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Hilfsangebot im Kreis EuskirchenGeburtserfahrungen können Eltern monatelang belasten

Lesezeit 7 Minuten
Eine Frau in einem türkisblauen Pullover und Jeans sitzt auf dem Boden und spielt mit einem Kind.

Ist heute eine glückliche Mutter: Anna Kusnierz. Sie ist eine der ersten Teilnehmerinnen des Müttergesprächskreises.

Ein neues Gesprächsangebot im Kreis Euskirchen will Müttern und Vätern niederschwellig Hilfe bieten, die eine schwere Geburt erlebt haben.

Als Anna Kusnierz ihr erstes Kind zur Welt bringt, muss sie alleine auf die Geburtsstation: „Mein Mann durfte gar nicht ins Krankenhaus.“

Corona. Die strengen Regeln während der Pandemie bewirken, dass viele Gebärende im Kreißsaal auf emotionale Unterstützung durch Partner oder Partnerin, Mutter oder Freundin verzichten müssen. Doch Kusnierz ist nicht nur allein, sie fühlt sich auch zunehmend hilflos.

Geburtserfahrung belastet die Mutter-Kind-Beziehung

Die Geburt muss eingeleitet werden, sie fragt nach einem Kaiserschnitt. Der sei ihr aus Kapazitätsmangel verweigert worden, berichtet sie. Zwei Tage hat sie Schmerzen, zum Schluss ist es ein Kraftakt, für sie und für das Personal. „Irgendwann kam das Gefühl, ich kann mein Kind nicht lieben“, erinnert sie sich. Ein Gefühl, das bleibt. Auch nach der Geburt. Kusnierz schämt sich und ihre Hebamme rät ihr, lieber nicht darüber zu sprechen.

Heute weiß die 34-Jährige, dass das genau der falsche Weg ist. Zusammen mit Beata Paterek hat sie den Stein des Anstoßes gegeben für eine Art Online-Selbsthilfegruppe. „Müttergesprächskreis“ heißt sie und richtet sich an Mütter, die eine schwere Geburt erlebt haben. Geleitet wird die Gruppe von Miriam Nachtkamp, die auch die Schrei-Baby-Ambulanz des DRK im Kreis Euskirchen leitet.

Manche Mütter fühlen sich nach der Geburt wie eine Versagerin

Sie ist selbst Mutter und hat in ihrem Berufsleben schon viele dramatische Geburtsberichte gehört. Sie weiß, warum es wichtig ist, dass die Frauen über ihre Erfahrungen sprechen. „Die haben solche Schuldgefühle, dass sie ihr Kind nicht so begleiten, wie es das Kind braucht“, führt sie aus. Immer wieder komme im Alltag das Gefühl der ohnmächtigen Hilflosigkeit wie unter der Geburt zurück und belaste die Mütter. Einige Frauen fühlten sich wie eine Versagerin, die die Geburt vermasselt habe und deswegen eine schlechte Mutter sei.

Von Außen betrachtet wirkt das absurd. Schließlich ist eine Geburt keine Prüfung, bei der man schlecht abschneiden oder gar durchfallen könnte und für deren Ergebnis die Mutter allein verantwortlich wäre. Und das Mutter- und Elternsein beschränkt sich nicht auf die Geburt und das erste Lebensjahr – im Gegenteil.

Eine Geburt ist eine Krise einer Frau. Es ist so ein Kraftakt und nicht kontrollierbar. Man kann das nicht planen.
Miriam Nachtkamp, Leiterin Müttergesprächskreis

„Eine Geburt ist eine Krise einer Frau“, formuliert es Nachtkamp: „Es ist so ein Kraftakt und nicht kontrollierbar. Man kann das nicht planen.“ Allzu oft aber hätten werdende Mütter eine bestimmte Vorstellung, wie die Geburt ablaufen solle. Das erzeuge Druck. Hinzu komme, dass Frauen unter der Geburt nicht immer so aufgeklärt werden, wie man sich das wünsche. „Was manchmal aber auch medizinisch nicht anders geht“, fügt Nachtkamp hinzu: „Da ist oft keine Zeit.“

Auf eine schwere Geburt folgte eine Wochenbettdepression

Eine Erfahrung, die auch Anna Kusnierz gemacht hat. Man habe sie hin und her gezerrt, um das Baby aus ihr heraus zu bekommen, berichtet sie. „Das war das Schlimmste, dass ich das Gefühl hatte, ich habe die Kontrolle verloren“, fügt sie hinzu. Nach der Geburt leidet sie an einer Wochenbettdepression.

Sie habe versucht, mit ihrer Familie oder Freundinnen darüber zu sprechen, doch die hätten ihre Gefühlslage nicht nachvollziehen können. Im Müttergesprächskreis sei das anders. Es tue gut zu sehen, dass es anderen genauso gehe. Inzwischen wisse sie: „Das ist alles normal. Das darf sein.“

Das hat auch Beata Patereck gelernt. Auch sie hat ihren Sohn unter Corona-Bedingungen geboren. Auch sie hatte eine Geburt, die anders verlief als erhofft. Doch mit den Erlebnissen im Kreißsaal hadert sie eigentlich nicht. Es ist die Zeit danach, die ihr zu schaffen macht.

Das muss man nicht als Mutter: Perfekt sein.
Beata Paterek, Teilnehmerin Müttergesprächskreis

Ihr habe Unterstützung gefehlt. In der Familie riet man ihr, sich auf ihre Intuition zu verlassen. Sie habe unbedingt eine gute, eine perfekte Mutter sein wollen. Beispielsweise habe sie ihren Sohn am Anfang jede Stunde gestillt, weil es doch immer heiße: „Brust is best.“ Sie habe versucht, ihr Kind vor allem zu schützen, alles richtig zu machen, wie die perfekten Mütter in den Sozialen Medien – und sich so selbst einen Knast gebaut.

Irgendwann suchte sie Rat bei Miriam Nachtkamp in der Schrei-Baby-Ambulanz und erfuhr dort, dass es vielen Frauen geht wie ihr. Daraufhin suchte sie nach einer Gruppe, in der Mütter sich austauschen können, aber sie habe keine gefunden. Und so war die Idee für den Müttergesprächskreis geboren. Der Austausch mit den anderen Müttern helfe ihr sehr. Auch jetzt noch, drei Jahre nach der Geburt. „Das tut mir gut“, sagt sie. Und sie hat etwas Entscheidendes verinnerlicht: „Das muss man nicht als Mutter: Perfekt sein.“

Bei einigen Frauen sitzt die Scham nach der Geburt tief

Seit Ende des vergangenen Jahres findet der Müttergesprächskreis einmal im Monat statt. Und zwar im Internet. Die Gruppe trifft sich per Videokonferenz – wer will, kann anonym teilnehmen. Es sei enorm wichtig, dieses Angebot so niederschwellig wie möglich zu gestalten, betont Miriam Nachtkamp. Zum einen aus Zeit- und Anfahrtsgründen, zum anderen, weil viele Frauen sich sonst schlicht nicht trauen würden. Zu tief sitze die Scham: „Das ist so schwer für die Frauen, weil sie meistens denken, das ist ihre Schuld.“

Grundsätzlich könne jede Mutter, die ihre Geburtserfahrung oder die Zeit danach belaste, an dem Gesprächskreis teilnehmen. Viele seien erst nach Monaten bereit, über das Erlebte zu sprechen. Häufig sei der erste Geburtstag des Kindes solch ein Datum, an dem der Wunsch nach Aufarbeitung aufkomme. Eines ist Nachtkamp noch wichtig: In der Gruppe finde kein Vergleich der unterschiedlichen Situationen statt. „Da wird jede gesehen“, betont sie.

Meditationen und Körperübungen sollen gegen Stress helfen

Nachtkamp spricht in Bezug auf die Gesprächsgruppe bewusst nicht von traumatischen Geburten. Denn: „Nicht jedes Drama ist ein Trauma“, zitiert sie ihren Mann Johannes Nachtkamp, der Mediziner sei und sich auf Trauma, Ängste und Phobien spezialisiert habe.

Als Hilfestellung für die Frauen im Alltag bringt Nachtkamp auch immer kleine Körperübungen mit zu den Treffen. Ziel sei es, dass die Frauen lernten, auch in stressigen und unsicheren Situationen bei sich zu bleiben. Und sie baut Meditationen ein: „Ich mache das immer zum Schluss, weil es schon sehr anstrengend ist, diese emotionalen Themen zu besprechen.“ Grundsätzlich erlebe sie den Austausch zwischen den Müttern in der Gruppe als sehr bereichernd.

Das kann Anna Kusnierz nur unterschreiben. Inzwischen ist sie Mutter von zwei Kindern und auch die zweite Geburt war dramatisch. Die Herztöne ihres Sohnes fielen immer wieder ab, er musste per Kaiserschnitt geholt und nach der Geburt reanimiert werden. Wie ernst die Situation war, habe sie allerdings erst später erfahren. Trotz der Dramatik habe sie diese Geburt viel besser verarbeitet als die erste. „Ich konnte das nicht glauben, dass ich das so gut verkraften kann“, sagt sie.

Manchmal warte sie noch heute darauf, dass das Erlebte sie einhole. Doch selbst wenn das noch passieren sollte, eines weiß die Mutter nun ganz sicher: Sie ist nicht allein.


Vätern fällt es oft schwerer, Hilfe anzunehmen

Das kostenlose Angebot des Müttergesprächskreises wird vom DRK im Kreis Euskirchen organisiert. Die Kosten trägt das Awo-Familienzentrum Frauenberger Straße. Hier hatte Beate Paterek zum ersten Mal nach einer Gruppe für Mütter gefragt. Damals habe es so etwas im Kreis nicht gegeben, berichten Clarissa Lüßem-Meurer und Britta Fünfzig vom Leitungsteam des Familienzentrums. Doch die Idee verfing und Ende 2024 startete das Projekt.

Vier Mütter seien beim ersten Treffen dabei gewesen, inzwischen seien es acht Teilnehmerinnen. Eigentlich habe sie eine Präsenzgruppe favorisiert, so Lüßem-Meurer. Aber sie verstehe, warum das Online-Angebot besser geeignet sei.

Britta Fünfzig, Leitungsteam AWO-Familienzentrum Frauenberger Straße, (v.l.), Clarissa Lüßem-Meurer, Leitungsteam AWO-Familienzentrum Frauenberger Straße, Miriam Nachtkamp, Leiterin des Müttergesprächskreises und Heike Iven, Leitung Familienbildung DRK, sitzen und stehen auf und an einem bunten Turnkasten. Im Hintergrund sind Turnmatten und bunte Dekoration zu sehen.

Sind froh über das neue Angebot: Britta Fünfzig (v.l.) und Clarissa Lüßem-Meurer vom Awo-Familienzentrum Frauenberger Straße, Miriam Nachtkamp und Heike Iven von der DRK-Familienbildung.

Auch Väter hadern mit den Erfahrungen während einer schweren Geburt und können darunter leiden. Deshalb gibt es auch für sie ein Angebot, das von Johannes Nachtkamp, dem Mann von Miriam Nachtkamp, geleitet wird.

Grundsätzlich sei es für Männer oft noch schwerer, solche Hilfsangebote anzunehmen, sagt Miriam Nachtkamp: „Das ist ja immer noch in der Gesellschaft so: Der Mann muss stark sein.“ Dabei sei es keine Schwäche, sich Hilfe und den Austausch mit anderen Betroffenen zu suchen. Zumal so ein Gesprächskreis den Vätern auch helfen könne, ihre Partnerinnen besser zu verstehen, fügt Lüßem-Meurer hinzu.

Der nächste Müttergesprächskreis findet im Mai, der nächste Vätergesprächskreis am Mittwoch, 4. Juni, statt. Eine Anmeldung über die DRK-Webseite oder per Telefon ist erforderlich.