Jugendförderung in EuskirchenWie der Fußball mit dem „Relativen Alterseffekt“ kämpft
Euskirchen-Eifel – Wer seinem Kind den Traum vom Profi-Fußball ermöglichen möchte, muss darauf achten, wann es zur Welt kommt. Das mag kurios klingen, ist aber aus statistischer Sicht die Realität. Denn Kinder, die im ersten Quartal geboren werden, haben die größte Chance, Fußballprofi zu werden.
Schaut man sich beispielsweise die deutsche U-19-Nationalmannschaft an, wird deutlich, dass zwölf der 23 Spieler in den Monaten Januar bis März geboren wurden. Diese Analyse lässt sich nahezu problemlos in allen Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der Vereine sowie den deutschen Jugendnationalmannschaften durchführen. Der Geburtstag aller Spieler, die Bestandteil einer DFB-Auswahlmannschaft sind, liegt zu 80 Prozent in der ersten Hälfte des Jahres. Abgesehen von Augsburg, Frankfurt und Wolfsburg trifft das auch auf 70 Prozent oder mehr der jeweiligen Spieler der Fußball-Bundesligisten zu.
Tempo und Körper entscheidend
Dieses Phänomen nennt sich „Relativer Alterseffekt“, kurz RAE, und ist nicht auf Deutschland oder den Fußball beschränkt. Studien haben ergeben, dass Kinder aus den Sportarten Fußball, Handball und Hockey gleichermaßen davon betroffen sind. Also alles Sportarten, bei denen körperliche Entwicklung und harter Kontakt durch Zweikämpfe eine wesentliche Rolle spielen. Es fällt auf, dass Scouts hauptsächlich nach zwei Faktoren selektieren: Tempo und Körper. Beides sind Merkmale, die den aktuellen Leistungsstand anzeigen und in den bereits sehr konkurrenzorientierten Jugendmannschaften sofortige Ergebnisse liefern. Technik und Raumverständnis sind hingegen wesentlich schwieriger zu scouten – vom möglichen Potenzial ganz zu schweigen. Hat unsere viermalige Weltmeisternation also möglicherweise ein Problem mit der Nachwuchsförderung unserer Kinder?
Für Experten ist der Relative Alterseffekt kein neues Phänomen. So konstatiert der Sportwissenschaftler Prof. Martin Lahmes: „Man kann getrost davon ausgehen, dass mindestens die Hälfte der Fußballtalente, aber auch Begabungen in anderen Sportarten, verloren geht durch die Folgen des Relativen Alterseffekts.“ Doch was ist der RAE überhaupt und warum werden durch ihn so viele Kinder benachteiligt und in der Talentförderung viel weniger stark berücksichtigt?
Die Ursachen liegen in komplexen Strukturen und lassen sich nicht auf einen Faktor zurückführen. Vereinfacht gesagt, bestimmt der RAE die Zuordnung von Sporttalenten in die jeweiligen Jugendmannschaften nach dem reinen Geburtsdatum. Es spielen also die Kinder eines gleichen Jahrgangs zusammen in einer Mannschaft.
Förderprogramm gegen Ungerechtigkeit
Doch das war nicht immer so. Bis 1997 war der Stichtag im Jugendfußball der 1. August des jeweiligen Jahres. Diese Zuordnung nach einem fixen Datum, die von außen betrachtet zunächst logisch erscheint, ist eigentlich extrem ungerecht. Laut dem Sportwissenschaftler Prof. Ingo Froböse bedeutet das im Extremfall, dass im Hinblick auf die biologischen Werte zwei Kinder zusammen Sport ausüben, deren Geburtstage 364 Tage auseinander liegen und, bedingt durch die unterschiedlichen Entwicklungen bei Kindern, in der Konsequenz ein körperlicher Altersunterschied von bis zu fünf Jahren bestehen kann.
Dieser Problematik hat sich auch der DFB angenommen. Seit mittlerweile drei Jahren arbeitet er mit einem speziellen Talentförderungsprogramm gegen die Ungerechtigkeit des Relativen Alterseffekts. Diese Bemühungen betreffen aber bisher nur die Förderungsinstitutionen, die dem DFB selbst untergeordnet sind – wie etwa der DFB-Stützpunkt in Euskirchen.
Für die meisten Fußballtalente führt der Weg in den Profifußball jedoch über die Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der Profivereine. Spieler, die keine Talentförderung in NLZ erfahren, können bis zur U 15 gezielt vom DFB durch das Stützpunkttraining gefördert werden. Hier gibt es seit drei Jahren vom DFB die Vorgabe, eine Verteilung im Verhältnis von 50:50 zwischen Kindern, die im ersten Halbjahr des Jahres geboren wurden, und Kindern aus dem stark benachteiligten zweiten Teil des Jahres einzuhalten.
Ergebnisdruck lastet auch auf Trainer
Das gilt auch für den Stützpunkt Euskirchen, wie DFB-Trainer Horst Bartz erklärt: „Diese Regelung aus dem Talentförderungsprogramm schafft mehr Gerechtigkeit für physisch weniger stark entwickelte Kinder, die sonst trotz anderer Stärken und womöglich sogar höherem Potenzial durch das Raster der Förderung fallen würden.“
Den fehlenden Platz für Entwicklungen sieht Bartz besonders stark in den Vereinsstrukturen und den NLZ: „Aufgrund des hohen Ergebnisdrucks sowie der persönlichen Karriereabsichten in Kombination mit Dumping-Löhnen setzen die Trainer häufig auf Spieler, die ihnen den kurzfristigen Erfolg durch Ergebnisse liefern.“ Gemeint sind vor allem Jugendspieler aus den ersten zwei Quartalen, die allein durch ihre Physis Spiele gewinnen und somit auch unberechtigterweise verstärkt gefördert werden.
Anders sieht das beim Stützpunkttraining aus, das mit einer weitaus intensiveren Talentförderung einen anderen Ansatz wählt. Dazu gehören der geringere Ergebnisdruck aufseiten der Trainer, Individualförderung mit höchstens sechs Spielern pro Trainer sowie regelmäßige subjektive Leistungsbewertungen der Spieler, die Talent und Person berücksichtigen.
Belgien als Vorbild
Doch nicht nur der DFB und Experten wie Froböse und Lahmes haben die Problematik des Relativen Alterseffekts erkannt. Besonders das Nachbarland Belgien zeigt sich progressiv darin, die Selektion nach Alter aufzuheben. Bio-Banding heißt die Methode, die aktuell als die vielversprechendste Lösung angesehen wird, um die unfaire Förderung von Sporttalenten wegen des RAE aufzuheben.
Das Bio-Banding berücksichtigt nicht das Geburtsdatum der Kinder, sondern stützt sich auf biologisch messbare Werte wie Körpergröße, Sitzhöhe und Gewicht. Aus diesen ergibt sich das biologische Alter des Spielers, das gepaart mit der individuellen Einschätzung des Trainers einen Indexwert ergibt, der entscheidend ist, um Mannschaften mit Spielern des gleichen biologischen Alters und der gleichen körperlichen Voraussetzungen zu bilden. Durch diesen größeren Entwicklungsspielraum wird verhindert, dass retardierte Talente zu früh aus dem Wettbewerb ausscheiden und ihnen die Chance verwehrt wird, sich den Traum vom Profi zu erfüllen.
Bio-Branding die Lösung?
Auch in Deutschland treiben immer mehr Akteure diese Idee voran. Ein Beispiel ist der TV-Experte und Ex-Profi Thomas Broich. Mittlerweile als Trainer der U 15 von Eintracht Frankfurt tätig, setzt er sich neben dem Bio-Banding auch für progressive Systemänderungen ein. Beispielsweise spricht er sich für einen Abbau des Ergebnisdrucks durch eine Verteilung der sportlichen Verantwortung im Jugendbereich auf mehrere Trainer aus. So könnten alle angestellten Jugendtrainer der Vereine gleichermaßen alle Nachwuchsmannschaften trainieren und das gleiche Gehalt kassieren. Broich nennt auch die Idee einer Erfolgsquote: „Jugendtrainer könnten Bonuszahlungen erhalten, die sich daran orientieren, wie viele Spieler sie tatsächlich nach oben bringen.“ Das soll bewirken, dass Jugendtrainer nicht nur auf den Spieler setzen, der ihnen aktuell Erfolg bringt.
Aus der Sicht des Euskirchener Stützpunktes ist das Bio-Banding zwar ein sehr spannender Ansatz, um die Problematik des Relativen Alterseffekts vergessen zu machen, allerdings merkt Horst Bartz an, dass diese Methode nicht auf jeden Spieler passe. Man müsse immer charakterbezogen handeln und sollte einen ehrgeizigen Spieler, der schon weiter oben mitspielen möchte, nicht aufgrund seiner Körpermaße daran hindern.
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Der Stützpunkt Euskirchen setzt weiterhin auf die Individualförderung der Spieler, und die Trainer wissen genau um die Stärken und Schwächen der Kinder. Für die Zukunft der Talente aus dem Kreis Euskirchen mit dem Traum, Fußballprofi zu werden, hat der Trainer der U 12 aber einen Wunsch: „Ich möchte, dass im Sinne der Kinder die Zusammenarbeit zwischen dem DFB-Stützpunkt Euskirchen und den Vereinen des Kreises verbessert wird und in Feedback-Gesprächen ein intensiverer Austausch stattfindet.“