Überbringer von Todesnachrichten„Ich habe mich hingesetzt und nur noch geweint“
- Das Überbringen von Todesbenachrichtigungen ist in Köln Aufgabe von speziell geschulten Führungskräften der Polizei, in der Regel sind das alle Dienstgruppenleiter und Wachdienstführer.
- Hauptkommissar Johannes Holl musste dies schon 250 mal tun. Das erste Mal war Heiligabend 1987.
- Ein Artikel aus unserem Archiv.
Manche schreien und schlagen um sich. Andere lachen hysterisch. Einige brechen einfach wortlos zusammen. „Es gibt keine falsche Reaktion“, sagt Hauptkommissar Johannes Holl. „Wenn ich bedenke, wo ich in diesem Moment mit meinen Worten bei den Menschen einbreche, verbietet es sich auch, eine Reaktion zu kritisieren.“
9200 Menschen sind 2016 in Köln gestorben. Die meisten an Krankheiten, Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Knapp 200 durch Selbstmord. 46 bei Verkehrsunfällen. 32 durch Mord und Totschlag.
Gesehen werden in der Regel die Toten und die Hinterbliebenen, ihr Schmerz, ihre Trauer. Übersehen wird oft die belastende Aufgabe derer, die die Todesnachricht überbringen müssen. In Deutschland ist das eine hoheitliche Aufgabe, zuständig ist die Polizei.
An Heiligabend erste Todesnachricht übermittelt
Hauptkommissar Holl, 55 Jahre, Leiter einer Einsatzgruppe, die Lastwagen und Busse kontrolliert, sitzt an einem kleinen Besprechungstisch in seinem Büro der Autobahnwache Bensberg. Ein stämmiger Mann mit dunklen Haaren, dunklem Bart und gezwirbelten Schnauzer. Gläubig, aber nicht frömmelnd, sagt er von sich. Ein fröhlicher, rheinischer Katholik. „Religion darf auch Spaß machen“, findet er. Wahrscheinlich ist das keine schlechte Grundhaltung für jemanden, der furchtbare Nachrichten überbringen muss.
Das erste Mal war Heiligabend 1987. Johannes Holl, Streifenbeamter in Ehrenfeld, 25 Jahre alt, musste einen Unfall aufnehmen. Auf der Widdersdorfer Straße war ein Mann absichtlich gegen einen Baum gefahren. Im Auto lag ein Abschiedsbrief. Holl und sein Kollege sollten die Witwe benachrichtigen. „Wir klingelten, die Frau öffnete. Durch den Flur sah ich den geschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer.“ Zwei Kinder rannten herbei in der Erwartung, der Vater sei endlich nach Hause gekommen.
„Da musste ich der Familie nicht nur sagen, dass er sich umgebracht hatte. Sondern auch, dass er das wegen Schulden getan hatte. Dass er seit Monaten arbeitslos war und das Haus morgens nur zum Schein verlassen hatte. Und dass er am Ende nicht mal mehr Geld hatte, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen.“
Holl fuhr nach Hause zu seiner Verlobten. Auch da brannten die Kerzen am Baum, das Festessen war vorbereitet. „Aber Weihnachten war für mich gelaufen“, erinnert er sich. „Ich habe mich hingesetzt und nur noch geweint.“
Es gibt keine Dienstvorschrift
Für das Überbringen einer Todesnachricht gibt es bei der Polizei Köln keine Dienstvorschrift. Was man sagt, wie man es sagt, ob, wie und wie lange man die Hinterbliebenen tröstet – dafür mag es Muster geben. Am Ende aber entscheidet jeder Polizist, jede Polizistin nach eigenem Ermessen.
Johannes Holl hat seine festen Prinzipien. Er bittet zunächst, hereinkommen zu dürfen. „An meinem Gesichtsausdruck merken die Leute meist schon, dass es ernst ist.“ Er fragt: „Können wir uns bitte setzen?“ Viele reagieren ungeduldig: „Was ist los? Sagen Sie schon!“ In so einem Fall müsse er sie schon mal mit sanfter Gewalt dazu bringen, sich zu setzen, sagt Holl. Er weiß, dass er die Welt seines Gegenübers gleich zum Einsturz bringt. „Es kommt vor, dass die Leute ohnmächtig werden. Ich möchte nicht, dass sie hinfallen und mit dem Kopf aufschlagen.“
Dann spricht Holl den entscheidenden Satz: „Ihr Sohn ist tot.“ Wichtig sei das Wort „tot“, sagt er. Keine Beschönigungen, keine Umschreibungen. „Es muss sofort klar sein, worum es geht. Sonst kommt die Nachricht womöglich nicht an.“
Holl hat schon mehr Todesnachrichten überbracht als die meisten Kollegen
Zwischen 200 und 250 Todesbenachrichtigungen, schätzt Holl, hat er in seinen 30 Jahren bei der Polizei überbracht – mehr als die meisten seiner Kollegen. „So oft ich es auch getan habe“, sagt der 55-Jährige, „es ist jedes Mal schwer. Manchmal habe ich gehofft, dass niemand aufmacht.“
Vor fünf Jahren, an einem Samstagnachmittag, klingelte Johannes Holl an einer Wohnungstür in Mülheim, beim Lebensgefährten einer Zoo-Tierpflegerin. „Diese Benachrichtigung war besonders schwierig, weil die Umstände so furchtbar waren“, erinnert sich der Polizist. Ein Tiger hatte die Frau totgebissen. Zudem war es ein Wettlauf gegen die Zeit: Gerade so eben konnte Holl verhindern, dass der Lebensgefährte die Nachricht zuerst aus den Medien erfuhr.
Schlimmster Einsatz war vor gut drei Jahren
Sein schlimmster Einsatz liegt dreieinhalb Jahre zurück. Ali Kurt starb am 13. März 2014 in Stammheim. Er wollte zwei Mädchen retten, die in den Rhein gefallen waren. Die ältere (11) der Schwestern überlebte. Die Sechsjährige drückte Ali Kurt noch ans Ufer, aber sie starb kurz darauf. Der 47-Jährige ging unter und ertrank.
Johannes Holl musste erst der Mutter des Mädchens mitteilen, dass ihre Tochter tot ist. Wenig später saß er bei Ali Kurts Ehefrau und dem zwölfjährigen Sohn im Wohnzimmer. Sagte ihnen, dass der Vater untergegangen sei, abgetrieben und nach menschlichem Ermessen nicht mehr am Leben. Die Leiche tauchte 13 Tage später bei Xanten im Rhein wieder auf.
Klassische Musik hilft ihm
„Dieses Erlebnis ist mir tagelang nachgegangen“, erzählt Johannes Holl. „Wenn ich mich als eine Art Schnitzfigur betrachte, dann ist an diesem Tag ein besonders tiefer Schnitz hinzugekommen.“
Holl fuhr nach Hause, zog sich allein zurück und setzte seine Kopfhörer auf: Gustav Mahler, Dritte Sinfonie, sechster Satz: „Was mir die Liebe erzählt.“ Es ist sein Ritual, er pflegt es immer nach besonders bedrückenden Einsätzen. „Klassische Musik hilft mir, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.“ Auch Gespräche helfen – mit Kollegen, mit Polizeiseelsorgern, mit seiner Frau.
Nicht nur spektakuläre Fälle bleiben im Gedächtnis
Schwierig sei es vor allem, wenn Menschen plötzlich und unerwartet sterben, schlimmer noch: wenn das Opfer ein Kind ist. Unfälle. Selbstmorde. Kapitalverbrechen. „Bei bestimmten Fällen sage ich mir: Lass das nicht zu nah an dich heran.“ Leicht gesagt. Aber wie gelingt das? „Wenn die eigene seelische Konstitution stimmt. Und wenn das Umfeld stabil ist. Auch mein Glaube hilft mir. Ginge mir jeder Fall zu Herzen, wäre ich längst in der Psychiatrie gelandet.“
Nicht nur spektakuläre Fälle bleiben ihm im Gedächtnis, oft sind es die kleinen Dinge, die Johannes Holl nicht vergessen kann. So wie jenen Tag, an dem er einer Mutter sagen musste, dass ihr Säugling an plötzlichem Kindstod gestorben ist. Im Schlafzimmer kämpfte der Notarzt um das Leben des Babys, im Wohnzimmer saß die Mutter alleine auf dem Sofa. Holl setzte sich zu ihr. Ein Sanitäter kam und bedeutete ihm mit einer Geste, dass das Kind es nicht geschafft hat. „Das war wahnsinnig bitter“, sagt Johannes Holl. Er wandte sich der Mutter zu, sagte in ruhigem Ton: „Ihr Kind ist tot.“
Die Frau stand auf, lief lange im Zimmer hin und her, murmelte etwas vor sich hin. Fragte schließlich, ob sie ihr Kind sehen könne. „Ja. Ich komme mit“, antwortete Holl. Im Flur wellte sich der Teppichboden nach oben. Die Mutter drehte sich zu dem Polizisten um. Es gibt keine falsche Reaktion. „Passen Sie auf, Herr Wachtmeister“, sagte sie leise. „Nicht, dass Sie stolpern.“
Polizisten sind geschult
Das Überbringen von Todesbenachrichtigungen ist in Köln Aufgabe von speziell geschulten Führungskräften der Polizei, in der Regel sind das alle Dienstgruppenleiter und Wachdienstführer. Zuständig ist jeweils die Wache, in deren Einzugsgebiet der zu benachrichtigende Angehörige wohnt.
Meistens klingeln die Beamten in Begleitung eines zweiten Polizisten und eines Seelsorgers. Je nach Situation ist vorsorglich auch ein Sanitäter dabei. Die Beamten versuchen stets, so schnell wie möglich auch Verwandte oder Vertraute des Hinterbliebenen hinzuzuziehen, bevor sie sich wieder verabschieden.
Dieser Artikel ist am 28. Oktober 2017 im „Kölner Stadt-Anzeiger” veröffentlicht worden.