Sexpositiv-Bewegung„Je mehr Spaß Sie am Sex haben, desto mehr wollen Sie davon“
Köln – Zum Thema Sex ist mittlerweile alles gesagt – sollte man meinen. Es scheint kaum noch Tabus zu geben, alle Vorlieben und Konstellationen, mit allen Geschlechtern und mehreren Personen, scheinen besprochen zu sein. Wozu dann noch eine Bewegung wie Sexpositiv? „Um wieder mehr Sinnlichkeit zu schaffen“, finden die beiden österreichischen Sexual- und Paarberaterinnen Beatrix Roidinger und Barbara Zuschnig. Es geht darum, Lust mehr genießen zu können und Spaß am Sex zu haben – alleine, zu zweit oder mit mehreren. Im Interview erklärt Beatrix Roidinger, wie das gelingen kann.
Frau Roidinger, es wirkt so, als sei in unserer Gesellschaft sexuell mittlerweile alles erlaubt, alles offen und alles besprochen. Warum braucht man jetzt noch die Sexpositiv-Bewegung?Beatrix Roidinger: Nach meiner Einschätzung sind sehr viele Menschen nicht glücklich mit ihrer Sexualität oder mit ihrer Beziehung. Sexualität wird nach wie vor tabuisiert, obwohl die Gesellschaft vermeintlich offen ist. In Schulen gibt es kaum Sexualpädagogik, viele Beziehungen scheitern an nicht befriedigender Sexualität. Um guten Sex zu haben, muss man seine eigenen Bedürfnisse kennen und darüber sprechen können. Wir müssen lernen, Bedürfnisse auszusprechen und zu verhandeln, auch und gerade in langen Beziehungen.
Ein so offenes Gespräch ist aber ganz schön schwierig. Wer seine Fantasien preisgibt, macht sich verletzlich. Umgekehrt verstören einen die Fantasien des Partners möglicherweise.Roidinger: Ich sage nicht, dass solche Gespräche einfach sind! Man macht sich verletzlich und hat etwas zu verlieren. Wer aber seine sexuellen Wünsche geheim hält, lebt nicht authentisch. Wenn der Partner einen Wunsch oder eine Fantasie formuliert, heißt das auch nicht, dass man das sofort machen muss. Viele Menschen nehmen die Fantasien des anderen zu persönlich, fühlen sich angegriffen, sind beleidigt oder sogar entsetzt. Wenn das die Reaktion auf Offenheit ist, wird man beim nächsten Mal nicht mehr so ehrlich sein. Dann geht Intimität verloren. Wir sollten lernen, die Wünsche des anderen als gutes Feedback zu sehen und uns davon nicht angegriffen zu fühlen. Das betrifft vor allem Frauen, die noch weniger als Männer dazu ermutigt werden ihre eigene authentische Sexualität zu finden. Die haben dann schnell das Gefühl, dass sie ihrem Partner nicht genügen. Hier setzt die Sexpositiv-Bewegung an. Wir können nicht davon ausgehen, dass es einfach automatisch sexuell passt zwischen zwei oder mehreren Menschen. Man muss darüber sprechen, was sich gut anfühlt und was nicht, etwas ausprobieren und auch scheitern. Vor allem Paare sollten keine Angst davor haben, Differenzen zu erkennen.
Die Sexualberaterinnen
Beatrix Roidinger und Barbara Zuschnig begleiten als Sexualberaterinnen in ihrer Wiener Praxis Menschen mit einer sexpositiven Haltung durch Veränderungsprozesse zu allen Fragen rund um Sexualität und Beziehung. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Polyamorie und nicht-monogame Beziehungsformen, sowie Kink, BDSM und Fetisch. Die beiden Frauen bieten auch ein Online-Coaching an, sowohl für Paare als auch für Einzelpersonen.
Im Buch erzählen Sie von einem Paar, bei dem der Mann seiner Frau seine Bisexualität gesteht. Sie kann damit nicht umgehen und fühlt sich betrogen, weil sie das bisher gelebte Konstrukt in Gefahr sieht.Roidinger: Die Frau im genannten Beispiel müsste die Wünsche ihres Mannes ja gar nicht mit sich in Verbindung bringen, sondern könnte einfach akzeptieren, dass er gerne auch was mit Männern hätte. Auch, wenn das vielleicht am Anfang der Ehe nicht so war: Sexualität ist nicht automatisch eine ganze Beziehung lang dieselbe. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns immer wieder verändern. Der sexpositive Ansatz ist: Redet miteinander! Betrügt euch nicht heimlich und lebt mit Geliebten eure Fantasien aus! Lebt nicht in einer Doppelmoral! Sagt, was ihr wollt. Dann gibt es nicht so viel Schmerz und schlechte Beziehungen, die am Ende emotionale Scherbenhaufen hinterlassen.
Wie fängt man so ein intimes Gespräch mit seinem Partner am besten an?Roidinger: Indem man sich zunächst intensiv mit sich selbst auseinandersetzt, zum Beispiel durch Bücher, Seminare oder auch durch eine Therapie. Paare sprechen ja auch über andere heikle und wichtige Themen, Intimität und Sexualität machen eine Beziehung aus, diese Themen müssen genauso besprochen werden. Eine Frage wäre zum Beispiel, ob in der Beziehung genug Raum für Sexualität ist oder ob man die meiste Zeit lieber mit anderen Dingen verbringt.
Die Sexpositiv-Bewegung, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist komplett offen. Jede Art von Sex ist möglich – mit mehreren Personen oder zu zweit, hetereo-, bi- oder homosexuell, hart oder soft. Gibt es irgendwelche Grenzen?Roidinger: Mir ist wichtig klarzustellen, dass die Sexpositiv-Bewegung keine Sache der Subkultur ist. Uns geht es um Sinnlichkeit, darum, besseren Sex zu haben, ihn spannender zu machen und darüber zu sprechen. Etwas schwierig ist die Definition, was überhaupt Sex ist. Für die meisten Menschen ist das Geschlechtsverkehr. Für uns ist Sex alles, was Lust und Vergnügen bereitet. Das können auch Blicke, ein Chat, eine Fantasie oder eine leichte Berührung sein. Sex ist für uns nicht nur Penis in Vagina und alles andere nennen wir Vorspiel. Wir möchten, dass man Sex breiter betrachtet.
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Was ist denn, wenn man gar nicht (mehr) so viel Lust auf Sex hat?Roidinger: Begehren braucht immer wieder neue Impulse, in langjährigen Beziehungen schlafen diese Impulse ein, wenn man sich nicht aktiv darum kümmert. Das Paar muss gemeinsam daran arbeiten. All das bedeutet Mühe, Auseinandersetzung, Bewusstsein und Persönlichkeitsentwicklung. Nichts von dem funktioniert, ohne dass man sich selbst entwickelt und für sich alleine an seinen Ängsten, seinem Selbstbewusstsein arbeitet. Die meisten Leute kleben aber an ihrem Partner und wollen von ihm gerettet werden. Das funktioniert nicht.
„Lust auf Sex entsteht durch Lust am Sex.“ Sie schreiben, dass Lust nicht von selber kommt, sondern dass man sich dafür entscheiden muss. Können Sie das näher erklären?Roidinger: Sex ist eine Entscheidung und bedeutet nicht: „Augen zu und durch.“ Fragen Sie sich, warum Sie lustlos sind. Wenn man nicht mehr 20 ist und gerade frisch verliebt, passiert Sex meistens nicht einfach so von selber. Aber dafür kann er eine andere Tiefe bekommen. Überlegen Sie, was Ihnen Lust macht. Je mehr Spaß Sie am Sex haben, desto mehr wollen Sie davon. Unser Gehirn ist auf Belohnung ausgelegt. Alles, was für gut befunden wird, wollen wir wieder. Umgekehrt stellt sich automatisch Lustlosigkeit ein, wenn man längere Zeit keinen Spaß am Sex hat. Warum soll man das machen, wenn es nicht gut ist? Der entscheidende Punkt ist, dass man für sich selbst sorgen muss und herausfinden muss, was einem gut tut. Dafür ist man nicht vom Gegenüber abhängig. Das hat viel mit Selbstliebe und Selbstwert zu tun. Ich muss mich selbst gut kennen, damit ich mitteilen kann, was ich mag und was mir gut tut.
Das Buch
Beatrix Roidinger/Barbara Zuschnig: „Sexpositiv. Intimität und Beziehung neu verhandelt“, Goldegg Verlag, 200 Seiten, 22 Euro
Also muss man für sich selbst Verantwortung übernehmen und immer wieder neu mitteilen und aushandeln, worauf man gerade Lust hat?Roidinger: Ganz genau. Nicht immer weiß man exakt, was man gerade will und braucht. Verantwortung übernehmen bedeutet auch, dass man dem auf die Spur geht und nicht den Partner dafür verantwortlich macht, dass es jetzt gerade so komisch ist. Wenn der Partner blockt und die Entwicklung nicht mitmacht, sollte man vielleicht auch mal über die Beziehung nachdenken. Man muss Verantwortung für sich übernehmen und auch Entscheidungen treffen.
Stichwort aushandeln: Wenn man keine Zweierbeziehung hat, sondern polyamor lebt, ist es noch schwieriger, immer auf alle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Wie schafft man es, keine Grenzen zu überschreiten?Roidinger: Die Komplexität steigt mit mehr Komponenten. Zu uns kommen viele Menschen um die 30, die ihre Sehnsüchte und Wünsche durch eine polyamore Lebensform erfüllen wollen. Ich versuche, sie darauf vorzubereiten, dass sie dadurch nicht weniger Stress und Beziehungsarbeit haben werden, sondern mehr. Miteinander gibt es mehr zu besprechen, aber auch mit den anderen Menschen, die in das System kommen. Das geht nur, wenn man seine eigenen Gefühle und Grenzen gut kennt und in die Selbstverantwortung geht. Nur dann kann man auf die Grenzen der anderen achten. Davon abgesehen habe ich noch nie erlebt, dass man eine kriselnde Beziehung mit Polyamorie retten kann. Aus der Fülle heraus kann das super sein, wenn das Paar sich gut kennt und sich gut versteht. Aber wenn die Paare aus einer Krise heraus anfangen, die Beziehung zu öffnen, ist es sehr oft sehr schwierig.