Nach Missbrauch von NasensprayWie sich ein Leben ohne Geruchssinn anfühlt

Autor Christian Löer vor einem Teller Nudeln
Copyright: Jörn Neumann
- Nach dem Missbrauch von Nasenspray verlor der Autor Christian Löer den Geruchssinn.
- Dieser Zustand veränderte sein Leben fundamentaler, als er gedacht hätte.
- Ein Erfahrungsbericht.
Köln – Neulich war ich bei den Eltern eines Freundes zum Essen eingeladen. Es war ein sonniger Sonntag, wir saßen im Wintergarten und aßen sechs Stunden lang. Französische Austern, gegrillte Artischocken, Spaghetti mit Pesto als Zwischengang und Fisch zur Hauptspeise. Zum Dessert Beerenobst mit Vanilleeis und selbstgebackenes Baiser. Und viele andere Dinge, an die ich mich jedoch nicht erinnern kann. Die Tischgesellschaft feierte den Koch, doch ich schwieg. Denn von all der Pracht schmeckte ich: Nichts.
Wut über eine verkohlte Pizza
Ich hätte gern etwas gesagt, um die Mühe des Kochs zu würdigen. Doch dann hätte ich mich wie ein Lügner gefühlt. Denn ich leide an Anosmie, dem Ausfall des Geruchssinns. Für mich schmeckt das eine Gericht wie das andere. An einer festlichen Tafel sitze ich an guten Tagen gleichgültig, an schlechten frustriert. Und an sehr schlechten Tagen nehme ich Einladungen zum Essen gar nicht erst an.
Als Kinder haben wir manchmal fantasiert, auf welchen Sinn wir verzichten würden, stünden wir jemals vor der Wahl. Hören oder Sehen - darum ging es dann, nicht um den Geruchs- und damit den Geschmackssinn. Natürlich ist mir mein Augenlicht weiterhin mehr wert. Der Verlust des Geruchssinns fühlt sich mehr an wie ein Kuriosum, eine seltsame Funktionsstörung des Wahrnehmungsapparates. Und bleibt dennoch eine unterschätzte Behinderung.
Jeder kennt das: Wegen einer Erkältung ist die Geruchswahrnehmung zeitweise gestört. Doch nach einer paar Tagen normalisiert sich alles. In meinem Fall hat es sich irgendwann nicht mehr normalisiert. Ich kann nicht genau sagen, wann es geschah. Ich erinnere mich, dass ich in der Karnevalszeit vor zwei Jahren zweimal in kurzer Zeit schwer erkältet war. Um nachts schlafen zu können, benutzte ich viel Nasenspray. Und konnte bald nicht mehr damit aufhören. Wenn mir die Apotheker sagten, dass ich das Zeug nicht länger als fünf Tage am Stück benutzen sollte, musste ich in mich hineinlachen.

Christian Löer vermisst den Geruch des Affenfelsens im Zoo - denn daran sind Kindheitserinnerungen geknüpft.
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Was sollte ich denn machen? Die verstopfte Nase war der Normalzustand, ohne Nasenspray war alles dicht. Ich begann, die Apotheken in meiner Nachbarschaft zu wechseln - aus Sorge, man würde mich, den Nasenspray-Süchtigen, wiedererkennen und – ja, was eigentlich? Verhaften? Ein paar schwere Infekte, Nasenspray im Dauereinsatz - eine durchaus übliche Krankengeschichte. Doch die Folgen gehen deutlich über frustrierende Momente zur Essenszeit hinaus.
Vor ein paar Wochen war ich abends allein zu Hause. Im Fernsehen lief ein Fußballspiel, ich kam gerade rechtzeitig aus der Redaktion, um schnell eine Pizza in den Ofen zu werfen. Während das Spiel lief, schrieb ich E-Mails, surfte im Internet - und wunderte mich, als plötzlich Rauch durch den Flur zog. Ich hatte meine Pizza vergessen. Als ich den verkohlten Rest im Ofen fand, stieg eine Mischung aus Wut und Trauer in mir auf. Ich war hungrig und hatte kein Abendessen - das machte mich wütend. Und obwohl die Wohnung wahrscheinlich bestialisch nach verbranntem Käse stank, war mir nichts aufgefallen. Das machte mich traurig.
Nicht riechen zu können, isoliert mich von meiner Umwelt. Ich höre, sehe und fühle. Doch etwas fehlt. Manchmal nehme ich mein Leben wahr wie eine Dokumentation im Fernsehen. Wie ein Urlaubsfoto anderer Leute. Ich fühle mich mittendrin, bin aber irgendwie nicht ganz dabei. Denn mit dem Riechen verhält es sich wie mit dem Hören: Oft erreicht ein Laut das Ohr, ohne dass man bewusst danach gehorcht hat. Ebenso steigen einem die Dinge manchmal einfach in die Nase. Der Aufzug riecht nach dem Menschen, der zuvor darin gefahren ist. Man riecht das Parfüm der Freundin, die morgens schon früh das Haus verlassen hat oder bekommt Hunger, bloß weil es aus der Bäckerei so verlockend riecht.
Parfümgestank am Morgen
Was wir als Schmecken verstehen, ist die Kombination aus süß, salzig, bitter, scharf sowie umami, das ist die Empfindung, etwas Herzhaftes im Mund zu haben. Aromen dagegen schmeckt man nicht, man riecht sie. Wer seinen Geruchssinn verloren hat, kann zwar Wasser von Saft unterscheiden. Doch er kann nicht sagen, ob er Apfel- oder Traubensaft trinkt.
Als ich vor ein paar Monaten in der Straßenbahn zum Verlag fuhr, saß mir eine ältere Dame gegenüber. Irgendwann stand sie auf, sagte wütend in den vollbesetzten Wagen hinein: „Ich kann diesen Parfümgestank am Morgen nicht ertragen” - und setzte sich woanders hin. Ich hatte eben erst geduscht und trug ein frisches Hemd. Eigentlich war ich mir sicher, für niemanden eine Geruchsbelästigung sein zu können. Eine unerträgliche Dosis Eau de Toilette? Ich war überrascht - und eigentlich konnte ich es auch nicht glauben. Dennoch habe ich seitdem nie wieder Parfüm benutzt.

Redakteur Christian Löer verlor seinen Geruchssinn.
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Sich selbst nicht riechen zu können, bedeutet auch Unsicherheit. Wenn ich allein zu Hause bin, lüfte ich ständig. Weil ich nicht will, dass Besuch kommt und sagt: „Mensch, ist hier eine Luft!” Außerdem bin ich ein außerordentlich guter Kunde meiner Wäscherei. Wobei mir auch das fehlt: Der Duft von frisch gewaschener Wäsche.
Neulich haben wir uns ein Haus angesehen, das wir vielleicht kaufen wollten. Baujahr 1930, altes Parkett, mächtige Bäume im Garten. Ich sah mir jeden Winkel an. Doch ich bekam kein Gefühl für das Gebäude. Irgendwann fragte ich meine Freundin: „Sag mal - wie riecht es hier eigentlich? Muffig? Warm? Nach Holz?” Es roch gut, sagte sie. Nicht intensiv, nicht speziell. Aber insgesamt gut. Schwierig zu beschreiben. Musste man wahrscheinlich selbst riechen.
Viele Betroffene werden depressiv
Meine Freundin muss oft für mich riechen. Ob die Milch noch gut ist, zum Beispiel. Oder wenn wir auf Reisen Früchte essen, von denen wir nicht einmal wissen, wie sie heißen. Dann kann ich vielleicht sagen, ob etwas süß schmeckt oder sauer. Doch die Details bleiben mir verschlossen.
Gerüche sind auch oft mit Erinnerungen verbunden. Ich vermisse den Duft von Waffeln am Sonntagnachmittag. Den Geruch von Insektenschutz in glühender Tropennacht. Den Regen, der auf heißen Asphalt prasselt. Frisch gemähten Rasen. Den Frühling. Das Meer.
Neulich habe ich beim Arzt einen Riechtest absolviert; warum, hat sich mir nicht erschlossen. Die Helferin hielt mir Pipetten mit konzentrierten Duftstoffen unter die Nase, eine nach der anderen. Jedes Mal konnte ich nur mit den Schultern zucken: Nichts. Null. Aus einer Pipette fiel ein dicker Tropfen auf mein Hemd, und die Helferin entschuldigte sich wortreich, worauf ich fragte, wonach ich denn nun wohl für den Rest des Tages riechen würde. Aber ihr ging es nur um den öligen Fleck auf dem Hemd - nicht um den Geruch. „Ach, stimmt: Sie wissen ja gar nicht. . . Nein, keine Sorge: Das war nur Lavendel.”
Jeder Geruchsfetzen ein Erlebnis
Manchmal kommt der Geruchssinn kurzzeitig zurück. Das Leben fühlt sich dann an, als habe jemand das Farbfernsehen eingeschaltet. Alles wird plastisch, erfahrbar, echt. Neulich lag ich auf Kuba am Swimmingpool, und plötzlich stürzte es auf mich ein: Das Chlor im Wasser, das Waschmittel meines Handtuchs. Die Sonnenmilch. Die blühenden Büsche und der Wind, der vom Meer herüberwehte. Doch bis zum Abendessen war alles wieder dahin. Die Languste vom Grill schmeckte wie Papier.
Ich habe auch regelmäßige Geruchsempfindungen, wenn ich Sport treibe. Ich kann jeden Mitspieler meiner Fußballmannschaft am Geruch erkennen. Ich weiß, wie die Kölner Jahnwiese im Lauf der Jahreszeiten ihren Geruch verändert und wie das Plastikgranulat auf dem Kunstrasenplatz riecht, auf dem wir montags spielen. Beim Joggen im Stadtwald rieche ich das Laub, und wenn ich schnell Fahrrad fahre, genieße ich sogar die Abgasfahnen der Autos. Ich unterscheide längst nicht mehr, was ein guter und was ein schlechter Geruch ist. Was soll das auch heißen, „das schmeckt mir nicht”? Für mich ist jede Geschmacksempfindung, jeder Geruchsfetzen ein Erlebnis.
Wie war die Suppe? Weiß nicht
Meine jüngste Kernspinuntersuchung zeigte zwar schwer entzündete Kiefern- und Nebenhöhlen, blieb aber ohne schlimmeren Befund. Es wäre auch denkbar gewesen, dass ein Tumor im Gehirn meinen Geruchssinn abklemmt oder ein unbemerkter Schlaganfall. Sagte man mir jedenfalls nach der Untersuchung.
Mit Hilfe eines Kortison-Nasensprays habe ich mittlerweile die Abhängigkeit vom abschwellenden Nasenspray durchbrochen. Außerdem bekomme ich Akupunkturbehandlungen und nehme speziell für meine Bedürfnisse zusammengemischte chinesische Kräuter, die ich morgens und abends in Wasser eingerührt trinke.
Das Zeug rieche so schlimm, dass sie gar nicht wissen wolle, wie es schmeckt, sagt meine Freundin. Aber eklig schmeckende Kräuter bereiten mir keine Sorgen - die gute Seite einer schlechten Situation. Wie ja auch öffentliche Toiletten für mich jeden Schrecken verloren haben. Wenn ich im Winter in der Halbzeitpause eines FC-Spiels eine der Massentoiletten des Rhein-Energie-Stadions betrete und mir die Brille beschlägt vom Dampf Hunderter Männer, lächle ich in mich hinein. Und stelle mir vor, es rieche nach Blumenwiese. Der früher so gefürchtete Gestank am Affenfelsen des Zoos ist dagegen einer, den ich vermisse. Denn mit dem Geruchssinn ist mir auch ein Zugang zu dieser Kindheitserinnerung verloren gegangen.
Restaurants machen keinen Spaß
Nichts riechen und schmecken zu können kann schwere Folgen haben. Ich bin zum Glück schon immer ein pragmatischer Esser gewesen, daher trifft mich der Sinnesverlust nicht so hart. Viele Betroffene werden depressiv, verlieren drastisch an Gewicht. In meinem Fall ist es eher so, dass ich beim Essen mit jedem neuen Bissen hoffe, dass der Sinn zurückkehrt. Manchmal ahne ich, etwas zu schmecken – und esse doppelte Portionen, nur um am Ende doch wieder gestehen zu müssen, dass ich keine Ahnung habe, was für eine Suppe das gerade gewesen sein soll. Oder was für eine Sorte Eis.
Weil ich mir den Frust ersparen will, gehe ich nur selten ins Restaurant – und wenn ich doch einmal gehe, dann wegen der Geselligkeit. Doch ich trinke nur Wasser zum Essen, denn eine schöne Flasche Wein nicht schmecken zu können, würde mich womöglich endgültig in Depressionen stürzen.
Aber ich weiß ja, dass ich grundsätzlich noch riechen kann. Vor ein paar Tagen hatte ich ein Erlebnis, das mich an die unschlagbare Kombination aus Kräutern, Akupunkturnadeln und Kortison glauben lässt. Ich stand im Supermarkt, als ich plötzlich an den Schrank in der Küche meines Elternhauses denken musste, in dem die Utensilien für das Frühstück aufbewahrt wurden. Zunächst war ich verwirrt, doch dann bemerkte ich, dass ein Geruch die Erinnerung hervorrief. Ich drehte mich um – und sah die Erklärung: Ich stand vor dem Tee-Regal.