Flut im Kreis EuskirchenSabine Pohlen hat drei Menschen und zwei Häuser verloren
Schleiden-Gemünd – Die Flutnacht, die Sabine Pohlen mit ihrem Mann Peter Schröder in der ersten Etage ihres Hauses verbracht hat, ist schlimm gewesen. Doch das ganze Ausmaß des Schreckens offenbart erst der folgende Tag für die Familie. Nach Stunden der Suche und der quälenden Ungewissheit wird für sie feststehen: Ihr Vater ist tot. Ihre Nachbarin ist tot. Ein junges Mädchen aus der Verwandtschaft ist tot. Ihr Haus ist zerstört. Das Haus ihres Vaters ist zerstört.
Fotoalben vor dem Wasser gerettet
Mit einer kleinen Pfütze im Keller, mit einem kleinen Rinnsal, beginnt die Katastrophe für sie gegen 21 Uhr am 14. Juli. Gut eine Stunde später steht das Wasser deutlich über einen Meter hoch, es steigt und steigt, rasend schnell. Der Strom fällt aus. „Pack etwas zu essen ein. Wer weiß, wie lange wir oben bleiben müssen“, sagt Schröder zu seiner Frau, als klar ist, dass sie sich in die erste Etage flüchten müssen. Im Schein der Handytaschenlampe habe sie ein bisschen Brot und etwas Käse eingepackt. „Und die Fotoalben mit den Bildern der Kinder habe ich mir geschnappt“, sagt Pohlen.
Ihren Vater, dessen Haus in Malsbenden nur ein paar Straßen entfernt liegt, hat sie nicht mehr erreichen können. Beim Mittagessen sei er noch so unbesorgt gewesen. „Mit meinen 81 Jahren – da kriege ich schon keine nassen Füße“, habe er gesagt. Am Abend hat er noch mit ihrer Tochter gesprochen. „Willst du nicht lieber zur Mama rüber gehen“, so Pohlen, habe ihre Tochter den Großvater gefragt. Doch auch da sei von Sorge bei ihm nichts zu spüren gewesen. Im Laufe des Abends, als das Mobilfunknetz bereits zusammengebrochen ist, habe ihr Vater ihr noch Nachrichten auf ihrem Handy hinterlassen. Abgehört hat sie die bis heute nicht – dazu fehlt ihr die Kraft.
Am folgenden Tag gegen 14 Uhr steht das Wasser in Malsbenden immer noch kniehoch. Mit Booten werden Menschen evakuiert, die Rettungskräfte sind im Dauereinsatz. Doch niemand kann Pohlen und Schröder etwas über den Verbleib ihres Vaters sagen. „Kennt jemand Heinz Pohlen?“ „Weiß jemand, wo er sein könnte?“ Die Fragen haben sie wieder und wieder gestellt. Doch Antworten kann ihnen niemand geben. Listen werden in diesen Stunden noch nicht geführt. Die Familie teilt sich auf. Neben dem Vater wird auch eine 18-Jährige aus der Verwandtschaft vermisst. Notunterkünfte werden abgeklappert, die Krankenhäuser. Sie klammern sich an die Hoffnung, dass die beiden irgendwo unter den Evakuierten sind.
„Es ist mir ein Trost zu wissen, dass er nicht gelitten hat“
Gegen 20.30 Uhr, so Schröder, sei sein Schwager noch einmal zum Haus ihres Vaters aufgebrochen. Da habe die Kripo an der Brücke gestanden, die zum Haus führt. Er ist gefunden. In seinem Garten. Tot. Sabine Pohlen geht davon aus, dass ihr Vater im Wohnzimmer auf dem Sofa eingeschlafen ist, dass das Wasser die Terrassentür zerstört hat und ins Haus eingedrungen ist. Dass ihr Vater aufgewacht, im Dunkeln umhergetappt ist, das Fenster aufgerissen hat – und herausgespült worden ist. Das Obduktionsergebnis erfährt sie zwei Wochen später: Ihr Vater habe ein schweres Hämatom am Kopf gehabt, sei bewusstlos gewesen, als er ertrunken ist. „Es ist mir ein Trost zu wissen, dass er nicht gelitten hat“, sagt Pohlen.
Über das Schicksal der 18-Jährigen erhält die Familie an diesem Donnerstagabend ebenfalls Gewissheit. Auch sie ist in den reißenden Fluten ertrunken. Zudem erfahren Pohlen und Schröder an diesem Abend, dass ihre Nachbarin, die die andere Hälfte ihres Doppelhauses bewohnt, gefunden ist: Sie ist in ihrem Anbau ertrunken. Als das Wasser gekommen sei, habe sie der Frau noch zugerufen: „Geh nach oben. Wir ertrinken.“ Erreichbar sei die Nachbarin für sie da schon nicht mehr gewesen.
Sich von ihrem Vater zu verabschieden, ist Sabine Pohlen nicht vergönnt gewesen. „Bei der Beerdigung die Urne auf dem Friedhof zu tragen, war, wie ihn nochmal im Arm zu halten“, sagt sie. Sehr viel bedeuten ihr die unzähligen wertschätzenden Reaktionen, in denen seine herzliche und warme Art gewürdigt wird. „So viele haben meinen Vater gesehen, wie er wirklich war“, sagt Pohlen. Mit einer Traumatherapeutin hat Pohlen gesprochen, auch jetzt ist sie in Therapie. „Ich habe gemerkt, dass ich Hilfe haben muss“, sagt sie. Und über ihre Therapeutin: „Ich fühle mich sehr gut aufgehoben.“
Arbeiten, um die Gedanken abzuschalten
Doch neben der Verarbeitung all des Schmerzes ist in ihrem eigenen Haus und dem des Vaters so viel zu tun. Die gesamte Familie stürzt sich in die Arbeit. Auch ihr wird die riesige Hilfsbereitschaft zuteil. Freunde helfen, den Flutmüll zu beseitigen, Bekannte – und Unbekannte. „Es ist wie eine Beschäftigungstherapie, um das Denken auszuschalten“, beschreibt es Schröder: Immer weiter arbeiten, bis man hundemüde ins Bett fällt und zwei, drei Stunden schlafen kann. Dann sind die Gedanken ohnehin sofort wieder da.
Vor zwei Wochen, berichtet Pohlen, sei sie morgens aufgewacht und habe gedacht: „Du musst zu Papa, den Garten machen.“ Den ganzen Tag habe sie geschuftet, Baumstämme geschleppt, all das Treibgut an der Straße gestapelt. Wie sie die schwere Arbeit geschafft hat, weiß sie nicht so genau. Sie sei derart voller Adrenalin gewesen. Auf die Uhr geschaut habe sie erst wieder am Abend. „Papa war doch so stolz auf seinen Garten. Für mich war es wichtig, das zu tun“, sagt sie. Die Leidenschaft für den Garten und die Blumen teilt sie mit ihm.
Und sie weiß den Wert der kleinen Gesten zu schätzen. Wie sie sich gefreut hat, als eine Bekannte ihr eine hübsche Hortensie überreicht hat mit den Worten: „Ich glaube, das tut dir jetzt gut.“ Und wie sie eine kleine Freude hat schenken können. Nach der Beerdigung ihres Vaters hat sie die Witwe seines wenige Wochen zuvor verstorbenen Freundes auf dem Friedhof getroffen. Sie ist ebenfalls von der Flut betroffen, hat kein Foto ihres Mannes mehr. Also hat Pohlen sich ins Haus ihres Vaters aufgemacht – er hatte seine Bilder in der ersten Etage aufbewahrt. „Ein paar Häufchen“ habe sie aus Fotos zusammengestellt: „Für die, die noch da sind, die aber keine Bilder mehr haben.“
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Die Frage, wie es weitergeht, haben Sabine Pohlen schon einige gestellt. Und die Antworten haben sich geändert. Der Versicherungs-Mitarbeiterin habe sie kurz nach der Katastrophe geantwortet, dass sie auf jeden Fall zurückwolle in ihr Haus. Doch als das große Aufräumen begonnen hat und alles herausgeschlagen wird, erscheint das unmöglich. „Ich kann nicht zurück, auch nicht in das Haus meines Vaters. Wir müssen irgendwie abschließen“, sei da die Überlegung gewesen. Jedoch: „Wo will man hin?“ Auf die Frage habe es keine wirkliche Antwort gegeben.
Nun wollen Pohlen und Schröder ihr Zuhause wieder aufbauen, wenn der Statiker grünes Licht gibt und ihr Heim nicht doch abgerissen werden muss. Sie haben erfahren, dass zwar einige aus Malsbenden weg wollen – doch viele bleiben werden. Auf das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Nachbarschaft könne man aufbauen. Vor der Katastrophe habe sie schon andere Prioritäten im Leben gehabt: „Geld macht nicht glücklich. Die Familie ist das Wichtigste“, sagt Sabine Pohlen. Nun gelte es, nach vorne zu schauen, einen neuen Start zu wagen – und noch mehr auf das zu achten, was wirklich zählt.