Flucht vor dem KriegDrei Generationen sind nun in Olef in Sicherheit
Schleiden-Olef – Gut 2000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Olef und Charkiw im Nordosten der Ukraine. Für Nestan Kuriat, ihre Mutter Iza Mikava und ihre dreijährige Tochter Emilia liegt eine etwa einwöchige Flucht vom Krieg in den Frieden dazwischen.
Zum zweiten Mal hat ihre Familie bereits vor Putins Krieg die Flucht ergreifen müssen: 2008, während des Kaukasus-Kriegs, hat die aus Georgien stammende Familie ihre Heimat verlassen und sich in die Ukraine aufgemacht.
In die Sicherheit Charkiws. Wo Nestan Kuriats Vater seine kleine Käserei als Familienbetrieb aufgebaut hat, in dem sie mitarbeitet. Wo sie mit ihrem Mann ihre Tochter großziehen will. Wo sie leben möchte. „Wir haben uns wohl gefühlt. Es lief alles gut“, so Nestan Kuriat.
Bis zum 24. Februar an Manöver geglaubt
Die Mär von den Manövern haben sie in Charkiw geglaubt, als Putin bereits seine Truppen zusammengezogen hat. Im Traum haben sie sich nicht vorstellen können, dass tatsächlich im 21. Jahrhundert ein Mann einen Krieg in Europa anzetteln würde. Bis zum 24. Februar.
Um 4 oder 5 Uhr morgens sei es gewesen, als die Menschen vom Lärm der Bomben, die noch außerhalb des Zentrums einschlugen, aus dem Schlaf gerissen worden sind. „Wir haben zuerst gar nicht verstanden, was passiert“, sagt Kuriat: „Wir haben herumtelefoniert. Dann war klar: Putin hat angegriffen. Das war ein Schock.“
In den kalten, feuchten Keller haben sich alle Bewohner des neunstöckigen Hauses geflüchtet. Schnell haben sie Lebensmittel und Medikamente eingekauft. „Warum lässt Putin uns nicht in Ruhe?“ Die Frage stellt Nestan Kuriat immer wieder. Um leise anzufügen: „Wir wollen doch nur ein normales Leben.“
Vier Tage in Charkiw im kalten, feuchten Keller ausgeharrt
Vier Tage, sagt Nestan Kuriat, haben sie dort unten ausgeharrt. Emilia hat sich erkältet und Fieber bekommen. Vier Tage, bis sie mit ihrem Mann entschieden hat, dass sie mit ihrer Mutter und der Kleinen das Land verlassen muss. Wohin? „Egal. Hauptsache weit weg. Weit weg vom Krieg.“
Von seiner Arbeitsstelle in Odessa habe ihr Mann eine Fahrgelegenheit zum Bahnhof in Charkiw organisiert. Bevor die drei und eine weitere Familie sich in das Auto gequetscht haben, ist sie in ihre Wohnung zurückgekehrt.
Ein Koffer und eine Tasche für drei Personen
Zum Packen. Ihre Pässe hat sie genommen. Die Medikamente für die kranke Mutter. Ein kleines Kuscheltier für Emilia. Wasser. Geld – 10.000 Griwna (umgerechnet etwa 300 Euro). Ein bisschen Kleidung – was in eine Tasche und einen Koffer passt. Mehr kann sie nicht tragen. Ihre Mutter ist auf einen Gehstock angewiesen. Und gemeinsam geben die Frauen auf Emilia acht.
Unterstützung nach der Flucht
Als Flutopfer Hilfe zurückgeben
Als Sprachmittlerin ist Nadya Mies für die Familie, die weder Deutsch noch Englisch spricht, eine unersetzliche Hilfe. Ukrainisch kann Mies zwar nicht, auf Russisch funktioniert die Verständigung aber reibungslos.
Zeit für den ehrenamtlichen Übersetzer-Dienst hat Mies eigentlich nicht. In ihrem Haus in Schleiden, in dem die Flut Keller und Erdgeschoss verwüstet hat, ist der Wiederaufbau längst nicht abgeschlossen. Sie und ihr Mann leben in einer Baustelle – aber sie sind zu Hause.
Die Anfrage, der ukrainischen Familie zu helfen, kam über ihre Schwägerin. Und für Mies stand außer Frage, dass sie hilft. „Ich bin so dankbar, etwas zurückgeben zu können“, sagt sie. Die riesige Hilfsbereitschaft nach der Flut ist auch ihr zuteil geworden – und nun ist sie es, die helfen kann. (rha)
Praktische Hilfe der Hergartens
Binnen weniger Sekunden ist bei Sabine und Ralf Hergarten die Entscheidung gefallen. Abends, bei einem Glas Wein. Als der Krieg in der Ukraine ausbricht und die Fluchtbewegung einsetzt, überlegen sie, lieber nicht an eine Hilfsorganisation zu spenden und stattdessen ihre Ferienwohnung Menschen aus der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Beim DRK hinterlegen sie ihr Angebot. (rha)
Einige Behördengänge
Wenige Tage später kommt Nestan Kuriat mit Emilia und Mutter Iza Mikava an. Ihnen zu helfen, bedeutet für die Hergartens mehr, als die Wohnung zur Verfügung zu stellen. Ralf Hergarten organisiert die Behördentermine. Am Freitag standen Einwohnermeldeamt inklusive der Formulare fürs Ausländeramt und das Sozialamt auf dem Programm. Für Diabetikerin Iza Mikava ist so schnell wie möglich medizinische Versorgung zu organisieren gewesen, da ihr Insulin nur noch wenige Tage ausreicht. Was in den kommenden Tagen noch ansteht, wissen die Hergartens noch nicht – die Versorgung mit Kleidung könnte ein Thema sein. Egal, was es ist: Sie wollen die Drei unterstützen. (rha)
Infos für Helfer
Der Kreis Euskirchen hat auf seiner Internetseite mehrsprachig Informationen zusammengestellt für Geflüchtete und für Menschen aus dem Kreisgebiet, die sie unterstützen möchten. Zahlreiche Angebote laufen auch bei „Eifel für Eifel“ auf deren Facebook-Seite zusammen. (rha)
Die Grundregeln der Menschlichkeit gelten noch am überfüllten Bahnhof von Charkiw: Behinderten wie Iza Mikava und kleinen Kindern wird der Vortritt gewährt. „Nach nur sechs Stunden durften wir in den Zug nach Lviv einsteigen“, sagt Nestan Kuriat.
Dennoch: Es sei sehr schwer gewesen, ihren Mann und ihren Vater zurücklassen zu müssen: „Aber Emilia weinte und hatte Angst, jedes Mal, wenn eine Bombe fiel. Ich musste mein Kind in Sicherheit bringen.“
Iza Mikava wollte lieber sterben als erneut fliehen
Mutter Iza Mikava ist ganz still. Als der Beginn der Flucht zur Sprache kommt, steigen ihr die Tränen in die Augen. Nein, sie habe nicht mitgehen wollen. Nicht fliehen. „Ich sterbe lieber hier“, habe sie gesagt.
Doch das Trio macht sich auf den Weg, verlässt unter russischem Beschuss die Heimat in Richtung des 1000 Kilometer entfernten Lviv. Nach einem Tag im Zug ist die Weiterreise unklar. Lviv ist überfüllt mit Menschen, die die Ukraine verlassen wollen. Einen Platz in einem weiteren Zug zu ergattern, erscheint Kuriat unmöglich.
Sie verbringt mit Mutter und Tochter eine kalte Nacht im Zelt. Ihr Mann telefoniert sich von Odessa aus die Finger wund. Es gelingt ihm, Auto und Fahrer zu organisieren und die Drei zur polnischen Grenze bringen zu lassen. Dort gibt es keine Probleme: „Frauen und Kinder mit ukrainischen Pässen dürfen sofort ausreisen. Männer nicht“, sagt Nestan Kuriat.
An der polnischen Grenze von Helfer in den Zug gesetzt
Nach den Strapazen der Flucht verschwimmen bei Nestan Kuriat die Erinnerungen ein wenig. Mit einem Bus seien sie in Polen irgendwohin gebracht worden, wo sie die Nacht verbracht haben. Über eine weitere Familie haben sie Kontakt zur Georgischen Diaspora in Deutschland bekommen, die den Menschen in Polen hilft.
Ein Übersetzer sei da gewesen, der Familien zusammengebracht und sie schließlich in einen Zug gesetzt habe. Drei Familien sind schließlich gemeinsam Richtung Deutschland unterwegs. Das DRK nimmt sich ihrer an, Guranda Nass stellt im Kreis Euskirchen wichtige Verbindungen her. Eine Familie erreicht am Montagnachmittag Euskirchen, die andere Nettersheim.
Nestan Kuriat kommt mit Mutter und Tochter im Haus von Sabine und Ralf Hergarten in Olef an. Die Ferienwohnung ist hergerichtet, der Kühlschrank gefüllt, auf dem Tisch steht ein Strauß gelber Tulpen mit blauer Schleife – die Farben der Ukraine.
Große Dankbarkeit für Sabine und Ralf Hergartens Hilfe
„Ich bin der Familie Hergarten so dankbar“, sagt Nestan Kuriat: „Für den herzlichen Empfang. Für all die Hilfe. Das hätte ich nicht erwartet.“ Nein, beim Bild der Deutschen, das sie bislang gehabt habe, habe sie sich das nicht vorstellen können.
Als Übersetzerin steht Nadya Mies bereit. „Wie heißt das hier? Wo sind wir?“, sind die ersten Fragen, die sie beantworten soll. Eine Karte und eine Autofahrt am nächsten Tag durch die Region verschaffen ein erstes Bild von der Eifel, die die Frauen aufgrund der Berge an ihre erste Heimat Georgien erinnert.
Wifi in dem Olefer Haus ist elementar wichtig
Eine weitere Frage ist für Nestan Kuriat elementar wichtig: „Gibt es im Haus Wifi?“ Das Handy ist ihr kostbarstes Gut. Es piept, klingelt und blinkt ohne Unterlass. Es ist ihre einzige Chance, Kontakt zu ihrem Mann in Odessa zu halten. Zum Vater, der sich im Keller einer Datscha außerhalb Charkiws geflüchtet hat. Zu ihren Freunden, die noch im Kriegsgebiet sind.
Die kleine Emilia kann noch nicht verstehen, was um sie herum geschieht. Sie hat viele Fragen: „Mama, warum wurde Charkiw gebrochen?“ Das Wort „zerstört“ gibt es in ihrem Wortschatz noch nicht. „Mama, wo ist Papa? Mama, wann kommt Papa?“ Jedes Mal die gleichen Fragen, wenn sie ein Auto sieht oder hört.
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Antworten darauf kann die Mutter ihr nicht geben. Wie auch? Mit dem 24. Februar sind all ihre Gewissheiten weggebombt worden. Viel Nachdenken kann Nestan Kuriat derzeit noch nicht. Auch zum Pläneschmieden ist es viel zu früh. Doch eines sagt sie ganz entschieden: „Wir wollen zurück nach Charkiw. Nach Hause.“