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Hirnforscher Gerald Hüther„Eltern glauben, Kinder müssen zum Lernen gezwungen werden“

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Schulcheck-Header-Folge 6

Bei der Jugend-Studie JIM bezeichneten 59 Prozent der befragten Schüler eine „fehlende Motivation“ als das größte Hindernis beim Lernen zu Hause.

Köln – Für den Neurobiologen Gerald Hüther läuft in der Debatte darüber, wie die zukünftige „digitale Bildungsversorgung“ in den Schulen aussehen soll, gerade gründlich was schief. Natürlich müsse jeder Schüler spätestens ab der 5. Klasse ein Tablet haben, auf dem Lerninhalte geteilt werden sollten mit dem Lehrer und auch mit den Mitschülern. „Dass wir das nicht fertig bringen in Deutschland im 21. Jahrhundert und dass es noch immer Schulen gibt, die kein stabiles W-LAN haben ist ein Armutszeugnis, eine Katastrophe.“

Aber jetzt einfach nur die Schulen zu digitalen Zentren aufzurüsten, das greift nach Ansicht des renommierten Experten, der auch die Politik in Fragen der Bildungspolitik berät, zu kurz. Vielmehr müssten die Erkenntnisse aus der Pandemie dazu genutzt werden, das Bildungssystem grundlegend im Hinblick auf das Verständnis der Aufgabe von Schule zu reformieren.

Bildung und Ausbildung verwechselt

Der Wissenschaftler, der sich seit vielen Jahren mit den neurobiologischen Voraussetzungen des Lernens beschäftigt, geht in seinem Buch „#Education for Future“ mit der Schule wie wir sie kennen hart ins Gericht. Seine Diagnose: Schule verwechselt in seinen Augen Ausbildung mit Bildung.

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Nie ist das für ihn augenscheinlicher geworden als durch Corona: Ob es mit dem digitalen Lernen nämlich während des Lockdowns wirklich gut geklappt hat, hatte seiner Erkenntnis nach primär gar nichts mit dem digitalen Lernangebot und mit der digitalen Ausstattung zu tun.

„Das sind am Ende nur Werkzeuge gewesen. Entscheidend war die Frage, ob das Kind ein intrinsisches (also dem eigenen Antrieb folgendes, Anm. d. Red.) Interesse hatte zu lernen. Es gab Kinder, die die Chancen genutzt und alles Mögliche in sich reingefressen haben. Die Interesse am Stoff hatten. Für die waren die Lernprogramme und Lernvideos grandios. Die haben die Impulse aus dem Distanzunterricht aufgenommen und selber rausgefunden, wie zum Beispiel die Photosynthese funktioniert, und waren stolz darauf. Das wird dann auch sich in ihrem Hirn hängen bleiben.“

Freude am Lernen ist der Schlüssel

Der Schlüssel ist für ihn die Freude am Lernen. Wer die hatte, habe sich die Inhalte auch ohne Schule eigenmotiviert und strukturiert prima aneignen können. Wer seine Freude am Lernen schon verloren hatte, dem habe auch das beste Endgerät nichts genutzt. „Der ist einfach versackt und hat die digitalen Medien nur noch als Ablenkung und als Instrumente der Affektregulation genutzt.“

Schule muss sich radikal ändern, sagt Lernexperte und Bildungsaktivist Jürgen Möller im Podcast zur Zukunft der Schule:

Eine Beobachtung, die auch der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein gemacht hat, der den Einfluss von Motivation und Selbstdisziplin auf den Lernerfolg während der Pandemie untersucht hat. Normalerweise liefert die Schule das Strukturgerüst. Weil dieser Halt während der Zeit der Schulschließungen weg gefallen ist, mussten es die Schüler selbst hinbekommen mit Hilfe von Fähigkeiten der Selbstregulation: den Tag strukturieren, sich in Inhalte vertiefen, sich nicht ablenken lassen, aus innerer Beharrlichkeit und Selbstmotivation ein Ziel erreichen.

Bei der Jugend-Studie JIM bezeichneten 59 Prozent der befragten Schüler eine „fehlende Motivation“ als das größte Hindernis beim Lernen zu Hause. Nur sechs Prozent nannten eine „fehlende IT-Ausstattung“ als Problem. Deshalb sieht Neurobiologe Hüther in der Bildungsdebatte den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht: Statt darüber zu streiten, wie eine künftige digitale Bildung in den Schulen auszusehen hat und welche Lernprogramme man anschafft, müsste man zunächst erst einmal klären, was mit „Bildung“ gemeint ist und wozu sie führen soll.

Möglichst viel Stoff in möglichst kurzer Zeit

„Unsere größte Baustelle ist nicht die Digitalisierung, sondern die endlich zu klärende Frage, wozu unsere Schulen dienen sollen: Derzeit geht es lediglich um Inhalte, um das Hereindrücken von möglichst viel Stoff in möglichst kurzer Zeit. Um das Lernen für Prüfungen. Ums Aussortieren und Ausbilden. Sollte nicht vielmehr das Bildungsziel sein, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, worauf es im Leben ankommt und wie sie sich ihre Freude am Lernen erhalten?“

Eigentlich, so Hüther, sei jedem Kind die Lernlust in die Wiege gelegt und es lerne in seinen ersten Lebensjahren unglaublich viel – aus vollkommen eigenem Antrieb. Aber in der Schule werde das Kind zum Objekt von vorgefertigten Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen. Dass es nur auf Zeugnisse und Prüfungsergebnisse ankommt, habe es spätestens im dritten Schuljahr verinnerlicht.

Wenn die Lernfreude lange genug unterdrückt werde, dann sei sie irgendwann weg. „Dann will das Kind nichts mehr entdecken, nur noch chillen und hat null Bock auf Schule. Das passiert zu vielen Kindern und Schule hat fleißig dazu beigetragen.“ Genauso wie die Eltern: „Die glauben ja auch, zum Lernen müsse man gezwungen werden und Schulen und sie selbst müssten Druck machen.“

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All das hat Corona durch die vielen Schüler, die nur noch motivations- und strukturlos zuhause hängen, belegt. Was heißt das aber nun für ein Bildungssystem nach Corona? Oberstes Ziel müsse es sein, dass „kein Kind mehr die Lernfreude in der Schule verliert“. „Wir müssen die Luft rauslassen aus dem zum Elefanten aufgeblasenen System.“

Weniger Stoff und Druck, weniger Bulimielernen, mehr vertieftes, Interessen gesteuertes Lernen: Wenn Lernen – gerade auch mit digitalen Medien – erfolgreich sein soll, gehört dazu laut Hüther immer zwingend die Ebene der Beziehung: Schule müsse ein kommunikatives Zentrum sein, ein Ort des Austausches, wo auch digital Gelerntes in der Gruppe geteilt werde. Digital vermittelter Lernstoff brauche – genau wie analoger – die emotionale Aufladung, damit er behalten wird.

Durch die Einbeziehung mehrerer Sinneskanäle und persönliches, wertschätzendes Feedback könnten dann Begeisterung und Kreativität entstehen. „Und eine Schülergeneration, die die Herausforderungen von Corona und Klimakrise kreativ gestaltend bewältigt.“