„Mir sind die Tränen gekommen“Markus Ramers über Flutschäden und die Zukunft im Kreis
Kreis Euskirchen – 100 Tage sind seit der Flutkatastrophe vergangen. Der Schock ist dem Aufbaumodus gewichen, doch von Normalität ist der Kreis noch Monate, wenn nicht Jahre, entfernt. Mit Landrat Markus Ramers sprach Tom Steinicke über die vergangenen drei Monate und die anstehenden Herausforderungen.
Lassen Sie doch mal die ersten Stunden der Katastrophe Revue passieren.
Markus Ramers: Es ging darum, so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Dem wurde im Stabsraum, in der Leitstelle und vor allem bei den Einsatzkräften vor Ort alles untergeordnet. Über die Bezirksregierung haben wir Unterstützungskräfte aus dem ganzen Land angefordert, doch es dauerte, bis diese eingetroffen sind. Und viele überflutete Gebiete waren nicht erreichbar – auch nicht für Feuerwehr und Rettungskräfte.
Das war besonders belastend. Eine zentrale Steuerung aus dem Führungsstab war in der Katastrophennacht kaum möglich. Ein vollständiges Lagebild aus allen Kommunen setzte sich aufgrund der eingeschränkten Kommunikation nur nach und nach zusammen. Besondere Aufmerksamkeit galt der Steinbachtalsperre, um einen Dammbruch und damit noch größeres Unheil zu verhindern.
Wie ging, wie geht es weiter?
Ein riesiges Problem war die Müllbeseitigung. Das hat Wochen gedauert, aber inzwischen sind die meisten Orte frei vom Müll und Schlamm. Aktuell geht es darum, die Infrastruktur wieder aufzubauen und zu schauen, dass die Menschen vor dem kommenden Winter wieder Strom haben und heizen können. Einige werden auch in den nächsten Monaten nicht in ihrem Haus oder ihrer Wohnung leben können. Für die müssen wir Lösungen finden. Und dann muss es darum gehen, dass wir die öffentliche Infrastruktur wieder aufbauen. Das betrifft viele Schulen, viele Kindertagesstätten.
Gab es Probleme?
Das Ereignis war in diesen Dimensionen nicht zu beherrschen und deshalb gab und gibt es haufenweise Probleme. An bekannten Hochwasser-Stellen haben die Feuerwehren im Vorfeld präventive Maßnahmen wie das Befüllen von Sandsäcken oder das Abpumpen des Mühlensees ergriffen. Doch auf eine kreisweite Betroffenheit, Ausfall der Kommunikation und Zerstörung wichtiger Infrastruktur waren wir nicht vorbereitet.
Was ist Ihnen an den ersten Tagen besonders in Erinnerung geblieben?
Was mir sehr nah gegangen ist, war, als ich das erste Mal nach der Flut in Bad Münstereifel gewesen bin. Ich habe dort Jahre als Lehrer gearbeitet. Da sind mir die Tränen gekommen, weil man den Ort einfach kennt, ihn anders in Erinnerung hat. Wenn man plötzlich die unvorstellbaren Schäden mit eigenen Augen sieht, was man in den Stunden zuvor nur über den Funk und die Lageberichte mitbekommen hat, ist das etwas ganz anderes. Und der unglaubliche Einsatz aller Hilfsorganisationen und vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer hat mich sehr bewegt.
Was ist derzeit die größte Herausforderung?
Jetzt ist Geduld gefragt. Den Faktor Zeit würde ich als aktuell größte Herausforderung betrachten. Das betrifft sowohl privat Betroffene, aber auch öffentliche Träger bei Gebäuden wie Kitas oder Schulen. Teilweise geht es eben leider nicht so schnell wie gewünscht – auch, weil beispielsweise das Antragsverfahren komplizierter ist als ursprünglich angekündigt. Weil die Bewilligung der Gelder auf sich warten lässt, weil aber auch Gutachten gebraucht werden und es schwierig ist, Handwerker zu finden.
Gibt es noch weitere Schwierigkeiten?
Die steigenden Energiepreise könnten für manche Menschen problematisch werden. Gerade mit Blick auf den Winter und auch für Menschen, die beispielsweise mit Elektro-Öfen die kalte Jahreszeit überbrücken müssen. Auch die eingeschränkte Mobilität bereitet mir Kopfzerbrechen. Die Prognosen zur Wiederherstellung für die Eifel- und Voreifelbahn sind schon eine Hausnummer. Einige Teilstrecken sollen frühestens 2023 wieder in Betrieb gehen.
Wie sieht es mit den Schulen aus?
Für uns als Kreis sind die Berufskollegs aktuell die größte Herausforderung. Wir planen gemeinsam mit den Schulleitungen wieder mit mehr Präsenzunterricht nach den Herbstferien, aber vom Normalbetrieb sind wir in Kall und Euskirchen weit entfernt. Und es ist auch ein Spagat zwischen Wiederaufbau auf der einen Seite und der Frage, was braucht eine moderne Schule, um auch in 10 bis 15 Jahren gut aufgestellt zu sein, auf der anderen Seite.
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Zunächst kümmern wir uns darum, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt in einem warmen Klassenraum sitzen und überhaupt wieder unterrichtet werden. Das hat Vorrang.
Und intern?
Mir ist wichtig, einmal zu betonen, dass auch die kommunalen Verwaltungen in den Städten, Gemeinden und bei uns als Kreis enorm viel leisten, um für die Betroffenen da zu sein. Viele Mitarbeitenden arbeiten seit der Flutkatastrophe und auch noch durch die Belastungen der Pandemie am Limit. Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, freie Stellen in der Verwaltung zu besetzen.
In der Baugenehmigungsbehörde haben wir zum Beispiel 30 Prozent mehr Anträge, in der Zulassungsstelle mussten wir Überstunden anordnen und es gibt Personalbedarf in der Unteren Wasserbehörde, in der Stabsstelle Wiederaufbau sowie in weiteren Abteilungen.
Ist der Kreis für Menschen und Investoren attraktiv?
Auf jeden Fall. Wir sind nach wie vor eine attraktive Region. Und werden das auch bleiben. Ja, wir haben viele Herausforderungen, aber es gibt jetzt auch die Möglichkeit, etwas mitaufzubauen, zu gestalten. Eigentlich ist das eine Phase, in der externe Investoren auf den Kreis schauen sollten. Jetzt ist ein Moment, in dem etwas entsteht.
Aber?
Zur Wahrheit gehört dazu, dass vermutlich nicht jedes Geschäft wieder öffnen wird. Für mich ist ganz wichtig, dass nach der Flutkatastrophe keine zweite Katastrophe kommt, weil die Menschen abwandern oder Arbeits- und Ausbildungsplätze verloren gehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir in vielen Bereichen auch schnell wieder auf die Beine kommen.
Im Ahrtal warnen Experten davor, alles wieder so aufzubauen wie vor der Flutkatastrophe. Wie ist die Situation im Kreis?
Wir haben eine andere Situation als im Ahrtal. Wir haben nicht ganze Ortsteile, die weggeschwemmt worden sind. Wir haben verhältnismäßig wenige Häuser, die abgerissen werden müssen. Wenn wir jetzt sagen, in der und der Straße darf nicht mehr aufgebaut werden, wäre das schwer zu vermitteln. Und umsiedeln werden wir ganze Orte natürlich auch nicht. Es lohnt sich aber zukünftig eine stärkere Auseinandersetzung mit der Frage, wie Gebäude widerstandsfähiger gebaut werden können und in welchen Bereichen besonders sensible Einrichtungen wie Pflegeheime oder Rettungswachen nichts verloren haben.
Stichwort Hochwasserschutz: Welche Lehren ziehen Sie?
Zur Wahrheit gehört, dass wenn wir über Hochwasserschutz sprechen, wir uns eingestehen müssen, dass wir so ein Ereignis wie am 14. Juli nicht hundertprozentig beherrschen können. Es wird darum gehen, wie wir die Lücke kleiner machen können. Wie können wir Schäden minimieren, wie können wir gezielter warnen und wie können wir kritische Infrastruktur besser absichern? Wir müssen uns diesbezüglich generell auf verschiedene Szenarien vorbereiten – beispielsweise auf einen großen Stromausfall, der uns in einer extrem technisierten Welt empfindlich treffen kann.
Wird der Kreis gestärkt aus der Krise hervorgehen?
Ja! Wir haben in den 100 Tagen erlebt, wie die Menschen zusammengehalten haben. Was da entstanden ist – an Nachbarschaftshilfe, an Solidarität. Wir werden wiederkommen.
Was wünschen Sie sich?
Dass wir in zehn, zwanzig Jahren zusammensitzen und zwar das Leid und den Schrecken der Flutnacht nicht vergessen, aber auch an den tollen Zusammenhalt und die einmalige Solidarität zurückdenken. Was mir in Erinnerung bleibt, ist, dass ich viele junge Leute gesehen habe, die geholfen haben. Man hat in den vergangenen Jahren oft mit dem Finger auf die Jugend von heute gezeigt. Jetzt war sie da.