Die Polizei vermutete zunächst, dass die Knochenfunde im Ortsteil Niederelvenich aus dem Ersten Weltkrieg stammten. Doch dann kam alles anders.
Älter als vermutetGeheimnis der Knochenfunde in Zülpich gelüftet: Archäologen überrascht
Das hat dann selbst die Archäologinnen des LVR überrascht: Die Knochenfragmente, die Ende November an der Wichtericher Straße in Niederelvenich gefunden wurden, gehören zu deutlich mehr Personen als ursprünglich angenommen – und sie sind um einiges älter als vermutet.
Im Januar hatte die Polizei den Fund an die Experten der Außenstelle Nideggen des LVR-Amts für Bodendenkmalpflege übergeben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie für eine polizeiliche Ermittlung zu alt waren. Die Beamten gingen nach eigenen Untersuchungen davon aus, dass die Knochen von vier Personen stammten und schon mehr als 100 Jahre im Niederelvenicher Boden lagen. Denkbar sei, dass die vier Menschen im Zuge des Ersten Weltkriegs an der Stelle begraben wurden, mutmaßte Polizeisprecher Franz Küpper.
Inzwischen ist klar, mit dieser Mutmaßung lag er daneben. Denn die Knochen stammen nicht von vier, sondern 13 Individuen und sie sind nicht 100, sondern mehr als 1000 Jahre alt. Das sei das Ergebnis der Experten-Untersuchung, sagt Dr. Ulrike Müssemeier. Die Archäologin leitet den Außendienst der Außenstelle Nideggen.
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Die liegt idyllisch auf einem alten Stiftshof in Wollersheim. Im Innenhof befinden sich ein Teich und eine etwas trübselig ausschauende Dinosaurier-Figur. Ein Überbleibsel der letzten Öffentlichkeitsveranstaltung. In einem Raum im Obergeschoss steht Müssemeier mit Grabungstechnikerin Alexandra Ziesché vor ein paar Tischen, auf denen sie fein säuberlich einige der Knochen beschriftet ausgelegt haben. Ziesché gehört zu den LVR-Leuten, die nach dem Fund in Niederelvenich im Einsatz waren.
Niederelvenich: Die Knochen stammen von 13 Individuen
Die Knochen seien beschädigt gewesen und hätten in verschiedenen Haufen gelegen, berichtet sie. Deshalb sei man auch zunächst von viel weniger Personen ausgegangen. Aber sie habe auch ein Skelett komplett freilegen können, das noch so in der Erde lag, wie es einst dort bestattet wurde: Kopf nach Osten, die Hände im Becken.
„Das ist eine regelhafte Bestattung“, erklärt Müssemeier: „Das muss man für die anderen Knochenteile auch annehmen.“ Dadurch sei klar, dass es sich bei dem Fundort um eine alte Grabstelle handeln müsse. Das habe man bei dem freigelegten Skelett auch am Boden erkennen können, berichtet Ziesché. Das geschulte Auge erkenne dort eine Grabmulde.
Unterschiede im Boden erkennen und deuten, Scherben oder andere materielle Überreste freilegen und untersuchen, das sind die Aufgaben der Grabungstechniker und Archäologen der Außenstelle Nideggen. Knochen untersuchen gehört nicht dazu.
Untersuchung: Knochen wurden nach Ostdeutschland und Polen geschickt
Um also mehr über den Fund herauszufinden, wurden die Knochen nach Ostdeutschland geschickt. Nach Petershagen zu Dr. Bärbel Heußner. Sie habe die Knochen anthropologisch untersucht, sagt Müssemeier. Ziel einer solchen Untersuchung sei die Feststellung dreier Dinge, führt Ziesché fort: individuelles Alter, Geschlecht und pathologischer Befund. Bei Letzterem gehe es darum, Verletzungen an den Knochen festzustellen bis hin zur Todesursache.
Heußner sei dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Knochen 13 einzelnen Individuen zuzuordnen seien in einem Alter zwischen null und etwa 60 Jahren. Das Geschlecht eines Skeletts könne man sicher nur über die Schädel- und Beckenknochen bestimmen, erläutert Ziesché. Da beides für keines der gefundenen Individuen noch intakt war, sei eine genaue Bestimmung schwierig. Heußner komme aber zu dem Schluss, dass die Knochen von Frauen und Männern stammten.
Ob die 13 Personen miteinander verwandt waren, könne eine anthropologische Untersuchung wiederum nicht zeigen, berichtet Müssemeier. Dafür müsste man sie genetisch untersuchen lassen. Das sei allerdings teuer und aufwendig und werde daher nur selten und bei einer konkreten Fragestellung gemacht.
Bleibt noch der pathologische Befund. Woran die Menschen gestorben seien, könne Heußner an Hand der gefundenen Fragmente nicht mehr sicher sagen, berichtet Ziesché. Sie nimmt das Stück eines Schädelknochens in die Hand. Daran ist deutlich eine Delle zu erkennen, an der Knochen abgesplittert ist.
Diese Person habe einen Schlag auf den Kopf erhalten, so Ziesché. Und der sei vermutlich tödlich gewesen, weil keine Heilungsfraktur zu erkennen sei. Was sie damit meint, zeigt sie anhand eines Fragments von einem Oberschenkelknochen. Dieser ist oben verdickt. Sehr wahrscheinlich, habe sich diese Person einmal das Bein gebrochen und da, wo die beiden Knochen wieder zusammengewachsen seien, sei diese Verdickung entstanden
Auch Überreste von Kindern sind in Niederelvenich gefunden worden
Sie legt den Knochen wieder hin und greift nach dem Schädelfragment eines Kindes, das nach Einschätzung von Heußner zum Zeitpunkt seines Todes fünf bis sieben Jahre alt war. Ziesché deutet auf kleine Löcher in der Augenhöhle. Das sei ein Zeichen für Mangelernährung. Ob diese für den frühen Tod des Kindes verantwortlich gewesen sei, könne man aber nicht sagen.
Die gefundenen Kinderknochen sind für Müssemeier keine Überraschung. Die Kindersterblichkeit sei zu der Zeit, aus der die Knochen stammen, deutlich höher gewesen als heute. Womit wir bei der zweiten Überraschung in den Untersuchungsergebnissen angekommen sind: das Alter der Knochen. Das könne man nicht über eine anthropologische Untersuchung feststellen, sagt Müssemeier.
Stattdessen wurden drei der Knochen erneut auf die Reise geschickt. Nach Polen ins Labor von Prof. Tomasz Goslar. Er habe eine C14-Datierung durchgeführt, so Müssemeier. Ein Verfahren, bei dem der Fortschritt des Zerfalls eines bestimmten Kohlenstoffisotops (C14) gemessen und analysiert werde, erklärt die Archäologin.
Knochen aus Niederelvenich stammen aus den Jahren 800 bis 1000
Damit könne man bestimmen, wie lange die Knochen schon in der Niederelvenicher Erde lagen. Da die Untersuchung etwa 500 Euro pro Knochen koste, habe man nicht alle Knochen untersuchen können, so Müssemeier.
Das Ergebnis des Experten sei aber eindeutig: Alle drei Knochen stammten aus den Jahren 800 bis etwa 1000 nach Christus. Also 9. Jahrhundert. Karolingerzeit. Aus historischen Quellen seien aus dieser Zeit bereits Siedlungen in Wichterich und Oberelvenich bekannt. Der Fund aus Niederelvenich belege nun, dass es auch dort eine Siedlung gegeben habe. „Das ist ein wichtiger Mosaikstein für die Niederelvenicher Geschichte“, sagt Müssemeier.
Neben der Anzahl der Personen und dem Alter der Knochen hat die Archäologin noch etwas überrascht: „Die Skelettreste lagen direkt unter der Asphaltdecke.“ Das sei ungewöhnlich nah an der Erdoberfläche. Aufgrund der langen Liegezeit der Knochen geht sie davon aus, dass dort einmal Boden abgetragen wurde und die Knochen ursprünglich viel tiefer vergraben waren. Zum Glück, möchte man aus heutiger Perspektive meinen, denn tiefer hätten die Bauarbeiter für die Bushaltestelle nicht gegraben, und damit wäre die karolingische Grabstelle unentdeckt geblieben.
Archäologen des LVR sprechen von einem „Zufallsfund“
„Das war jetzt aus der Kategorie Zufallsfund“, beschreibt Dr. Ulrike Müssemeier die Knochen aus Niederelvenich. Das seien seltenere Einsätze der Außenstelle Nideggen. Hauptsächlich begleite sie Baustellen archäologisch. Immer dann, wenn zu vermuten sei, dass man dabei etwas finden könne. „Es gibt auch Ausgrabungen, die sind aber selten.“
Geleitet wird die Außenstelle in Nideggen-Wollersheim von der Dr. Petra Tutlis. Es gibt einen Außendienst und einen Innendienst, zwischen denen die Mitarbeitenden hin und her wechseln. Müssemeier leitet den Außendienst und Dr. Rahel Otto den Innendienst. Etwa 20 Mitarbeitende arbeiten in Wollersheim als festes Team.
Jedes Jahr werden 300 bis 400 Fundmeldungen aufgenommen
300 bis 400 Fundmeldungen nimmt die Außenstelle pro Jahr auf. Hinzu kommen laut Müssemeier noch die Funde von Sondengängern. Die Außenstelle betreut den Südwesten des Rheinlandes. Nicht nur die Fundstellen werden archäologisch begleitet und wissenschaftlich aufbereitet, sondern auch die Funde selbst.
Meist seien das Scherben, aber auch Pflanzenreste, Steingemäuer, Metallfunde oder Tierknochen gehörten dazu. Sie werden gereinigt, beschriftet und erfasst. Nach dieser Arbeit werden die Funde in Meckenheim, im Depot des Bonner LVR-Landesmuseums, gelagert. Müssemeier bezeichnet dieses Depot als „archäologisches Gedächtnis des Rheinlands“.
Ein Fund, der ihr im Gedächtnis bleibt? Müssemeier überlegt und nennt dann den Sarkophag, der 2017 in Zülpich entdeckt wurde. Aber solche Besonderheiten stehen bei ihrer Arbeit und der ihres Teams nicht im Mittelpunkt. „Es geht um das große Ganze“, betont Müssemeier. Alexandra Ziesché stimmt ihr zu: „Uns interessiert der Kontext.“