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Durch Augenkrankheit erblindetWie Christoph Kaercher ohne fremde Hilfe lebt

Lesezeit 6 Minuten

Der Blindenstock ist Kaerchers Begleiter seit er 16 Jahre alt ist. 

  1. Christoph Kaercher hat Aniridie. Die Augenkrankheit ließ den Bonner erblinden.
  2. Trotzdem lebt Kaercher eigenständig. Er putzt, wäscht und kauft ohne Hilfe ein. Zwar erwischt er beim Einkaufen auch mal das Falsche – doch das ist nicht so schlimm. „Man muss Mut zur Lücke haben, und manchmal hat man eben Pech“, sagt er.
  3. Wir haben ihn in seinem Alltag begleitet.

Köln – Seit einem Jahr wohnt Christoph Kaercher in Bonn. Er fährt mit der Straßenbahn zur Arbeit, mit dem Zug zum Sport, geht zu Fuß zum Supermarkt, kümmert sich um seine Wohnung und die Terrasse. Alles normal für einen 26 Jahre alten Mann, der nach Abschluss seines Studiums eine Arbeit in einer neuen Stadt fand und sich nun einlebt. Allerdings gibt es eine Besonderheit – Christoph Kaercher ist blind.

Er kann starke Helligkeit und Dunkelheit unterscheiden, aber eine angeborene Augenkrankheit, Aniridie, die das Fehlen der Regenbogenhaut beschreibt, versagt ihm die Sehkraft, die bis zu seinem 17. Lebensjahr noch zwei Prozent betrug. „Das hört sich wenig an, ist aber in dem Bereich sehr, sehr viel“, erzählt er und schildert Stationen seiner Biographie, Kindergarten, Schule, Studium, Sport, Reisen mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit. Natürlich seien es „fundamentale Einschränkungen“, sagt er, man müsse „ehrlich zu sich selber sein, dass man nicht alles so wie andere machen kann.“

Technik und Internet verschaffen Freiheit

Dabei handhabt der gebürtige Heidelberger die vielfältigen Möglichkeiten des Smartphones und des Computers zur Orientierung und Kontaktaufnahme, zum Scannen, Vorlesen, Fotografieren und Abgleichen so virtuos, dass er kaum fremde Hilfe benötigt. Technik und Internet verschafften blinden Menschen nicht bloß eine intensivere Teilhabe an der Welt, in der sie zuvor mit Tast- und Geruchssinn, Gehör und Gespür agierten, sondern auch mehr Freiheit.

Beim Einkaufen erwischt er auch mal das Falsche. „Man muss Mut zur Lücke haben, und manchmal hat man eben Pech“, sagt er.

Allein mit der Navigationssoftware und dem Sprachausgabeprogramm Jaws (Job Access With Speech), das ihm jeden Text auf dem Computer und mobilen Telefon vorliest, käme Kaercher überall hin. Aber er nutzt auch Hardware. Seit seinem 16. Lebensjahr führt er beim Gehen einen Blindenstock halbkreisförmig knapp über die Erde und erfasst damit Bodenverhältnisse.

Zudem vermittelt ihm sein Gehör detaillierte Informationen über die Umgebung. Alle stehenden und beweglichen Objekte, drinnen wie draußen, senden Geräusche wieder zurück und geben mit diesem Echo Hinweise über ihre Größe und Distanzen. „Man hat schon einen gewissen Eindruck von der Stadt, eine Empfindung von der Landschaft“, sagt Kaercher. Wenn es zu kompliziert wird, nimmt er ein Taxi. Hauptsächlich gilt, „man kann sich durchhangeln“.

Mit Mobilitätstrainer Stadt kennenlernen

Trotzdem bat Kaercher kurz nach dem Umzug ins Rheinland einen Mobilitätstrainer um Unterstützung. Mit dessen „geschultem Blick“, konnte er die neuen Strecken von der Wohnung zur Arbeit, zu Geschäften, zum Bahnhof und Behörden zügiger kennenlernen. Im Internet hatte er sich bereits über die Bonner Örtlichkeiten informiert, sich eine „geistige Landkarte“ erarbeitet, wie es Klaus Mönkemeyer, Rehabilitationstrainer für Orientierung und Mobilität und Leiter des Kölner „Instituts für soziale Integration Sehbehinderter und Blinder“ (ISIS) formuliert.

Der in den USA ausgebildete Erziehungswissenschaftler, der mit jedem Ratsuchenden individuell die ortsspezifischen Gegebenheiten besichtigt, zeigte ihm Details, markante Punkte, wie Säulen, Papierkörbe, Unebenheiten, die helfen, sich zurechtzufinden. Mönkemeyer beschrieb die Verkehrssituation an Straßenbahnhaltestellen. Wo sind Bodenleitsysteme, die Noppen- und Rillenplatten, die Haltestellen und Richtungen anzeigen? Wo sind Zebrastreifen, blindenspezifische Ampeln oder solche ohne Ton. Denn „das Problematische ist nicht der Weg“, so der Trainer, „sondern Übergänge über Straßen, Zugänge zu Gebäuden“. Und so lief er mit Kaercher auch die Wege innerhalb der Firma ab, zu Büros, Kantine, Toilette.

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Waschen und putzen kann Kaercher ohne Hilfe.

Klaus Mönkemeyers Dienste werden von der Krankenkasse übernommen. Seine Klientel ist zwischen zwei und 94 Jahren alt und auch sonst vielfältig. Manche benötigen nur Hilfe in Einzelfällen, andere grundsätzliche Anleitungen.

Die Tür einer Straßenbahn findet man am besten, wenn man mit dem Gehör auf deren Position achtet und dann stets auf sie zugeht. Öffnet sich diese nicht von allein, muss man an den Wagen herantreten, die Tür mit den Gummilitzen in der Mitte ertasten und so den Öffner finden. Um einzusteigen, ist der Griff zum Handlauf notwendig.

Blessuren durch Anrempler gehören zum Alltag

Das Geräusch des Passantenstromes, bewegt er sich nach rechts oder nach links, eine Treppe hinunter oder hinauf, gibt Auskunft über die Richtung des Weges. Dieses Geräusch ist genau wie das des fließenden oder ruhenden Autoverkehrs eine sichere Aussage über die Rot- und Grünphasen an der Ampel. Bei fremden Menschen nachzufragen, ist eine Fähigkeit, zu der sich manche Blinde überwinden müssen. Fragen offenbart Wissenslücken, und nicht immer hat man Lust zur Kontaktaufnahme.

Kaercher bewegt sich routiniert, was nicht heißt, dass er nicht angerempelt wird. Häufig geschieht das sogar, aber er habe „mittlerweile einen gewissen Galgenhumor“ entwickelt. Mit Blessuren umzugehen, sich davon nicht abschrecken zu lassen, ist eine Übung, die er schon früh absolvierte.

Im Kindergarten, wurde ihm berichtet, seien die Erzieherinnen in Sorge gewesen, weil er draußen über jede Wurzel stürzte. „Aber nach ein, zwei Wochen kannte ich das Außengebiet und bin nicht mehr hingefallen.“

Kindergarten und Grundschule als einziges sehbehindertes Kind besucht

Auf Wunsch der Eltern war er nicht nur im Kindergarten das einzige sehbehinderte Kind, sondern auch in der Grundschule, für dessen Aufnahme sie „beim Schulleiter betteln“ mussten. Mit Tafelkamera, elektrischer Lupe, stark ausleuchtender Schreibtischlampe, Spezialheften mit großen Zeilen und Kästen sowie In-der-ersten-Reihe-Sitzen konnte ihr Sohn dem Unterricht gut folgen.

Die spezielle Aufbereitung der Schulmaterialien bedeutete besonders für Kaerchers Mutter allerdings einen enormen Aufwand, der ab der fünften Klasse nicht mehr ohne Zivildienstleistenden zu meistern war. Es genügt nicht, eine Schulbuchseite mit Text, Grafiken, Tabellen und Bildern auf 300 Prozent zu vergrößern. Stünde man dicht vor einem riesigen Plakat, fände man auch keinen Zusammenhang der verschiedenen Textteile mehr. Alle Elemente einer Seite müssen neu geschrieben und in einzeln erfassbare Formen und Ansichten gebracht werden.

Kaerchers Mutter förderte und forderte ihren Sohn. Als er zehn Jahre alt war, schickte sie ihn allein zum Einkaufen und ließ seinen Einwand, er wisse nicht, wo die Sachen lägen, nicht gelten. Nicht etwa Angst habe ihn damals abgehalten, erinnert sich Kaercher. „Keine Lust“, sagt er, „es ist eben viel bequemer, wenn man alles mundgerecht serviert bekommt.“ Pannen blieben nicht aus. Manchmal habe er falsche Sachen mitgebracht, „wenn ich keinen Bock hatte zu fragen. Man muss Mut zur Lücke haben und manchmal hat man eben Pech.“

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Die letzten beiden Schuljahre verbrachte der Abiturient in der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista), einem Blindengymnasium in Marburg, zu dem er täglich mit dem Zug von Heidelberg aus pendelte. Kaerchers Motto, die eigenen Fähigkeiten mit den äußeren Gegebenheiten abzuwägen, ließ ihn sich für Betriebswirtschaft entscheiden, was er an der SRH (Stiftung Rehabilitation Heidelberg) Hochschule in Heidelberg studierte, mit dem Bachelor und Master abschloss und währenddessen Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes war. Im englischen Tonbridge hielt er sich zwei Wochen wegen eines Sprachkurses auf.

Es gibt nur eines, was Kaercher nicht ohne Hilfe erledigen kann. Um ein Formular zu unterschreiben, braucht er den Hinweis eines anderen, wo genau sich die Stelle auf dem Blatt befindet, damit er den Stift ansetzen kann. Aber sonst: Er kauft ein, kocht, wäscht und putzt die Fenster. Letzteres ist manchmal „tricky“, sagt Christoph Kaercher, testet man mit der Hand, ob das Glas sauber ist, „ist es wieder schmutzig.“