, ob auch das zweite an den Folgen dieser Komplikation gestorben ist oder ob sich zusätzlich dessen eigene Nabelschnur um den Knoten gelegt hat. Eine Obduktion lehnen die Eltern ab. „Es war Schicksal“, sagt Anna heute. „Die Natur hat immer einen Grund, wenn so etwas geschieht. Wir kennen ihn nur nicht.“

Wochenlang verkriecht sie sich nach der Geburt zu Hause, David stürzt sich in die Arbeit. Verwandte, Freunde und Kollegen reagieren mit Besonnenheit und liebevoller Unterstützung.

Offen mit der Trauer umgehen

Zeit brauche es, um Erfahrungen wie diese zu verarbeiten, bestätigt Andrea Hocke, Leiterin der Gynäkologischen Psychosomatik an der Bonner Uniklinik. In der Abteilung können sich Frauen nach Tot- und Fehlgeburten begleiten und beraten lassen. „Einen geliebten Menschen zu verlieren, auch wenn er noch nicht geboren war, tut genauso weh wie jeder Verlust eines Menschen.“ Die Stärke der Trauer hänge nicht unbedingt von der Schwangerschaftswoche ab, sondern vielmehr von den Gedanken und Wünschen, die mit diesem Kind verbunden seien. Ihr Rat: offen mit der Trauer umgehen und sich „dem Schmerz dieser Situation stellen“ – eine Erfahrung, die auch Anna gemacht hat. „Man sollte mit den Betroffenen so normal umgehen wie möglich. Das Schlimmste ist, wegzugucken und so zu tun, als sei nichts passiert.“

Schritt für Schritt öffnet sie sich der Welt und nimmt Kontakt zu ihren engsten Freundinnen auf. „Da konnte ich eine Stunde lang heulen und wusste, die hören mir zu und halten das aus.“ Diese Gespräche hätten ihr ebenso geholfen wie eine Gesprächstherapie und eine Selbsthilfegruppe für die Eltern von Sternenkindern. „Dort habe ich zum ersten Mal begriffen, dass ich keine Exotin bin. Vorher dachte ich immer: Das passiert nur Dir. Alle Frauen bringen lebende Kinder zur Welt, nur Du kannst das nicht.“ In einer solchen Runde brauche man zudem nicht viel zu erklären. „Die anderen wissen, wie es einem geht, und sie verstehen, dass man nach ein paar Wochen vielleicht auch mal wieder lachen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“

„Laura und Marie haben in unseren Herzen sehr viel bewegt“

Anna und David schweißt der Tod ihrer Kinder enger zusammen denn je. „Wenn es einem von uns schlecht ging, konnte der andere ihn auffangen und umgekehrt.“ Gemeinsam beerdigen sie Laura und Marie auf einem Kölner Friedhof, wo es spezielle Grabstätten für Kinder wie sie gibt. Eine Sammelbeisetzung, die verschiedene Kölner Kliniken seit einigen Jahren mehrmals im Jahr für tot- und fehlgeborene Kinder anbieten, lehnen sie ab. „Wir wollten nicht monatelang auf die Beerdigung warten, sondern damit abschließen können.“

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Der Tod ihrer Töchter habe sie gelehrt, das Leben, den Wert von Kindern und die eigene Gesundheit mehr zu schätzen, sagt Anna. „Laura und Marie haben in unseren Herzen sehr viel bewegt, und ein Teil von ihnen lebt in uns weiter.“ Natürlich frage sie sich bis heute manchmal: Warum? Warum gerade ich? „Aber ich habe meinen Frieden damit geschlossen, dass eine höhere Macht entschieden hat, dass es so sein soll wie es ist.“

Mittlerweile können sich Anna und David vorstellen, noch einmal das Wagnis einer Schwangerschaft einzugehen.