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Kinder in der FlutregionProfessor empfiehlt Eltern „gelassene Wachsamkeit“

Lesezeit 6 Minuten

Der Alltag der Kinder und Jugendlichen, die in den Flutgebieten des Kreises leben, hat sich komplett verändert. Reaktionen auf das Erlebte sind völlig normal.

Kreis Euskirchen – Eines stellte Prof. Harald Karutz am Dienstagabend im Kreishaus sofort klar: Nicht er sei der Experte, sondern die vor ihm sitzenden Eltern, Verwandten und Pädagogen, die zu seinem Vortrag mit dem Titel „Kind und Katastrophe“ gekommen waren. Sie seien es, die mit den Kindern tagtäglich Umgang hätten, und nur sie könnten tatsächlich einschätzen, inwieweit das Erleben der Flutkatastrophe von den Kindern bewältigt werde oder nicht. „Die Erfahrungen, die Sie alle hier gemeinsam gemacht haben, habe ich nicht“, betonte der Wissenschaftler, der im Rahmen einer vom Kreis initiierten Vortragsreihe zur Psychosozialen Notfall-Versorgung gekommen war.

Pauschalaussagen, was jetzt „richtig“ sei, um die zum Teil furchtbaren Erlebnisse zu verarbeiten, erteilte Karutz eine Absage. Manche Kinder seien stark belastet, anderen gehe es gut, und eben diesen würde man vermutlich „eher auf den Keks gehen“, wenn man ihnen pauschal etwas aufschwatzen wollte. „Selbst innerhalb einer Familie kann es sein, dass Kinder sehr unterschiedlich mit der Krise umgehen“, so der Forscher, der dafür appellierte, dass „jeder die Hilfe bekommen sollte, die er individuell braucht“.

Nicht zwangsläufig ein Trauma

Die Flutkatastrophe werde bei Kindern sicherlich in Erinnerung bleiben, was aber nicht zwangsläufig bedeute, dass sie alle traumatisiert seien. „Etwa ein Drittel von Katastrophen betroffener Kinder entwickelt länger anhaltende Ereignisfolgen“, wusste Karutz aus der Forschung zu berichten. Im Umkehrschluss bedeute dies aber auch, dass etwa 70 Prozent der Kinder und damit die Mehrheit letzten Endes gut damit zurechtkomme. Kinder seien besonders verletzlich, aber auch resilient, flexibel und anpassungsfähig. Er empfahl allen Eltern und Bezugspersonen besonders aufmerksam zu sein, aber auch darauf zu vertrauen, dass viele Kinder in der Lage sind, die Krise zu bewältigen.

Harald Karutz warb für großes Einfühlungsvermögen seitens der Erwachsenen. Nichts sei nach einer solchen Katastrophe, wie es vorher war – und das treffe durchaus auch jetzt zehn Wochen danach noch zu. Die Flut sei zwar vorbei, der Ausnahmezustand und damit die Akutphase für viele Betroffene nicht. Familien haben ihre Häuser verlassen müssen, manche Schulen und Kitas können nicht mehr besucht werden.

„Es ist ganz normal, dass Kinder auch jetzt noch Ereignisfolgen zeigen“, betonte Karutz. Erschöpfung, Müdigkeit, Trauer, Konzentrationsstörungen, Angst vor Regen oder der Dusche: All das sei normal, müsse aber unbedingt im Auge behalten und bei starker Ausprägung von professionellen Helfern begleitet werden. „Hören Sie einfach gut auf Ihr Bauchgefühl“, sagte er den zuhörenden Menschen im Saal.

Ängste im Spiel ausdrücken

Während Erwachsene, die die Flutkatastrophe erlebt haben, in den Wochen und Monaten danach über kaum etwas anderes miteinander geredet haben, konnten Kinder ihre Erlebnisse und Ängste eher im Spiel zum Ausdruck bringen. Im „posttraumatischen Spiel“ werde beispielsweise die Flut immer wieder nachgespielt. Eltern würden dazu neigen, dieses weniger schöne Spiel zu unterbinden, dabei handele es sich um eine kindliche Bewältigungsstrategie.

Aufmerksam, empathisch und verständnisvoll

Der Diplom-Pädagoge und Notfallseelsorger Prof. Harald Karutz forscht schon lange zum Thema „Psychosoziale Notfallversorgung für Kinder und Jugendliche in komplexen Gefahren- und Schadenslagen“. Seine wissenschaftlichen Untersuchungen basieren unter anderem auf zahlreichen Interviews, die er mit Kindern und Jugendlichen geführt hat, die Augenzeugen oder Betroffene bei Großschadenslagen waren.

Derzeit schreibt er ein Gutachten für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zur Frage „Ist das Bildungswesen in Deutschland eine kritische Infrastruktur?“.

Der Wissenschaftler betont, dass das Krisenerleben eines jeden Kindes anders und von zahlreichen Faktoren abhängig ist. Pauschalisierungen, was Kindern nach eine Katastrophe wie der Flut helfe, lehnt er ab. Vielmehr ermutigt er Eltern und Bezugspersonen, den betroffenen Kindern aufmerksam, empathisch und verständnisvoll zu begegnen, ihre Bewältigungsstrategien aber auch nicht zwingend zu pathologisieren.

Die Besonderheiten bei Kindern, die eine Katastrophe erleben, sei ihr kürzerer Lebensweg, durch den Krisen eine völlig andere Bedeutung haben als für Erwachsene. Entsprechend prägen die Erfahrungen einer solchen Zeit besonders stark und nachhaltig. Kinder haben zudem keine Vorerfahrungen und kein Wissen beispielsweise über die Seltenheit solcher Schadensereignisse.

Wertvolle Informationen über alle Hilfsangebote im Kreis Euskirchen, auch über die Katastrophennachsorge hinaus, bietet der „Wegweiser seelische Gesundheit“, der kostenfrei auf den Seiten des Kreises heruntergeladen oder im Kreishaus ausgedruckt per E-Mail angefordert werden kann. (hn)

www.kreis-euskirchen.de/psag

koordinierungsstelle-53@kreis-euskirchen.de

Hochirritierend sei für Kinder, wenn ihre vertrauten Bezugspersonen durch ein Ereignis wie die Flut „verändert“ seien, wenn sie durch Überforderung oder Traumatisierung nicht mehr den Halt bieten könnten, den die Kinder gewohnt seien. In der Psychosozialen Notfallversorgung würde man deshalb immer erst versuchen, die Bezugspersonen zu stabilisieren.

Harald Karutz versuchte darzulegen, welche Faktoren die entstehenden Folgen beeinflussen: „Entscheidend sind das konkrete Erleben des Geschehens, die Dauer und das Ausmaß von Hilflosigkeit und Kontrollverlust sowie das subjektive Bedrohungsgefühl.“ Auch Alter und Geschlecht spielen eine Rolle, ebenso die persönliche Resilienz. Von ganz wesentlicher Bedeutung sei die Stabilität der Bindungen, „die Beziehungsqualität zu vertrauten Bezugspersonen spielt die größte Rolle in der Forschung“, so der Wissenschaftler. Sich 1000-prozentig auf bestimmte Menschen verlassen zu können, sei für Kinder wesentlich. „Ein Kind, das derzeit immer wieder in Tränen ausbricht und dem mit Trost und Verständnis begegnet wird, ist anders dran als eines, das angeschnauzt wird, es solle sich gefälligst zusammenreißen.“ Solche Kinder seien einem hohen Risiko ausgesetzt, langfristige Folgen zu erleiden.

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Neben der Achtsamkeit im Umgang mit den jungen Menschen plädierte Harald Karutz auch für sogenannte Lichtblicke. Bezugspersonen könnten Hoffnungsaspekte aufzeigen, dabei gelte es, die vermeintlich kleinen Dinge im Blick zu behalten wie ein nach der Flut wiedergefundenes Lieblingsspielzeug.

Karutz erinnerte die Zuhörer im Kreishaus auch daran, dass alle Kinder, die die Flut im Kreis Euskirchen miterlebt hätten, bereits vorbelastet gewesen seien: Seit 2019 erlebten sie die Corona-Pandemie, die ebenfalls mit großen Verzichtserfahrungen einhergehe und den Alltag massiv verändert habe.

Und was ist aus Sicht des Wissenschaftlers nun hilfreich im Umgang mit Kindern nach einer Katastrophe? Karutz nannte hier unter anderem das Trainieren von Bewältigungsstrategien und die Psychoedukation: „Kindgerechtes Erklären, woher beispielsweise die Angst vor Regen kommt. Und Überlegungen, was man machen kann, wenn Angst aufkeimt.“

Manche Kinder bräuchten vermehrt Nähe und Körperkontakt, andere Abstand und Ablenkung. Eltern sollten ihren Kindern erklären, wie es ihnen selber gehe – damit Kinder nicht meinten, sie seien der Grund, dass es Mama oder Papa nicht gut gehe. Und auch die Selbstwirksamkeit könne effektiv gefördert werden, in dem man die Kinder mit Kleinigkeiten zu Hause einbeziehe in die nun anstehenden Arbeiten.

Harald Karutz hält seinen Vortrag „Kind und Katastrophe“ am 13. Oktober, 19.30 Uhr, noch einmal im Kreiskrankenhaus Mechernich.

www.harald-karutz.de