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„Wer stärker ist, hat Recht“Islamwissenschaftler warnt vor mehr Gewalt durch Clans

Lesezeit 7 Minuten
Clan_Ruhrpott 4. Teil

  1. Islamwissenschaftler Ralph Ghafban hat bei der Integration der ersten Flüchtlinge aus dem Libanon geholfen.
  2. Schon 1975 erkannte er, dass sich einige Familien nur schwer in Deutschland integrieren lassen würden.
  3. In Zukunft geht er davon aus, dass sich das Problem noch verschlimmert. Vorwürfe macht er der Politik.

KölnHerr Ghadban, Sie haben die Entwicklung der libanesischen Clans in Deutschland von Anfang an beobachtet. Wie konnte es zu dieser Parallelgesellschaft kommen?Ralph Ghafban: Ein paar Monate nach dem Ausbruch des Libanonkriegs im April 1975 erschienen die ersten Flüchtlinge in Deutschland. Wir hatten eine Libanonhilfe gegründet und die Ämter hatten uns gebeten, sie bei der Betreuung dieser neuen Klientel zu unterstützen. 16 Jahre lang habe ich das als Sozialarbeiter gemacht. Mir fiel auf, dass eine bestimmte Gruppe unter diesen Flüchtlingen, nämlich die Mhallamiye, sehr rückständige Familienstrukturen mitbrachten, Clanstrukturen, die eine Integration schwer machen würden. Ich habe damals gewarnt: Man muss sich bei diesen Sippen in Sachen Integration mehr anstrengen. Man muss die Familien sprengen, um sie gesellschaftlich eingliedern zu können.

Was genau war die Herausforderung bei den Mhallamiye?

Sie kommen aus einem Gebiet im Nahen und Mittleren Osten, das stark vom Nomadismus geprägt war. Die vorherrschende gesellschaftliche Form dort ist der Stamm, die Grundeinheit die Großfamilie. Aber das sind nicht alles Clans. Um ein Clan zu werden, braucht man eine stärkere innere Solidarität der Gruppe und eine größere Abgrenzung nach außen. Diese Abgrenzung findet in der Regel durch die Blutrache statt. Das markiert die Zugehörigkeit. Jeder, der außerhalb des Clans steht, ist ein potenzieller Feind, jeder der drin ist, ist zu unbedingter Loyalität verpflichtet. Diese Struktur wurde schon während ihrer Zeit im Libanon gestärkt.

Warum?

Die sogenannten Libanon-Flüchtlinge bestehen aus drei Gruppen: Echten Libanesen, Palästinensern und Mhallamiye-Kurden, die schon im Libanon als Flüchtlinge gelebt hatten. Die Palästinenser waren in erster Linie Bauern. Die Mhallamiye kamen hauptsächlich in den 1940er Jahren als Armutsflüchtlinge in den Libanon. Auch dort wurden sie nicht eingebürgert. Die Mhallamiye erfuhren keine Unterstützung, sie waren auf sich selbst angewiesen. Die Ausgrenzung war ein fruchtbarer Boden für die Clanstruktur. Diese haben sie mit nach Deutschland gebracht.

Warum ist die Integration auch in Deutschland gescheitert?

Ganz einfach: Man wollte sie nicht integrieren. Es waren Flüchtlinge aus der Dritten Welt. Bislang kannte man nur die Flüchtlinge aus dem Ostblock und die bekamen relativ schnell Aufenthaltsgenehmigungen. Bei den Mhallamiye bestand immer der Verdacht, dass sie als Armutsflüchtlinge kamen. Um sie zur Rückkehr zu bewegen, hat man die Asylgesetze verschärft, Arbeitsverbote verhängt, die Sozialhilfe gekürzt, sie in Sammelunterkünfte gesteckt und bei den Kindern auf die Schulpflicht verzichtet. Maßnahmen, um ihnen das Leben schwer zu machen. Dennoch konnte man sie aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention nicht abschieben. Sie wurden also geduldet und an den Rand der Gesellschaft geschoben. In dieser Zeit haben die Clans die Vorteile der Gruppenbildung in einer individualisierten Gesellschaft erkannt. Sie haben gemerkt, dass sie jeden einschüchtern können, wenn sie gemeinsam auftreten. Heute können sie dank Handys innerhalb von zehn Minuten Dutzende Verwandte versammeln, um ihre Stärke zu demonstrieren.

Zur Person

Ralph Ghadban (69 Jahre) ist deutscher Islamwissenschaftler. Geboren wurde er im Libanon, wo er in Beirut bis 1972 Philosophie studierte. Anschließend promovierte er in West-Berlin. 1976 war er Mitbegründer der Libanonhilfe für die Unterstützung der Bürgerkriegsflüchtlinge, 2006 und 2008 Beratungs-Mitglied der ersten Deutschen Islamkonferenz. Ghadban hat 2018 das Buch „Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr“ veröffentlicht.

Warum ist der Staat so machtlos?

Die Politik hat zu lange weggeschaut. Das liegt auch daran, dass die Parteien – und damit meine ich nicht nur das linke Spektrum – Deutschland zur Multi-Kulti-Gesellschaft gemacht haben. Nach der Anschlagserie durch Rechtsextreme in den 1990er Jahren war es den Behörde verboten, Kriminalität und Ethnizität in einen Zusammenhang zu bringen. Es wurde verboten, Minderheiten in irgendeiner Weise zu stigmatisieren. Der Staat hat sich selbst blind gemacht. Es wurde unmöglich, das Phänomen zu sehen.

Aber sind es nicht auch die Clans, die eine Integration schlichtweg ablehnen?

Natürlich. Zwar eröffnete ihnen die sogenannte Altfallregelung Ende der 1980er Jahre reguläre Aufenthaltsgenehmigungen und die Chance, sich zu integrieren, aber das wollten sie nicht mehr. Die Clans betrachten Deutschland als Beutegesellschaft. Durch die Freizügigkeit der Aufenthaltserlaubnis konnten sie ein europäisches Netzwerk aufbauen. Die Verwandtschaft ist verteilt: Schweden, Dänemark, Holland, Norddeutschland, Ruhrgebiet und Berlin. Das sind jetzt nicht mehr die armen Flüchtlinge, sondern international agierende Netzwerke, die sich in fast allen Feldern der organisierten Kriminalität eingenistet haben: Drogen, Geldwäsche, Waffen, Prostitution. Wo es etwas zu holen gibt, sind sie dabei. Die Zeiten, als sie etwa in den 1980er Jahren zu dritt einen Supermarkt überfallen haben, sind vorbei. Ihr Merkmal ist aber weiterhin die Gewalt. Auf diese Weise werden Schutzgelder eingetrieben. Bei der Prostitution vermeiden sie es, selbst Bordelle zu betreiben. Das überlassen sie den Banden aus dem Ostblock, aber sie verlangen Standgeld.

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Wohin fließt das Geld?

Früher vor allem in den Libanon. Heute investieren sie in Immobilien an attraktiven Standorten wie etwa der türkischen Riviera, aber auch in Restaurants. Der neueste Trend sind Shisha-Bars, aber auch Bäckereien. Man glaubt gar nicht, wie viele Bäckereien schon in ihren Händen sind.

Das Leben der Clans beschert inzwischen auch der Filmindustrie gute Quoten. In Serien wie „4 Blocks“ prägen Gewaltszenen den Clan-Alltag. Ist das realistisch?

Ich war Berater dieser Serie. Das ist keine Fiktion, so finden die Dinge statt. Es gibt eine einfache Regel: Wer stärker ist, hat Recht. Sie vermeiden es, dass Konflikte zu Mord führen. Denn wenn etwa im Streit um ein Revier einer getötet wird, greift das tradierte System der Blutrache. Dann muss von der anderen Seite auch jemand sterben. Der Konflikt wird also größer. Um das zu umgehen, werden Gegner möglichst nicht umgebracht, sondern mitunter gefoltert.

Es ist immer wieder die Rede von Paralleljustiz, von Friedensrichtern, die Streitigkeiten zwischen den Clans schlichten.

Es gibt hierzulande keine Friedensrichter, wir sind nicht in den Bergen Kurdistans. Zeugen werden systematisch eingeschüchtert. Eine zentrale Rolle dabei spielen die Anwälte, die ihnen durch Akteneinsicht die Zugänge zu Personalien und Adressen verschaffen, auch von Richtern und Polizisten. Wenn es zwischen Clans zu Problemen kommt, werden Vermittler eingesetzt. Dabei werden Entschädigungszahlungen verhandelt. Trotzdem gilt auch hier: Der zahlenmäßig Stärkere setzt sich durch. Deshalb achten die Familien sehr darauf, immer größer zu werden. Die Clans kommen in Deutschland inzwischen auf 200 000 Mitglieder. Als sie kamen, waren es zwischen 30 000 und 80 000. Die Vergrößerung durch viele Geburten gehört zur Strategie.

Kinderkriegen für den Machterhalt?

Je größer der Clan, desto mehr Macht hat er. Wichtig dabei ist, dass alles in der Familie bleibt. Nicht selten werden die Töchter zwangsverheiratet, viele davon minderjährig. Es gilt das Prinzip der Endogamie: Geheiratet wird nur innerhalb des Clans, bevorzugt ist die Bindung zwischen Cousin und Cousine. Die letzte große Hochzeit ist noch nicht lange her. Im Dezember brachte Clan-Chef Mahmoud Al-Zein seine Tochter unter die Haube. Ihr Cousin ist nun auch ihr Ehemann. Hier sehe ich einen wichtigen Ansatz bei der Strafverfolgung.

Was genau können die Behörden tun?

Zwangsehen und Ehen mit Minderjährigen sind gang und gäbe in den Clans, weil sie die Abschottung nach außen garantieren. Aber es sind strafbare Handlungen. Das sollte man nutzen. Man muss die Gruppe sprengen, um eine individuelle Integration zu ermöglichen. Der Schlüssel sind die Frauen. Ihnen muss man helfen, mit einem Aussteigerprogramm dem System zu entfliehen. In Berlin kümmern sich Jugendamt, Jugendrichter und Sozialarbeiter um solche Fälle. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

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Hochzeitsfeier zweier Clans in Mülheim an der Ruhr. Die Polizei nimmt 160 Autos und mehrere hundert Gäste unter die Lupe. 

In NRW setzen die Behörden auf die Null-Toleranz-Strategie. Zermürbung mittels Razzien und Vermögensabschöpfung. Wie erfolgversprechend ist das?

Die Politik der Nadelstiche ist sehr wichtig. Sie zeigt, dass der Staat präsent ist. Aber die konkreten Ergebnisse sind sehr eingeschränkt. Das Gesetz zur Vermögensabschöpfung hat sich nicht bewährt. Da werden zwar Immobilien beschlagnahmt, aber die Mieten fließen weiter. Dabei gäbe es eine einfache Lösung: Eine Beweislastumkehr. Italien hat das im Kampf gegen die Mafia vorgemacht. Auf diese Weise konnte man Tausende Firmen der Mafia beschlagnahmen und einziehen. Doch Deutschland tut sich mit so etwas sehr schwer. Die Unschuldsvermutung steht über allem.

Sie zeichnen ein sehr düsteres Bild.

Weil ich das Ganze sehr negativ sehe. Wir haben nicht nur arabische Clans. Durch die rasante Erweiterung Europas sind weitere Gruppierungen zu uns gestoßen, die als Clans funktionieren: Tschetschenen, Kosovaren, Albaner und Jesiden. Inzwischen ist eine zunehmende Bewaffnung dieser Gruppen zu beobachten. Wenn die Waffen erst einmal da sind, ist der Gebrauch nicht mehr weit.