Der Kreis Euskirchen betreut aktuell 88 unbegleitete geflüchtete Jugendliche. Der Bedarf an Gastfamilien und Vormundschaften steigt.
Einrichtungen sind vollKreis Euskirchen sucht Gastfamilien für geflüchtete Jugendliche
Viel mehr als einen Rucksack haben die wenigstens dabei. Die Reise, die hinter den Jugendlichen liegt, war beschwerlich, oft gefährlich. Nun sind sie im Kreis Euskirchen angekommen. Allein. Ohne Eltern. Ohne Verwandte und Bekannte. Im Juni waren es nach Angaben von Kreis-Jugendamtsleiter Benedikt Hörter 81 unbegleitete Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, die vom Kreis in stationären Jugendhilfeeinrichtungen betreut wurden. Sie kommen aus Syrien oder Afghanistan, einige aus Afrika.
Die Dynamik, die das Thema „Unbegleitete jugendliche Geflüchtete“ aktuell wieder aufnehme, stelle den Kreis vor Herausforderungen, sagt der Jugendamtsleiter. Aktuell müssten es Hörter zufolge sogar 100 Jugendliche sein, die der Kreis nach einer vom Land vorgegebenen Quote zu betreuen habe. „Es kann theoretisch sein, dass wir von heute auf morgen mindestens eine Handvoll Jugendliche zugewiesen bekommen und diese unterbringen müssen, weil wir aktuell nur eine Aufnahmequote von 88 Prozent erfüllen“, erklärt der Jugendamtsleiter.
Flüchtlingswelle 2015/16: Kreis hatte 45 Jugendliche bei Gastfamilien
Das von „heute auf morgen“ hat laut Kreis zwar eher einen Vorlauf von zwei Tagen. Dennoch bleibe kaum Zeit, die Ankunft der jungen Geflüchteten vorzubereiten. Zumal, so Hörter, die Kapazitäten in den Jugendhilfeeinrichtungen im gesamten Kreisgebiet ausgereizt seien. Deshalb sucht der Kreis – wie bei der Flüchtlingswelle 2015/16 – Gastfamilien, die sich der Jugendlichen annehmen. Dabei handelt es sich explizit nicht um Jugendliche, die aufgrund des Kriegs in der Ukraine geflüchtet sind, sondern um Jugendliche aus Syrien oder Afghanistan.
2016 sei der Kreis noch gefragt worden, ob man Geflüchtete aufnehmen könne. Heute werde man nicht mehr gefragt, sondern bekomme sie einfach zugewiesen. „Damals hatten wir 45 Jugendliche bei Gastfamilien. Das war wirklich eine hervorragende Quote“, so Hörter. Nun hofft er, dass sich mindestens etwa 15 Menschen finden, die geeignet sind. Das würde den Druck ein wenig vom Kessel nehmen.
Gastfamilien werden von pädagogischer Fachkraft unterstützt
Um über die Rahmenbedingungen zu informieren, veranstaltet der Kreis am Mittwoch, 18. Oktober, um 18.30 Uhr im Kreishaus eine Informationsveranstaltung. Die Voraussetzungen seien ähnlich wie bei einem deutschen Pflegekind. So müsse ein Gesundheitszeugnis, beispielsweise vom Hausarzt, und ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt werden. Zudem muss genügend Wohnraum vorhanden sein.„Der Jugendliche sollt ein eigenes Zimmer haben“, erklärt Hörter. Das Formale sei überschaubar.
Es gehe aber nicht nur um Formalitäten, sondern auch um pädagogische Ideen, wie es der Experte formuliert. In einem Gespräch mit den Interessenten werde erörtert, wie man sich die Erziehung so vorstelle – beispielsweise konservativ, autoritär oder eher im Laissez-fairen Stil.
Mit im Boot sitze von Beginn eine pädagogische Fachkraft. Diese betreue nicht nur den jungen Geflüchteten, sondern auch die Gastfamilie. Sei es bei Problemen, Herausforderungen oder Alltagsfragen, sagt Hörter. Diese Betreuung sei individuell. Der Leiter des Jugendamts gibt offen zu: „Das dient auch ein wenig der Kontrolle. Wir haben eine sehr hohe Verantwortung bei Jugendlichen.“ Vornehmlich gehe es aber um die Unterstützung. Und darum, dass niemand – weder der Jugendliche noch die Gastfamilie – mit der neuen Situation allein gelassen werde.
Gastfamilien mit Migrationshintergrund gesucht
„Wir schauen, dass wir möglichst Jugendliche in Familien vermitteln, die wir schon einschätzen können“, sagt Hörter. Es sei eher die Ausnahme, dass ein Jugendlicher, der von „heute auf morgen“ im Kreis ankomme, am nächsten Tag schon bei einer Familie ist. Es sei eher der Fall, dass einer der aktuell 88 Jugendlichen aus einer Jugendhilfeeinrichtung in eine Familie komme.
Und Hörter sagt: „80 Prozent der Jugendlichen sind verhaltensunauffällig. Wir sind nicht für sie zuständig, weil wir sie aus schwierigen Familiensituationen herausholen mussten, sondern weil sie ohne Erwachsene hier hingekommen sind.“
Die größte Herausforderung sei die Migration aufgrund der Sprachbarriere. Vieles funktioniere deshalb im Alltag mithilfe von Übersetzungsapps. Der Kreis setze gerade bei den ersten Gesprächen zwischen Jugendlichen und Familien sogenannte Sprachmittler ein. Das können laut Hörter auch Menschen sein, die 2016 in den Kreis gekommen sind. „Es ist durchaus wünschenswert, dass sich mögliche Gastfamilien melden, die selbst einen Migrationshintergrund haben“, sagt er.
Finanziell gehe die Gastfamilie kaum ein Risiko ein. Aktuell beläuft sich der Pflegegeldsatz für Jugendliche ab 14 Jahren laut Jörg Firmenich, stellvertretender Abteilungsleiter, auf monatlich 1250 Euro – steuerfrei. Hinzu kommen dem Experten zufolge noch etliche Beihilfen, beispielsweise für die Einrichtung eines Jugendzimmers (1000 Euro) oder eine Bekleidungspauschale. Idealerweise betreue man als Gastfamilie den Jugendlichen bis zur Volljährigkeit.
Doch man könne sich auch anders engagieren, sagt Hörter. „Natürlich haben wir Jugendliche bei uns, die als junge Erwachsene in der Lage sind, allein zu wohnen. Für die benötigen wir auch immer Wohnraum. Wenn also jemand nicht als Gastfamilie fungieren möchte, aber beispielsweise eine 50-Quadratmeter-Wohnung freihat, darf der sich auch gerne melden“, so der Jugendamtchef. Das laufe dann unter Betreutem Wohnen, fügt Firmenich hinzu: „Wir setzen keinen auf die Straße. Die Leistungen für Gastfamilien enden nicht, nur weil ein Jugendlicher in der Familie seinen 18. Geburtstag feiert.“
Zudem sucht der Kreis Erwachsene, die die Vormundschaft für junge Geflüchtete übernehmen. Ein Vormund übernimmt die persönliche und rechtliche Vertretung des minderjährigen Kindes. „Dabei geht es vor allem darum, die Jugendlichen im Alltag zu unterstützen und sie etwa zu Behörden zu begleiten oder mal mit ihnen einzukaufen“, erklärt Firmenich: „Oft haben die Vormünder noch Kontakt zu den Jugendlichen, wenn sie längst volljährig sind. Sie bauen eine ganz andere Beziehung als Behördenvertreter auf.“
Bürger aus Kreis kümmern sich auch um ukrainische Geflüchtete
Der Kreis Euskirchen sucht gerade explizit nach Gastfamilien für Jugendliche, die ohne Erwachsene nach Deutschland gekommen sind. Sie sollen Jugendliche aufnehmen, die aus Syrien oder Afghanistan kommen. Aber auch Jugendliche, die aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine geflüchtet sind, werden immer wieder von Familien aus dem Kreis Euskirchen betreut. Auch dann, wenn beispielsweise deren Mutter mit nach Deutschland gekommen ist. Einer dieser Menschen ist der Euskirchener Josef Schleser.
Der ehemalige Mathematiklehrer betreut seit Kriegsbeginn immer wieder ukrainische Geflüchtete – obwohl er vor allem zu Beginn seiner Hilfe auch noch seine schwerkranke Frau intensiv pflegen musste. „Ich habe zu Hause den Platz und auch die Zeit. Warum soll ich also nicht helfen“, fragt der Euskirchener Politiker rhetorisch. Schleser unterstützt die Geflüchteten bei Behördengängen und im Alltag.
Gerade beim Kontakt mit Behörden stelle er immer wieder fest, dass die Mitarbeiter an ihre Grenzen kämen. „Es kommen immer mehr Menschen nach Deutschland, aber das Personal in den Behörden wird nicht aufgestockt. Das kann es nicht sein“, ärgert sich Schleser. Zuletzt sei er mit einem 14-jährigen Ukrainer nach Köln gefahren, um ihm dort einen ukrainischen Pass zu besorgen. „Wir hatten einen Tagestermin. Als wir um 9 Uhr in Köln waren, waren 307 Menschen vor uns dran. Also bin ich am nächsten Morgen um 7 Uhr wieder in Köln gewesen“, berichtet Schleser, der aufgrund seiner Kontakte volljährigen Ukrainerin auch hin und wieder Wohnraum vermitteln kann. „Ich liebe es zu organisieren“, sagt er.
Auch eine Euskirchenerin, die namentlich nicht genannt werden möchte, hat unmittelbar nach Kriegsausbruch eine ukrainische Mutter mit ihrem 17 Jahren alten Sohn aufgenommen. Da seien mitunter schon Wertvorstellungen aufeinandergetroffen. „Das Frauenbild ist dort schon noch ein anderes als hier“, meint die Euskirchenerin: „Wir haben uns super verstanden, aber sie hat mir eigentlich gar nicht geholfen. Wahrscheinlich, weil ich kein Mann bin.“
Ihrem Sohn habe die Frau aber buchstäblich alles hinterhergetragen. „Wir haben ihn an der Schule angemeldet und soziale Kontakte vermittelt. Wenn die Mutter nicht dabei war, hat er sich geöffnet. Ansonsten war es eher schwierig“, erzählt sie. Die unterschiedliche Kultur sei die Hauptherausforderung gewesen. Mittlerweile wohne die Mutter mit ihrem Sohn in einer eigenen Wohnung. „Sie spricht schon ziemlich gut Deutsch und hat sich nun auch gut integriert“, berichtet sie. (tom)